Meine Tochter kommt in keine Übergangsklasse ...
Die Erzählerin Anja, als 11jährige mit ihrer Familie aus St. Petersburg nach Deutschland ausgewandert, hat ihre ganz eigene Geschichte, die durch Erinnerungen an die russische Kindheit, die Erfahrungen im deutschen Asylantenwohnheim und dem Nebeneinander allerlei russisch-deutscher Eigenheiten geprägt ist. Man selbst mußte nicht mit acht Jahren das Schlange stehen perfektionieren, weil das Erobern von zwei Kannen Milch einem die Auszeichnung "verantwortungsvoll" der Oma einbrachte. Es war nicht von weltbewegender Bedeutung, daß sich nur bei der echten Barbie die Kniebeugen einknicken lassen, der deutschen Sprache war man mächtig, bevor man das erste Kinderbuch las und "zu Hause" verbindet man nicht als erstes mit seinem abgetragenen Flanellschlafanzug. Dennoch erzeugt Lena Goreliks Debütroman erstaunlich vertraute Gefühle. Vielleicht liegt es daran, dass die Erzählerin einem durch ihre offene und entschlossene Art das Gefühl gibt, dazuzugehören, auch wenn man für sie am ehesten eine dieser Schulfreundinnen wäre -die mit dem großen Haus und dem eigenen Zimmer-, der gegenüber Anja lange erfolgreich verschweigt, warum sie nicht auch mal bei ihr zu Hause spielen. Ist der beengte Raum im Wohnheim Anja als Kind noch Anlaß genug, die neue Freundin ihrer Familie vorzuenthalten, so läßt sich die Familie bald nicht mehr davon abhalten fester Bestandteil von Anjas Leben zu sein. Vor allem die sorgenvollen Anrufe der Mutter erinnern Anja mehrmals täglich an ihre russische Herkunft.
Vielleicht liegt es an der differenzierten Beobachtung der russischen Eigenheiten, die immer im Bewußtsein möglicher deutscher Verhaltensweisen beschrieben werden, daß man meint, Teil dieses Alltags zu sein, und daß man sich von Anjas Familie aufgenommen fühlt. - Man ist sowohl genervt als auch gerührt von der übertriebenen Fürsorglichkeit der Mutter, erfährt, daß "russisch reden" nicht mit deutscher Unterhaltung gleichzusetzen ist und lernt schneller als Anjas Freund Jan, daß man sich in russischen Familien, wenn es ums Essen geht, auf keine Diskussion einlassen sollte. Und wenn die 87jährige Großmutter am frühen Morgen den Besuch zum vierten mal "wie lange bleibt ihr?" fragt und ihm dabei wiederholt ein Stück selbstgemachten Kuchen anbietet, möchte man sich wie Anja die Autoschlüssel schnappen und erst mal wegfahren. - Wäre man nicht so damit beschäftigt, lachend auf und ab zu laufen und dabei sein verdutztes Umfeld darüber aufzuklären, daß die Macken der eigenen Familie neben denen von Anjas ganz und gar harmlos sind.
amazon-Text