Each Leith - eine düster-romantische (?) Kurzgeschichte

  • Ha, jetzt hab ich 100 Beiträge und darf auch mal eine Kleinigkeit von mir hochladen *freuzzz*.
    Eine meiner seltenen Kurzgeschichten. Mit denen bin ich absolut unerfahren, über Kritik freue ich mich daher sehr.


    In Schottland, Irland und Wales ragen sich dutzende Legenden um geheimnisvolle Mischwesen aus Mensch, Fisch, Monster und Pferd.
    Diese Geschichte ist frei der Legende der Wasserpferde, der Each Uisge nachempfunden. Das Each Uisge ist dem Kelpie ähnlich, aber es ist nicht das gleiche. Kitschallergiker mögen Vorsicht walten lassen:
    Powered by Fernweh, daher melancholisch und ein wenig arg … hach.


    Hier noch ein Blick auf einen Teil von Loch Morar, an dem all das passiert sein könnte:
    http://www.marklbeaumont.co.uk…ast-end-of-loch-morar.jpg
    Ich empfehle aber, mal die Google-Bildersuche mit „Loch Morar“ zu füttern. Wun-der-schön.


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    Leith Each - das Wasserpferd von Loch Morar


    „… Und wenn Du an einen verzauberten Ort gehst, dann sollst Du um seine Legenden wissen. Sonst mag es Dir geschehen, dass Du verschlungen wirst von der Versuchung, die Dir überlegen ist.
    … Oder selbst Legende wirst.“
    Aus einem alten Reiseführer


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    Sie sind glitschig, hässlich und stinken. Weitere Gedanken hatte Bianka nie an Fische verschwendet. Und doch beobachtete sie nun voller Faszination, wie sich ein Hecht immer wieder aus dem petrolgrünen Wasser des Lochs erhob, einen flachen Sprung vollführte und wieder in die Tiefen eintauchte. Mal platschte es laut und das Wasser spritzte glitzernd auf. Dann sprang er erneut, um lautlos und sanft zurück in sein Element zu gleiten. Man könnte meinen, er würde die spiegelnde Oberfläche nicht einmal verletzen, sondern eins mit ihr werden.
    Zunächst hatte Bianka angenommen, er würde nach Insekten springen. Warum sollte er es auch sonst tun, wenn nicht der Nahrung wegen. Außer dem Überleben, der Fortpflanzung und der Nahrungsaufnahme hatte ein Fisch keine Interessen.
    Oder irrte sie? Sah es nicht aus, als würde er spielen?
    Bianka streckte die Beine aus, lehnte sich im feuchten Grass auf die Ellbogen zurück. Aus der Entfernung weniger Meter betrachtet, sah er beinahe schön aus. Er war riesig, sicherlich fast einen Meter siebzig lang. Sie hatte nicht gewusst, dass Hechte solche Größen erreichen konnten. Seine Schuppen schimmerten anthrazit, schiefergrau und silbern, und goldene Punkte beträufelten seinen ganzen Körper.
    Es schien wirklich, als würde er mit den Strahlen der aufgehenden Sonne spielen. Mit ihnen tanzen. Als würde ihm dieser Sommermorgen Freude bereiten. Vielleicht genoss er es sogar, dass sie ihm zusah.
    Er war wirklich schön.
    Bianka lachte leise über ihre albernen Gedanken, schüttelte den Kopf und erhob sich. Die letzte Nacht - eine Nacht mit viel zu viel schottischem Whisky am Lagerfeuer - steckte ihr noch in den Knochen. Wahrscheinlich vernebelte der Restalkohol noch ihr Hirn. Fische, die spielten und gerne beobachtet wurden - wie absurd! Sie war doch sonst nicht so träumerisch.
    „Mach’s gut, du toller Hecht“, murmelte sie dem Fisch zu, der sie einen Moment lang anzustarren schien, während sie das blonde Haar aus ihrem Pferdeschwanz befreite und offen über die Schultern fallen ließ. Sie stutze. Dieser Blick, er schien fast menschlich. Erneut kicherte sie über ihre schwimmenden Gedanken. „Pass auf die Angler auf, sonst endest du noch als Fischstäbchen.“
    Sie schlenderte zurück zum Zelt, in dem ihre beiden Freundinnen Anja und Caroline wahrscheinlich noch immer ihren Rausch ausschliefen, und sinnierte darüber, wie viele Fischstäbchen man wohl aus einem solch gewaltigen Fisch machen konnte.


    Es war die letzte Woche ihres gemeinsamen Urlaubs. Drei Freundinnen, alle zwischen fünfundzwanzig und sechsundzwanzig Jahren alt, die drei Wochen lang Großbritannien unsicher machten. Für diesen Urlaub hatten sie lange gespart, um es einmal so richtig krachen lassen zu können. Jede Frau hatte die Planung einer Woche übernommen.
    In der ersten Woche hatte Anja sie von einem Londoner Nachtclub in den nächsten gezerrt. Bianka hatte in ihrem ganzen Leben wohl nicht so viele - und so teure - Cocktails getrunken, wie in diesen sieben Tagen. Aus den Vorsätzen, einen hübschen Engländer flachzulegen, war allerdings nichts geworden. Gemäß einem Robbie-Williams-Song schienen alle schönen Hetero-Briten die Insel verlassen zu haben. Zurückgeblieben waren nur die Unattraktiven und die Schwulen. Spaß hatte die Woche trotzdem gebracht.
    Die zweite Woche war Carolines Wunsch entsprechend ganz auf Kunst und Kultur ausgelegt gewesen. Gab es in ganz England und Schottland noch eine Burg, ein Museum oder eine Sehenswürdigkeit, die sie in dieser Woche nicht besichtigt hatten? Bianka glaubte nicht daran.
    Die letzte Woche schließlich hatte sie geplant. Besser gesagt … nicht geplant. Ihre Freundinnen hatten sie schockiert angesehen, als Bianka ein Zelt und einen Gaskocher in den Mietwagen lud.
    „Diese Woche fahren wir einfach der Nase nach, machen Halt wo es uns gefällt und genießen Freiheit und die wilde Natur der Highlands.“
    Ihre Erklärung war von den beiden anderen mit Äußerungen wie „Ach du Scheiße!“ und „Nicht dein Ernst!“ kommentiert worden. Mitgekommen waren Anja und Caro natürlich trotzdem und - reichlich Alk und ein wenig Dope sei Dank - hatten sie nun doch Spaß an dem Trip. Freiheit und Abenteuer lockten halt jeden, es kam nur auf die richtige Definition dieser Begriffe an.
    Aktuell campierten sie am Loch Morar, der zwar nicht so berühmt war, wie sein großer Bruder Loch Ness, aber dafür angeblich unterirdisch mit diesem verbunden. Legenden gaukelten vor, das Ungeheuer Nessie hätte sich - nachdem sein Refugium von Touristen und Forschern versucht worden war - in diesen See zurückgezogen, der als tiefster ganz Großbritanniens galt.


    Den Abend genossen die Freundinnen erneut am Lagerfeuer. Am Morgen wollten sie nach Inverness weiterfahren und für die verbleibenden Nächte ein Hotel nehmen. Die letzte Nacht unter freiem Himmel feierten die drei jungen Frauen noch einmal mit auf Stöcken gebratenen Würstchen, lauter Musik aus dem Autoradio und dem kleinen Rest Hasch, der noch übrig war. Während Anja und Caroline mit jedem Zug ausgelassener wurden, stieg in Bianka eine schwere Sehnsucht auf. In drei Tagen würden sie die Fähre zurück nach Hause nehmen. Ihr war, als wäre sie gezwungen, einen Teil von sich selbst in den schottischen Highlands zurücklassen zu müssen. Sie hatte sich selten so zufrieden gefühlt wie sie es hier tat. Vollständig, als gäbe ihr das Land etwas, was ein Loch in ihrem Inneren zu füllen vermochte. Als würde sie hierher gehören.
    Das nennt man typisches Urlaubsendfeeling, dachte sie zynisch. Und wusste doch, dass dies nicht die Wahrheit war. Sie war schon in einigen Ländern gewesen, hatte viele Teile der Erde bestaunt. Aber keinen Ort hatte sie geliebt. Bis sie diesen gesehen hatte.


    Langsam wurde es kühler. Im Westen zauberte die versinkende Sonne einen Heiligenschein auf die Kuppen der Berge und gab den schroffen Formationen damit etwas Sanftes. Der Duft von Fichten, Moos und blühender Heide schwängerte die Luft. Biankas Welt war perfekt.
    „Wisst ihr, was uns hier definitiv fehlt?“, fragte Caroline kichernd und durchbrach damit die friedliche Ruhe, die vom Knistern des Feuers und den Gesängen der letzten Vögel unangetastet geblieben war. „Ein rattenscharfer Highlander!“
    Anja grinste lüstern und wickelte eine Strähne ihrer roten Locken um einen Finger. „Oh. Ja.“ Die Farbe ihrer Haare biss sich mit dem dunkelroten Nagellack. Bianka hätte nie gedacht, dass sie solche Kleinigkeiten an ihrer besten Freundin je nerven könnten. Anja schnurrte. „Im Kilt. Und mit langem, dunklem Haar.“
    „Unter’m Kilt?“ Caro hob skeptisch eine fein gezupfte und gepiercte Augenbraue.
    „Nee. Da gehört was anderes hin. Was Mächtiges.“
    „Mächtig? Etwa ein mächtiges Gemächt?“
    Die beiden gackerten wie die Hühner und Bianka verdrehte die Augen. Meist war sie der Pausenclown im Trio, nicht selten schimpften die beiden anderen sie albern. Aber heute fühlte sie sich von den zotigen Scherzen gestört. Sie entweihten die Romantik dieses Abends. Leider war dieses Argument zu kitschig, um es auszusprechen.
    Caro sprang auf und torkelte in Anjas Richtung. „Ich bin Murtagh MacMighty, vom Clan der MacMächtigen“, grölte sie. „Komm, rothaariges Fräulein und erlebe meine Macht.“
    „Deine Macht?“ Anja rappelte sich auf und warf sich der Freundin theatralisch entgegen. „Deine Macht macht mich mächtig an. Mach mir den Macker, mein Highlander.“
    Die beiden stürzten sich aufeinander und imitierten eine wilde Knutscherei. Bianka fasste sich an den Kopf und stöhnte. Manchmal waren ihre Freundinnen die blödesten Gänse, die die Welt zu bieten hatte. Als Caro Anja schließlich umdrehte und mit lauten „Ich mach’s dir mächtig von hinten!“-Schreien ihre Hüften gegen den Hintern der Freundin drosch, stand Bianka auf und trottete kopfschüttelnd den Hügel hinab.


    Sie musste fast bis runter zum See gehen, bis sie Anjas spitze Schreie und Carolines Gestöhne nicht mehr hören konnte. Die beiden sollten zum Film gehen, dachte sie abfällig. Zu mehr als Pornodarstellerinnen würde es allerdings nicht reichen.

  • Loch Morar tauchte zwischen dichten Büschen vor ihr auf. Die Nacht hatte sich bereits über das Land gesenkt und das Wasser lag im Mondschein glänzend wie Quecksilber vor ihr. Das leichte Hauchen des Windes bewegte Biancas Haar, sowie die Oberfläche des Sees, wo es träge Schlieren vor sich her schob.
    In den Bäumen am Ufer plauderten Vögel mit dem Wind. Kröten antworteten hie und da. Irgendwo rief eine Eule. Es klang sehnsuchtsvoll und traurig. Bianka sah über den See und schloss die Augen, ohne seinen Anblick dabei zu verlieren.
    Sie genoss den herben Kräutergeruch, die Geräusche der Natur und das Kribbeln, dass dieser Ort in ihrem Inneren wachrief. Es war der Moment, in dem ihr etwas zuflüsterte, dass sie Schottland nicht mehr verlassen würde. Es war ihre eigene Stimme, doch obgleich sie tückisch und düster klang, als käme sie direkt aus den finstersten Tiefen Loch Morars, machte sie ihr keine Angst.
    Du bist high, dachte sie und lächelte versonnen. High in den Highlands.
    Und dann glaubte Bianka, Töne zu vernehmen, die an eine Harfe erinnerten. Sie ging am kiesigen Ufer entlang, gelockt von dieser seltsamen, gemächlich lauter werdenden Melodie. War da eine Stimme? Sie dachte, den schattenhaften Umriss einer Person nah am Ufer zu erkennen, doch womöglich war es nur ein Felsen. Die Laute, von denen sie nicht wusste, ob sie real waren oder nur ein Echo ihrer von der Tüte entfesselten Fantasie, paralysierten sie. Der dunkle Umriss bewegte sich, die Töne endeten und er wandte sich ihr zu. Für einen Moment leuchtete etwas Goldenes in seinem Gesicht auf.
    Bianka stand still. „Äh … I’m sorry. I didn‘t want to dis…“
    „Schon gut.“ Die Stimme des Mannes hatte einen starken schottischen Akzent. Sie war weich wie warmes, tiefes Wasser.
    Neugierig trat Bianka näher. „Wow. Wir sind mitten in der schottischen Wildnis, und ich treffe jemanden, der Deutsch spricht.“ Verglichen mit seiner, klang ihre eigene Stimme nervös, heiser und eine Oktave zu hoch.
    Er schien irritiert und legte fragend den Kopf schief. Dann lächelte er.
    Ein Lächeln, das in Biankas Augen schoss und von dort aus direkt in ihren Magen fuhr. Verdammt aber auch, er sah scharf aus, wenn auch nicht gerade auf klassische Weise. Seine Kleidung war abgenutzt, teilweise kaputt und durchnässt. Er trug Shorts, wie man sie in den 80ern modern genannt hatte, und ein ärmelfreies Shirt. Nicht schön, aber es entblößte dafür breite Schultern und durchtrainierte, aber schlanke Arme. Die waren schön. Sein schwarzes Haar war strähnig und sah aus, als würde er es selber schneiden, wobei er jeder Strähne eine individuelle Länge gab. Und sein Gesicht wirkte, als hätte es jemand in Öl gemalt. Blass, makellos und fast zu weich für einen Mann. Surreal. Große Augen standen in ihrer Dunkelheit in einem scharfen Kontrast zu der hellen Haut. In seinem Arm lag tatsächlich etwas, das entfernt an eine kleine Harfe erinnerte. Sie war vollkommen verrostet, selbst die Saiten, und Bianka fragte sich, wie er damit Töne hervorbringen konnte.
    Und warum er sie seit einer halben Ewigkeit ansah, ohne ein Wort zu sagen, oder auch nur die Miene zu verziehen.
    „Ähm, mein Name ist Bianka“, sagte sie leise; unsicher, ob sie ihm die Hand geben sollte. „Ich campe hier mit meinen Freundinnen.“
    „Ich weiß.“ Er spielte an einem der schwarz-grün schimmernden Bändern, die er um beide Handgelenke und Unterarme geschlungen hatte.
    Sie errötete bei der Vorstellung, dass er Anjas und Caros Showeinlage vielleicht gehört hatte. Bitte nicht. „Und … wie ist dein Name?“
    Er sah sie an, ohne den Blick abzuwenden. Er blinzelte nicht einmal. Seine Augen waren mattgrau und um die schwarzen Pupillen lag ein hauchfeiner, fast goldener Ring. „Leith.“
    „Wohnst du hier in der Nähe?“
    „Ganz in der Nähe, ja.“ Er sah über den See. Auf der anderen Uferseite konnte sie die schwachen Lichter eines am Hang liegenden Dorfes ausmachen.
    „Eine schöne Gegend“, seufzte sie. Was würde sie geben, um hier leben zu dürfen. So weit entfernt von dem Stress, dem Lärm und dem stinkenden Dreck der Großstadt.
    Er lächelte nachwievor, aber es erreichte seine Augen nicht länger. „Das war sie schon immer. Schön … aber einsam.“
    „Was sich nicht widersprechen muss.“
    Er erwiderte nichts, zog nur eine Schulter hoch, als zweifelte er an ihren Worten.
    „Entschuldige“, murmelte sie, „aber hast du gerade eben … Harfe gespielt?“ Welch dumme Frage - was sollte er sonst mit dem Ding getan haben. Außerdem hatte sie es doch gehört. Aber die Vorstellung, dass ein Mann in ihrem Alter am Seeufer saß und Harfe spielte, schien ihr doch etwas zu romantisch, als dass sie real sein konnte. Wie viel hatte sie eigentlich geraucht?
    „Clàrsach“, berichtigte er. „Es ist eine Clàrsach. Eine keltische Version von dem, was ihr heute Harfe nennt.“ Er zupfte mit den Nägeln über die Saiten. Rost rieselte hinab und dennoch erklangen wunderbar reine Töne. Bianka schüttelte ungläubig den Kopf und er zog die Brauen hoch. „Stört es dich, wenn ich spiele?“
    „Nein.“ Niemanden könnte es stören, wenn ein Engel Harfe spielte. „Stört es dich, wenn ich zuhöre.“
    Er lachte leise. „Aber nein. Ich spiele doch nur für dich.“
    Während ihr nur langsam der Gedanken kam, dass sie darauf etwas antworten sollte, deutete er schon auf den Felsen neben sich und sie ließ sich nieder. Der Stein war vom Regen glattgewaschen, als wäre er über Jahrhunderte bearbeitet worden, damit sie heute bequem darauf sitzen konnten. Als wäre er für diesen Moment geschaffen.
    Leith spielte die ersten Töne und Bianka lauschte gebannt. Er gehörte zweifelsfrei diesen Musikern an, die Magie in ihre Kunst legten. Wie David Garrett, oder noch schlimmer. Es war mehr als das, viel düstererer als Zauber. Es war chimärische Hexerei.
    „Einst war dies ein keltischer Segen.“ Seine Stimme klang traurig. „Ich habe es verändert und nun ist es das Gegenteil.“
    Er begann leise zu singen. Weniger ein Lied, als mehr einen gesprochenen Vers. Aber den gemurmelten Worten lag, untermalt von den Klängen seines Instruments, mehr Melodie inne, als Bianka es je in Musik gespürt hatte. Lauschend schloss sie die Augen.
    „Der Friede der Meere und Flüsse sei Dein,
    Der Friede des Fließens der Lüfte sei Dein,
    Der Friede der ruhenden Erde sei Dein,
    Der Friede der leuchtenden Sonne sei Dein.“
    Bianka verlor sich in den Klängen. Als würde jede Note einen Teil von ihr mit sich tragen. Über das Wasser hinaus, wo sie mit dem Ton einfach in der Luft verging und zu Wind wurde. So vergänglich.
    Sie spürte irgendetwas in sich brechen, vielleicht ihren Willen. Doch da war weder Verlust noch Schmerz, denn aus der Wunde schien sogleich etwas Neues zu sprießen.
    „Der Friede der nächtlichen Schatten sei Dein.
    Der Friede der leblosen Kälte sei Dein.
    Mond und Sterne mögen Dir leuchten.
    Mögen durch dunkelstes Silber Dir leuchten.
    Mögen in tiefste Abgründe Dir leuchten.
    Mögen ewig Dir leuchten.“
    Seine Stimme brach. Unfähig die Augen zu öffnen spürte sie, wie er ihr näher kam. „Bjankha“, hauchte er. Sein Atem traf kühl auf ihre Lippen und ließ sie sehnsüchtig brennen. Die Clàrsach fiel ins Gras. „Warum bist du hergekommen?“ Dann legte sich sein Mund zögerlich über den winzigen Schmerz und küsste ihn weg.
    Bianka umfasste seinen Nacken, schmiegte sich an seine Brust, denn da musste sie sein. Er war kalt, schrecklich kalt. Sie wollte ihm von ihrer Wärme geben. Wie lange saß er denn hier schon in nassen Kleidern im Wind? Er seufzte, als sie ihm durch das feuchte Haar strich und den Mund öffnete. Ihn inniger küsste. Ihn überraschte.
    Im Geiste lächelte Bianka. Er schien unbeholfen. Unsicher, als küsste er zum ersten Mal eine Frau. Aber voll grenzenloser Hingabe, die sie anrührte. Und er schmeckte unglaublich klar. Mineralisch war der Geschmack seiner Lippen und von nichts gestört.
    Der Gedanke, das Land, den See und ihn schon so bald wieder verlassen zu müssen, schien ihr das Herz zu zerreißen. Sie drängte sich näher an seinen Körper, klammerte sich an ihn, als müsste sie sich festhalten.
    Dann hörte sie es.
    Er gehört mir.
    Eine Stimme?


    „Bianka!“
    Ein schriller Ruf ließ sie hochschrecken. Leith sprang auf und wich jäh einen Meter zurück. Caroline kam näher und atmete laut aus, als sie ihre Freundin entdeckte. „Meine Fresse, Bianka, du hast uns zu Tode erschreckt! Wie kannst du einfach abhauen und …“ Ihr Blick fiel ungläubig auf Leith, der sie misstrauisch beäugte. Fast, als hätte er Angst vor ihr. „Wer ist’n das?“
    „Caro , das ist Leith. Leith - meine Freundin Caro.“
    Sein Blick fand Biankas Augen wieder, er schenkte Caroline keinerlei Beachtung mehr. „Ich muss gehen“, sagte er. Wind kam auf, der See schlug Wellen und rauschte. „Wir sehen uns wieder. Verzeih mir, ich kann es nicht verhindern. Ich muss … Allmächtiger, verzeih mir einfach.“
    Damit drehte er sich um und lief das Ufer entlang. Seine nackten Füße wurden vom Wasser umspült, bei jeder Welle ein wenig mehr. Fassungslos starrten die Frauen ihm nach.
    „Was war das denn jetzt?“ Caro zog Bianka zu sich herum und starrte sie verwirrt an. „Was hat der da gelabert? Ich hab kein Wort verstanden. War das Gälisch? Wer war der Typ, Bianka? Seit wann knutschst du mit wildfremden, völlig abgerissenen Kerlen?“
    Bianka war beinahe schwindelig. „Spinnst du jetzt? Weder hat er Gälisch gesprochen, noch ist er …“
    „Was immer er gesprochen hat. Ich hab es nicht verstanden“, beharrte Caro. „Und der Typ sah aus wie ein Penner.“
    Wut flammte in Bianka auf. „Sag das noch mal und du läufst nach Inverness. Er hat … er ist …“ Sie wollte ihm nachsehen, doch er war verschwunden.
    Wo bist du?, fragte sie in Gedanken. Kommst du zurück?
    Caroline stemmte die Hände in die Hüften und Bianka rollte mit den Augen. „Du solltest den Shit nicht mehr rauchen, Caro, das tut dir nicht gut.“ Die Clàrsach lag noch neben dem Felsen im Gras. Sie hob sie auf, betrachtete die völlig verrosteten Saiten und spielte mit dem Wunsch, eine zu zupfen. Nur aus Neugier, um zu sehen, ob sie wirklich noch klare Laute von sich gab. Sie entschied sich dagegen und presste das Instrument gegen ihre Brust. Caros Frage, warum sie jetzt auch noch Müll mit sich schleppte, ignorierend, stapfte sie den Hang hoch, zurück zum Zelt.


    Die Nacht schien ewig anzudauern. Bianka lag stundenlang wach, verfiel nur minutenweise in einen leichten Schlaf, aus dem sie mit klopfendem Herzen wieder aufschreckte. Immer wieder war es eine Stimme, die sie rief. Eine Stimme, die mal wie ihre eigene klang, dann wieder wie Leith‘.
    Geh fort, lass dich nicht locken, wisperte sie im Traum. Geh, denn er will dich nicht töten. Er will mir nicht mehr gehorchen und etwas Endgültiges greift nach dir. Unaufhaltsam. Geh fort!
    Es war die Stimme vom Loch Morar.
    Geh fort! Komm nicht zurück. Denn wenn du zurückkommst, dann wirst du bleiben müssen. Dann wirst du kalt und grausam. Wie er. Wie ich. Bleiben, auf ewig, obgleich du nicht dazu bestimmt bist.
    „Aber ich will doch bleiben!“, keuchte sie im Moment des Erwachens.
    Anja drehte sich murrend auf der Isomatte um und Caro hob kurz den Kopf. „Bleib doch wo der Pfeffer wächst. Aber lass uns schlafen!“
    Bianka kramte ihr Handy hervor. 5.17 Uhr. Außerhalb des Zeltes wurde es schon langsam hell. Eilig schlüpfte sie in eine herumliegende Jeans und wechselte das Nachthemd gegen ein Sweatshirt. Sie nahm die Clàrsach, zog den Reißverschluss hoch und krabbelte aus dem Zelt in den blassgrau anbrechenden Tag. Die Kälte ließ sie schaudern, aber war keineswegs unangenehm. Tau kitzelte ihre nackten Füße, die wie von selbst den Weg zum See einschlugen.

  • „Loch Morar“, flüsterte sie ehrfürchtig.
    Du hast dich entschieden.
    Die Stimme in ihrem Kopf klang resigniert, aber sie hieß sie auch willkommen.
    „Verdammt nochmal - ja. Hab ich.“
    Du ignorierst die Warnung, die nur wenige bekommen. Trage nun die Konsequenzen. Gib dich hin. Frage nicht, ob du überleben darfst. Das liegt nun in seiner Hand.
    Bianka kicherte albern. Meine Güte, was hatten diese verrückten Schotten ihnen da für ein Kraut verkauft? Nicht nur, dass sie glaubte, einem wildfremden, jungen Mann - der auf einer rostigen Harfe Liebeslieder spielte - innerhalb von fünf Minuten das Herz gebrochen zu haben, und ihm dafür gerne ihres schenken würde. Nein, jetzt hörte sie schon Stimmen. Der See plauderte mit ihr. Abgefahren. Was für ein Trip.
    Nur die Farben passten nicht ganz zu einem Drogenrausch. Sonst sah sie immer alles bunt. Dieser Morgen aber war grau und diesig. Nebelschwaden zogen träge über Loch Morar dahin und verwischten die Konturen der Ufer. Aus dem undurchschaubaren Dunst erschien ein Pferd aus dem Wasser.
    Sie wollte lachen, hysterisch lachen. Pferde tauchten nicht aus Seen auf. Das war doch verrückt.
    Stattdessen trieb der Anblick ihr die Tränen in die Augen.
    Mit kraftvollen Bewegungen kämpfte sich das Pferd durch schäumendes Wasser zum Ufer. Als es nur noch knietief im See war, fiel es in Galopp, sodass Gischt unter seinen Hufen aufstob. Bianka trat näher. Wo kam es nur her? Wie war es in das Wasser gekommen?
    Es war ein großer Hengst, sein nasses Fell glänzte schwarz und dampfte, als wäre es mit heißem Pech übergossen. Er preschte genau auf sie zu. Als das Wasser nur mehr seine Hufe umspülte, wurde er langsamer, blieb schließlich stehen und schnaubte unruhig. Bianka ging ihm entgegen. Er schüttelte den Kopf, stieg auf die Hinterhand und ließ die Hufe drohend herumwirbeln. Tropfen trafen Bianka, aber sie blieb nicht stehen. Der Rappe tänzelte. Nervös. Drohend. Und unendlich verlockend.
    „Ist schon gut“, murmelte sie und legte die Clàrsach am Ufer ab, ehe sie ins flache Wasser trat. „Es ist in Ordnung, hab keine Angst.“
    Der Hengst trug ein geknüpftes Halfter aus seltsamem Stoff, der in seinem dunklen Grün an Algen oder Kelp erinnerte. Zügel waren daran befestigt, die sich mit der schwarzen Mähne zu vereinen schienen.
    Als sie den Rappen erreicht hatte - ihm so nah war, dass sie nur noch ihre Hand ausstrecken musste, um ihn zu berühren -, senkte er den Kopf und schnaubte. Es klang, als würde er sich ergeben. Sie streckte die Hand aus und strich über das Fell an seinem Hals, welches mehr als nur nass war. Es fühlte sich glitschig und angenehm an. Die Flanken des Tieres bebten, seine Nüstern waren weit gebläht und glühten im Inneren blutig rot.
    „Was macht dir solche Angst?“ Bianka griff nach den Zügeln und erkannte verwundert, dass sie tatsächlich aus Algen waren. Mit ihrer Berührung schienen sie zum Leben zu erwachen - wanden sich Tentakeln gleich um ihre Handgelenke. Bianka schrie auf und wollte zurückweichen. Im gleichen Moment verlor Sie die Kontrolle über ihren Körper.
    Sitz auf!
    Panik ergriff von ihr Besitz. Sie wollte nicht, doch eine fremde, eiskalte Macht befehligte über ihre Glieder. Ohne zu wissen, wie es ihr gelang, schwang sie sich mit einer einzigen Bewegung auf den Rücken des Pferdes. Es galoppierte sogleich an. Sie wollte schreien, doch sie war wie gelähmt. Nur ein Wimmern entrang sich ihren Lippen. Die Algenzügel fesselten ihre Hände und der kalte Rücken des Pferdes schien einen klebrigen Schleim abzusondern, der es ihr unmöglich gemacht hätte, abzuspringen, selbst wenn ihr Körper ihr gehorcht hätte. Der Rappe preschte geradewegs ins Wasser. Der Wind wurde zu Sturm, nahm ihr den Atem und peitschte ihr die Mähne gegen die nackten Unterarme. Das Wasser erreichte ihre Füße, knappe drei Meter später ihre Oberschenkel. Es war kalt, so schrecklich kalt. Der See warf Wellen hin und her und schien nach ihr zu verlangen. Wollte sie verschlingen. Oder vor dem teuflischen Pferd retten?
    Oh, bitte hilf mir!, flehte Bianka und ließ das Gesicht in die Mähne sinken. Der nächste Galoppsprung riss das Pferd in die Tiefe.


    Dunkelheit. Grau, Grün und Blau in ihren finstersten Schattierungen umgaben sie.
    Tosendes Wasser, hart wie Eis. Es trieb ihr das Haar vors Gesicht, sodass sie nichts sehen konnte.
    Wo war die Oberfläche? Wo war es heller?
    Nirgendwo.
    Luftblasen stiegen auf, verursacht von ihren Versuchen, sich loszureißen. Sie waren ebenso verzweifelt wie vergebens.
    Algenhände griffen nach ihr, berührten sie begehrlich, zogen sie hinab.
    Die Tiefe verschlang sie, drohte sie zu zerdrücken. In ihrer Brust brannte es, ihre Lungen wollten atmen oder im nächsten Moment zerspringen.
    Panik wurde zu der schrecklichen Einsicht, dass sie sterben würde. Ertrinken.
    Der massige Pferdekörper wand sich zwischen ihren Beinen, die sich immer noch krampfhaft um seinen Rücken schlossen.
    Einen Moment später waren ihre Beine um die Mitte eines Mannes geschlungen. Die Algenfesseln ließen nicht nach - aber sie verbanden ihre Hände plötzlich mit anderen. Menschliche Züge erschienen vor ihr, nur schemenhaft. Ihr Haar wurde zurückgestrichen und grau-goldene Augen bohrten sich in ihre.
    Vertrau ihm!, flüsterte der See, während er sie tötete.
    Leith! Es war Leith und er würde sie retten. Er brachte Licht in das Dunkel. Es war, als würde sein blasser Körper die Finsternis der Tiefe erhellen, sodass sie etwas erkennen konnte.
    Doch sein Gesicht verzerrte sich schmerzhaft. Seine Züge wurden zu einer Fratze. Sie griff nach ihm, krallte ihre Finger in seine Oberarme. Suchte Halt und ein letztes bisschen Hoffnung. Sie hielt es nicht mehr aus. Musste atmen. Atmen.
    Bitte, Leith, weinte sie in Gedanken. Ich kann nicht mehr. Schnell.
    Sein Körper krampfte und zuckte unkontrolliert. Er hielt sie - und hielt sich an ihr fest.
    Schwarz-graue Schuppen brachen plötzlich aus seiner Haut und zogen sich über seine Brust. Schluckten sein Licht. Die Verwandlung brachte die entsetzliche Erkenntnis, dass er sie nicht retten würde. Er hatte sie hergelockt.
    Warum?, fragte ihr langsam schwindender Geist. Bitte nicht. Nein. NEIN!
    Ihre Gedanken tobten hysterisch in ihrem hilflosen Körper. Der Verstand gab auf, sie öffnete den Mund und schrie, doch jedes Geräusch versoff im See.
    Leith …
    Im gleichen Moment riss er den Mund auf und entblößte einzelne, dolchähnliche Zähne. Zentimeterlang und tödlich. Das Maul eines Raubfisches von gewaltiger Größe.
    Biankas Körper gab auf. Die ersehnte Ohnmacht trat nicht ein, aber ihre Sicht schwand und alles wurde schwarz. Sie glaubte, Angst und Schmerzen keine Sekunde mehr ertragen zu können.
    Töte mich endlich. Bring es zu Ende.
    Sie spürte ihren Körper in seine Arme sinken. Ihr Gesicht an seine Brust gleiten. Schuppen kratzten an ihrer Wange. Beinahe zärtlich fuhr eine Hand durch ihr Haar, dann wurde ihr Kopf mit einem heftigen Ruck in den Nacken gezogen, sodass ihre Kehle entblößt lag. Sie schmeckte seinen Hunger nach menschlichem Fleisch im Wasser und wusste im gleichen Moment, was er mit ihr tun würde. Er würde sie …
    Doch dann waren da kalte Lippen auf ihren und mit ihnen der naive Hoffnungsschimmer, das Monster würde ihr Luft geben.
    Ja. Luft … bitte.
    Stattdessen durchströmte Wasser ihren Körper.
    Unglaubliche Mengen an Wasser stieß er durch ihre Atemwege wie einen Speer. Sie konnte fühlen, wie ihre Lungen gedehnt wurden und schmerzhaft anschwollen. Sie hörte, wie sie nachgaben. Es klang wie ein Ploppen, dicht gefolgt von dem Geräusch reißenden Stoffes. Blut gab dem Wasser einen kupfernen Geschmack.
    Aber nichts davon nahm ihr endlich das Leben und damit die Schmerzen. In ihrem Kopf hörte sie Leith tief und hungrig grollen, doch immer noch presste er sie an sich.
    Er drückte seine Lippen erneut auf ihren Mund, jagte einen weiteren Schwall Wasser in ihren Körper. Es schien sie zu vernichten, ließ ihren Körper wie von Sinnen krampfen. Zerstörte sie.
    Er küsste sie. Einen Moment lang vorsichtig, dann wild und fordernd, sodass seine Zähne ihre Lippen aufrissen. Er leckte gierig ihr Blut ab. Küsste darauf ihre Stirn und ließ sie in seine Seele sehen. Sie war voll Schmerz.
    Stirb jetzt nicht!, glaubte sie ihn zu hören. Ganz weit weg, kaum hörbar durch das Rauschen. Bitte!
    Plötzlich spürte sie, wie ihr Bauch an beiden Seiten vertikal aufplatze. Einen Augenblick später zerriss das Wasser auch die Haut hinter den Ohren. Es strömte durch die Wunden aus ihrem Körper hinaus und ließ das Gefühl zurück, geatmet zu haben. Ihre Sicht kehrte zurück, wenn auch nur verschwommen.
    Leith schob sie ein kleines Stück von sich und sah sie an. Angst stand in seinem monströsen Gesicht, doch gleichzeitig auch Erleichterung. Und Stolz.
    Atme!, verlangte er glasklar in ihrem Kopf. Atme, du hast es geschafft.
    Sie nahm einen tiefen Zug, ließ das Wasser durch ihren Körper fließen und ihn durch die noch blutenden Kiemen wieder verlassen. Mit dem Wasser erfüllte sie Erleichterung. Sie lebte. Noch ohne jegliches Bewusstsein, was sie nun war, und noch unter schrecklichen Schmerzen der Verwandlung. Aber sie lebte, sie atmete das Wasser. Durch Kiemen … wie er.
    Leith lächelte. Es war ein tückisches, schönes und wildes Raubfischlächeln voller Dankbarkeit. Es nahm ihr endgültig das Bewusstsein und damit den Schmerz. Sie ließ sich in die Ohnmacht und in seine Arme fallen.
    Danke, Bjankha, hörte sie seine Stimme. Ich habe so lange gewartet. Danke, dass du mich endlich gefunden hast, mo bhean.


    Als sie zum ersten Mal erwachte, war sie ein Fisch. Und hungrig.


    ~~~


    Besorgt sahen die beiden jungen Frauen über den See. Etliche Male hatten sie mit ihren Taschenlampen jedes Gebüsch durchleuchtet. Nun hatte die Resignation sie gepackt und aufgeben lassen. Vor dem Morgen würden sie nicht weitersuchen.
    „Ich begreife es nicht“, schluchzte Anja. „Jetzt ist es schon dunkel - und keine Spur von Bianca. Sie kann doch nicht verschwunden sein.“
    Carolin schnaubte wütend und trat vor einen Stein. „Mich kotzt vor allem diese Polizei hier an. Die scheinen es nicht mal verdächtig zu finden, dass eine junge Urlauberin einfach verschwindet.“
    „Gruselig. Als wäre das hier ganz normal. Hast du gehört, was der alte Bulle gemurmelt hat? ‚Jedes Jahr erwischt es einen Dummen‘.“
    Carolin verzog finster das Gesicht. „Ich sag dir eins: Da steckt ganz sicher dieser Typ dahinter. Mit dem stimmte etwas nicht, das hab ich auf zehn Meter gerochen.“
    Anja schniefte. „Sie hat so von ihm geschwärmt. Ich will mir nicht vorstellen, dass er ihr etwas angetan hat. Oh Gott! Ich wünschte, sie wäre einfach nur mit ihm durchgebrannt.“
    Carolin antwortete nicht. Natürlich hoffte sie das Gleiche. Doch sowas sah Bianka nicht ähnlich. Nein, ihrer Freundin war etwas passiert. Tränen brannten in ihren Augen.
    Anja nahm ihre Freundin in den Arm und die beiden Frauen trösteten sich einen Moment lang gegenseitig so gut sie konnten.
    Dann sah Anja plötzlich auf. „Mein Gott, sieh dir das an.“ Sie deutete auf das Ufer. Keine dreißig Meter entfernt spielten zwei Pferde - ein großer Rappe, und ein kleineres, Isabell-farbenes Tier - ausgelassen im flachen Wasser.
    „Wem mögen die gehören“, frage Carolin. „Sie sind völlig nass, als wären sie durch den See geschwommen.“
    Sich nach den Besitzern der Tiere umsehend, traten die beiden näher. Die Pferde verharrten und sahen still und mit aufgerichteten Ohren zu den Frauen herüber.
    „Sie sind wunderschön“, staunte Anja, als sie die Tiere erreicht hatten. Die Isabellstute senkte den Kopf. Ihre goldbraunen Augen schienen eine tiefe Traurigkeit auszustrahlen. Der Rappe stupste sie mit der Nase an. Anja, die sich mit Pferden auskannte, vermutete, dass sie still miteinander kommunizierte. Die tiefe Verbundenheit, die von ihnen auszugehen schien, ließ ihr fast wieder Tränen in die Augen treten. Das wirkt schon fast menschlich, dachte sie, gleichzeitig nach dem merkwürdigen Zügel der Stute greifend, während Carolin das andere Pferd festhielt.
    Anja hatte sich in ihrem Leben nie derart geirrt. Und das wurde ihr im nächsten Moment bewusst.


    ~~~


    In dieser Nacht verschwanden am Loch Morar zwei weitere Frauen. Ihre Knochen sollten später gefunden werden. Doch was mit ihnen geschehen war, würde nie ein Mensch erfahren.
    Nur der See und tausend gleichgültige Sterne waren Zeugen, als die Wasserpferde ihren Hunger stillten. Von da an verschwanden in jedem Jahr zwei Menschen an den Ufern von Loch Morar. Nur wenige, die noch an die alten Sagen glaubten, hatte ihre Vermutung. So auch der alte Polizisten Ian Curray, der schon von seinem Urgroßvater die Legende des jungen Mannes hörte, dessen Seele einst an den Loch Morar gefesselt worden war. Ian hatte ihn gesehen, wie er am Ufer gesessen, und sehnsüchtig in die Ferne geblickt hatte. Er hatte sein trauriges Spiel gehört, mit dem er nach seiner Gefährtin rief. Der einzigen Frau, die seiner tödlichen Abscheulichkeit widerstehen und Liebe in ihm wecken konnte. Und in jedem folgenden Jahr, wenn der See im Sommer zwei Menschen verschlang und ihre Gebeine später wieder ausspie, erfüllte den alten Mann eine morbide Glückseligkeit. Wusste er doch, dass sie dem Ruf gefolgt war und das Each Uisge von Loch Morar nicht mehr einsam war. Nur selten fragte er sich, ob sie eine Wahl gehabt hatte.




    Ende.



    ~~~


    Anmerkungen:
    Hechte werden normalerweise allenfalls 1,50m lang und haben wunderschöne Augen.
    Eine Clàrsach ist tatsächlich eine keltische Harfe. Sie kann unterschiedlich groß sein (von ganz klein bis 2m hoch) und ihre Saiten sind aus Metall oder Bronze. Daher kann sie durchaus rosten.
    Der Name „Leith“ ist schottisch und bedeutet „fließendes Wasser“. Man spricht ihn wie Leif, aber mit englischem „th“.
    Each spricht sich e-ach und ist das gälische Wort für Pferd.
    Das „Lied“ ist eng an einen schottischen Segen angelehnt, die man in Schottland zu allen möglichen Gelegenheiten spricht, längst nicht nur zu religiösen. Ich habe ihn allerdings ein wenig umgestellt und ausgebaut.
    Dass Männer singen und Harfe spielen gilt heute vermutlich als etwas … alternativ. Aber bedenkt man Leith‘ Alter, kommt das hin (c;

  • Ich fand die Geschichte an sich wunderschön. Die Beschreibungen waren für sich sehr gut zum Kopfkino geeignet, obwohl manches stilmäßig nicht dazu gepasst hat. Auch dieses Drogen/Kiffen/Alkohol Zeug hätte nicht unbedingt reingemusst. Dafür ist aber sehr gut recherchiert (soweit ich das beurteilen kann natürlich). Und die Geschichte ist natürlich romantisch, aber dadurch dass es quasi "Fantasy" ist, gefällt es mir wieder. Ihre Verwandlung war mir ein wenig unklar, da hättest du es ein wenig deutlicher beschreiben müssen oder gar nicht- entweder oder, so hängt man ein wenig in der Luft.


    Ansonsten: 7,5 von 10!

  • Ich mag deine Geschichte. Sie ist gut geschrieben und die Verwandlung fand ich keineswegs unverständlich. ( Wobei ich nicht weiß, ob Nicht - Fantasy - Leser derselben Meinung wären. :gruebel )


    9 von 10 Punkte.

    Ganz gleich, wie beschwerlich das Gestern war, stets kannst du im Heute von Neuem beginnen - Buddha

  • Dankeschön, ihr beiden (c:


    Arill, dieser krasse Stilbruch war schon beabsichtigt. Mir war es wichtig, deutlich zu machen, dass sie aus einer vollkommen anderen Welt kommt und im Grunde dort auch nicht hingehört. Ich überlege mal, ob ich das etwas offensichtlicher machen kann.
    Es wundert mich immer ein wenig, dass fast alle Leser diese Geschichte als "romantisch" bezeichnen. Ich selbst finde sie - trotz dem Angeschmachte des Schauplatzes - ziemlich gruselig und beklemmend. Das arme Mädchen hatte ja letztlich keine Wahl, sondern wurde von vorne bis hinten manipuliert. Gerade ringe ich mit mir, ob ich mich darüber freue, dass jeder seine eigene Interpretation hat, oder ob ich mich darüber ärgere, dass es mir nicht so recht gelingt, das "Düstere duchschimmern zu lassen".
    Ist aber auch egal, romantische Geschichten sind ohnehin schöner als tragische.


    Die Verwandlung hatte ich tatsächlich zunächst ausführlicher drin. Dann allerdings bemerkte ich, dass das jenseit von allem war, was ein Mensch bei Bewusstsein ertragen kann. Also musste die Gute ohnmächtig werden und damit war ihre Perspektive leider weg. Und tschüss :wave


    Aber es freut mich, dass das Ding "gut recherchiert" erscheint *g*. Tatsächölich beschränkte sich alle Recherche auf Bilderanschmachten über Google *lol*. Die Geschichte entstand aus einem spontanen Anfall von Fernweh ;-)

  • Zitat

    Original von Mulle
    Es wundert mich immer ein wenig, dass fast alle Leser diese Geschichte als "romantisch" bezeichnen.


    Das verblüfft mich ein wenig. Ich hätte die Geschichte durchaus als düster beschrieben. Die Knochen, die jedes Jahr auftauchen, sind doch nicht romantisch. Und auch die Tatsache, dass Bianka ihre Freundinnen fressen "musste", ist m.E. makaber.


    Zitat

    Original von Mulle
    Ist aber auch egal, romantische Geschichten sind ohnehin schöner als tragische.


    Das würde ich so nicht sagen. Nimm doch einfach mal Romeo und Julia: Als beide jungen Menschen sich um Haaresbreite verpassen und den Freitod wählen, ist dies in erster Linie unglaublich tragisch und trotzdem gilt Shakespeares Tragödie als eine der berühmtesten und beliebtesten Liebesgeschichten.


    Obwohl es immer sehr erschütternd ist, wenn eine Geschichte kein gutes Ende hat, muss ich doch zugeben, dass es in einigen Fällen einfach "passt".
    Deine Erzählung wäre, ohne ihr grausames Ende, lediglich eine unter vielen kitschigen Frau-trifft-sexy-Highlander-Geschichten gewesen.


    Zitat

    Original von Mulle
    Gerade ringe ich mit mir, ob ich mich darüber freue, dass jeder seine eigene Interpretation hat, oder ob ich mich darüber ärgere, dass es mir nicht so recht gelingt, das "Düstere duchschimmern zu lassen".


    Gräme dich nicht, schließlich haben auch Autoren / Dichter in der Regel keinen Einfluss darauf, was Leser in ihre Werke hineininterpretieren wollen. Ich finde jedenfalls, dass du ein richtiges Maß an "Düsterkeit" verwendet hast. :lache

    Ganz gleich, wie beschwerlich das Gestern war, stets kannst du im Heute von Neuem beginnen - Buddha

  • Zitat

    Original von Mulle
    Es wundert mich immer ein wenig, dass fast alle Leser diese Geschichte als "romantisch" bezeichnen. Ich selbst finde sie - trotz dem Angeschmachte des Schauplatzes - ziemlich gruselig und beklemmend. Das arme Mädchen hatte ja letztlich keine Wahl, sondern wurde von vorne bis hinten manipuliert. Gerade ringe ich mit mir, ob ich mich darüber freue, dass jeder seine eigene Interpretation hat, oder ob ich mich darüber ärgere, dass es mir nicht so recht gelingt, das "Düstere duchschimmern zu lassen".
    Ist aber auch egal, romantische Geschichten sind ohnehin schöner als tragische.


    Ich fand die Geschichte...beunruhigend. Einerseits romantisch, andererseits gruselig. Eigentlich mag ich diese Sorte von Geschichte nicht, wenn ich nicht weiß, auf wessen Seite ich stehen soll. Einerseits weckt die Einsamkeit des Monsters mein Mitgefühl, und seine Liebe ist auch irgendwie romantisch...andererseits werden da Menschen gefressen!


    Aber diese Geschichte würde ich sogar freiwillig noch mal lesen. Keine Ahnung warum.
    Doch, es gelingt dir, das "Düstere durchschimmern zu lassen". Viele denken nur lieber in Schwarz-Weiß, und während ich dazu neige, es eher als Horrorgeschichte anzusehen, entscheiden sich andere wohl für "Weiß" und finden es romantisch.


    Darüber ob die Hauptperson eine Wahl hatte, habe ich, ehrlich gesagt, nicht nachgedacht, mir machten ihre beiden Freundinnen mehr Sorgen.
    Außerdem ist Leith ein sehr attraktiver Mann. Abgesehen von der Menschenfresserei, meine ich. Männer die singen und Harfe spielen können und es auch noch tun, haben etwas sehr Romantisches.
    Ja, er hat sie manipuliert, aber das wirkt nicht so abstoßend wie offensive, rohe Gewalt. (Im Vergleich zu den Protagonisten einiger Originalfics auf Fanficseiten hat er sogar sehr gute Manieren. Vielleicht hat der zu ausgiebige Konsum von so etwas meine Wahrnehmung getrübt.)


    Ihre Entscheidung ihm ihr Herz zu schenken wirkt freiwillig, auch wenn sie es vielleicht nicht ist, die darauffolgende Entführung wirkt dadurch weniger schockierend. Ich hatte den Eindruck, dass nur die Verwandlung gegen ihren Willen erfolgt, sie aber freiwillig Leiths Gefährtin wird...und sich vielleicht auch freiwillig für die Verwandlung entschieden hätte.


    Natürlich wird es da kompliziert, wo Freiwilligkeit aufhört und Manipulation anfängt. Leith verwendet "Glamour" wie das bei Feen und Elfen so schön heißt, aber so etwas kommt ja auch in der Realität vor. Verliebten stellen andere ja oft die Frage "Was findest du nur an dem?"