Allerliebste Schwester
Wiebke Lorenz
Karl-Blessing-Verlag
ISBN: 978-3-89667-410-4
240 Seiten, 16,95 Euro
Über die Autorin: Wiebke Lorenz, geboren 1972 in Düsseldorf, studierte in Trier Germanistik, Anglistik und Medienwissenschaft und lebt heute in Hamburg. Sie arbeitet journalistisch für Zeitschriften wie „Cosmopolitan“ und „stern.de“ und schreibt Drehbücher für TV-Filme. Bereits mit 26 Jahren debütierte sie als Schriftstellerin. Ihre Romane „Liebe, Lügen, Leitartikel“ und „Was? Wäre? Wenn?“ waren bei Kritik und Publikum höchst erfolgreich.
Ein ausführliches Interview gibt es hier bei uns Eulen.
Lorenz, Wiebke [mit Interview]
Klappentext: Was ist passiert, in jener Nacht, in der Evas Zwillingsschwester starb? Eva weiß es nicht. Sie weiß nur, dass sie nicht ans Telefon ging, als Marlene versuchte, sie zu erreichen. Als ihre Schwester ihr vielleicht sagen wollte, weshalb das Leben für sie auf einmal sinnlos geworden war. Seitdem wird Eva von Schuldgefühlen geplagt, so sehr, dass sie sogar Tobias, den Mann der verstorbenen Marlene, geheiratet hat.
Sie versucht, es aufrecht zu erhalten, dieses fragile, bröckelnde Leben, flüchtet an der Seite von Tobias in scheinbare Normalität. Bis zu dem Tag, an dem Eva ihr gemeinsames Kind verliert – da bricht es zusammen, das mühsam errichtete Kartenhaus einer heilen Welt.
Eva rettet sich in Erinnerungen an die vermeintlich glückliche Kindheit mit ihrer Schwester, doch immer häufiger sucht Marlene sie in verstörend realen Tagträumen auf und zwingt sie, sich der Wahrheit zu stellen. So öffnen sich die Abgründe zu Evas Vergangenheit, die sie so lange und verzweifelt zu ignorieren versuchte. Und in deren Mittelpunkt ein schreckliches Geheimnis steht.
Meine Meinung: Ich muss gestehen, es war der Titel, der mich bei diesem Buch zuerst ansprach. Er erinnerte mich an meine liebste Kindergeschichte von Astrid Lindgren. Darin geht es um das Mädchen Babro, das von ihrer imaginären Zwillingsschwester Ylva-li erzählt. Merkwürdig – über all die Jahre habe ich einen Satz aus dieser Geschichte bis heute im Gedächtnis behalten: „Allerliebste Schwester“, sagte Ylva-li leise, „wenn die Rosen des Salikon verwelken – werde ich tot sein.“
Es geht um eine enge Bindung, um Abschied und um Trauer, aber auch um die Suche nach der eigenen Identität – das habe ich später verstanden, als ich das Buch, in dem diese Geschichte stand, für sehr viel Geld in einem kleinen Antiquariat kaufte, nur, um diese Kindheitserinnerung noch einmal zu lesen.
Auch in „Allerliebste Schwester“ von Wiebke Lorenz geht es um diese Themen und Ylva-li und Barbro spielen eine nicht unerhebliche Rolle. Ihre Geschichte und die von Eva und Marlene weisen Parallelen auf und geben Raum für viele Interpretationen. Es geht um die enge Bindung von Eva an die Schwester, die ihr immer als Vorbild dienen musste, in deren Schatten sie zeitlebens stand und die sie trotzdem zu lieben glaubte, aber auch um die langsam wachsende Erkenntnis, dass im Laufe ihres Lebens ihre eigene Identität auf der Strecke geblieben ist. Immer deutlicher erkennt der Leser die Schuldgefühle, die Eva nach dem Tod der Schwester kompensieren will, indem sie den Witwer Marlenes heiratet. Nachdem jedoch das gemeinsame Kind, ihr Sohn Lukas, tot geboren wird, entgleitet ihr die Realität jeden Tag ein bisschen mehr. Sie sieht ihre Schwester, spricht mir ihr und hört auf ihre Ratschläge. Die Person der Eva ist absolut gelungen und von einer unglaublichen Vielschichtigkeit. Sie verändert sich beinahe täglich, wehrt sich unbewusst gegen das Leben, das sie sich selbst aufgezwungen hat und sieht sich trotz allem verpflichtet, Marlenes Platz einzunehmen und deren Leben weiter zu führen. Der Zwiespalt, in dem sie steckt, wird immer deutlicher, und jeder Tag, den sie in der von ihr geschaffenen Scheinwelt verbringt, trägt dazu bei, sich weiter und weiter von ihrem normalen Umfeld zu entfernen und sich in sich selbst zurückzuziehen.
Der Autorin gelingt mit der Darstellung ihrer Protagonistin ein zugleich verstörendes wie faszinierendes Psychogramm. Ganz behutsam und immer deutlicher werdend arbeitet sie alle Stationen im Leben ihrer Hauptperson heraus, gestattet einen Blick hinter die Kulissen einer scheinbar heilen Welt, deren Strukturen sich bei näherem Hinsehen langsam aber unhaltbar aufzulösen beginnen und erschafft eine unglaubliche Faszination, die einen schon auf der ersten Seite in die Ereignisse eintauchen lässt und noch lange nach dem Lesen nachwirkt.
Mein Fazit: Ein hervorragend gelungener und fesselnder Roman mit perfekt ausgearbeiteten Protagonisten, und einem Tiefgang, der mir noch länger in Erinnerung bleiben wird – auch da findet sich für mich also eine Parallele zu der anderen „Allerliebste Schwester“… 10 von 10 Eulenpunkten, denn schon jetzt gehört dieses Buch zu meinen Jahreshighlights …