Die verlorenen Schuhe - Gina Mayer

  • Die Infos innerhalb des Spoiler-Bereichs kann man getrost mitlesen ... es werden keine Geheimnisse verraten. Doch die einen hätten gerne mehr Informationen, die anderen weniger. Bei mir kann man sich's aussuchen. :-)


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    Gina Mayer: Die verlorenen Schuhe, Roman, Stuttgart 2010, Thienemann-Verlag, ISBN 978-3-522-20073-8, Hardcover, 379 Seiten, Schutzumschlag, 2 Landkarten von Roman Lang, EUR 18,- (Deutschland), EUR 18,50 (Österreich), CHF 32,90 (Schweiz).


    „Ich glaube, es gibt kein Ziel. Ich glaube, dass das Leben immer weitergeht, bis es einmal zu Ende ist. Man ist immer unterwegs.“
    „Aber das wäre ja furchtbar.“
    (S. 338)


    Gut Hohenau bei Bankau, Schlesien, 1944: Inge Baken, die Tochter des Hauses, steht kurz vor dem Abitur, träumt von einem Studium am Konservatorium in Breslau und von einer Ehe mit dem Nachbarssohn Wolfgang von Brandt.


    Die gleichaltrige Polin Wanda Masowiecki, die als Zwangsarbeiterin auf Gut Hohenau lebt und dort als Pferdeknecht arbeitet, hat Inge einiges an negativer Lebenserfahrung voraus. Wanda war bis vor kurzem noch eine behütete Professorentochter in Krakau, die gerne mit ihrer Familie in die Oper und ins Theater ging – bis die Deutschen den Polen die Teilnahme am kulturellen Leben unmöglich machten. Als Wanda eines Abends trotz des Verbots ausgeht, gerät sie in eine Razzia und wird als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt. Sie denkt, dass sie verraten wurde. Seither vertraut sie nichts und niemandem mehr – keinem Menschen, keiner Ideologie und keiner Religion. Dass sie fließend deutsch spricht, weiß niemand auf Gut Hohenau. Wanda verheimlicht es vorsichtshalber.


    „Die Sonne geht im Osten auf. Der Führer geht im Osten unter“, spottet Hilfslehrer Witschorek (S. 46) – was ihm schlecht bekommt. Inge Baken ist schockiert. Sie glaubt ihrem Verlobten Wolfgang, der von einer Wunderwaffe spricht und ihr versichert, dass alles gut werden wird. Es bleibt ihr auch nicht viel anderes übrig, als sich auf Hörensagen zu verlassen. Informationen und Diskussionen werden von „dem Kind“ systematisch ferngehalten.


    Im Januar 1945 wird Inges Vater eingezogen und sie selbst kehrt wieder nach Kreuzburg an die Schule zurück. Doch die Front rückt näher, die Schule wird bereits nach wenigen Tagen wieder geschlossen. Vernünftig wäre es nun, wenn Inge von Kreuzburg aus in Richtung Westen fliehen würde. Doch es zieht sie nach Hause, in Richtung Osten. Als sie auf dem elterlichen Gut ankommt, ist die Familie schon fort. Der Hund liegt erschossen im Hof und der einzige Mensch, den sie noch antrifft, ist ausgerechnet die polnische Zwangsarbeiterin Wanda.


    Inge hält Wanda für einen mürrischen Trampel, Wanda hält Inge für ein weltfremdes, verwöhntes Prinzesschen. Doch beiden ist klar: Sie müssen hier weg, ehe die Russen kommen. Und auch, wenn sie einander nicht ausstehen können, haben sie bessere Chancen, wenn sie sich zusammentun. Sie spannen Inges Pferd Gustav vor den Wagen, raffen alles zusammen, was ihnen für ihre Flucht nützlich erscheint und machen sich auf den Weg nach Westen. Um Wanda nicht zu gefährden, geben sie sie auf der Flucht als Inges ältere Schwester Waltraud aus.


    Man kann nur grob zusammenzufassen was Inge und Wanda/Waltraud auf ihrem rund 800 km langen Weg in den Westen erleben. Sie trennen sich und finden wieder zusammen, sie schließen sich einer Gruppe an, werden bestohlen, betrogen und übervorteilt, abgewiesen und enttäuscht, überfallen und gerettet. Sie erleiden Hunger und Verzweiflung – und stellen mit der Zeit fest, dass sie gar nicht so verschieden sind, wie sie anfangs dachten. Das ist nicht weiter erstaunlich, denn jetzt, da auch Inge alles verloren hat, gleichen sich die Erfahrungen und Lebensumstände der beiden jungen Frauen mehr denn je: zwei höhere Töchter, entwurzelt und auf sich selbst gestellt, die über Nacht dazu gezwungen wurden, alle bisherigen Vorstellungen und Illusionen über Bord zu werfen und erwachsen zu werden.



    Berührend und besonders lebendig geschildert ist die Episode, in der die beiden nach Jauer kommen und dort Unterschlupf bei der blinden und verwirrten Resi finden. Man meint, den muffigen Geruch zu riechen, der in diesem verwahrlosten Haus steht. Einmal mehr ist Wanda von Inges Taten und Reaktionen überrascht. „Je tiefer sie und Inge in Not gerieten, desto mehr erfuhren sie voneinander. Und desto mehr erfuhren sie auch über sich selbst.“ (S. 235)


    Sie landen im Flüchtlingslager in Hirschberg und finden Arbeit in einer Tuchfabrik. Mehr oder weniger durch Zufall kommen die beiden jungen Frauen im Frühjahr 1945 ins schwäbische Nördlingen.


    Wanda hat inzwischen einen deutschen Pass auf den Namen Waltraud Baken. Pragmatisch wie sie ist, hat sie sich in ihrem neuen Leben eingerichtet. Inge dagegen ist immer noch auf der Suche nach einem Ziel, einem Zuhause. Dass die Vergangenheit sie in Gestalt alter Bekannter einholt, das ist allerdings ein Schock. Fliegt Wandas falsche Identität nun auf?


    „Ich habe versucht, Inges und Wandas Geschichte nicht nur zu erzählen, sondern wirklich erlebbar zu machen. So dass man die Farben sieht, das schlesische Essen schmeckt, die Kälte und den Hunger spürt. Ich wollte meinen Lesern ein Gefühl davon geben, wie das ist, wenn man von einem Moment zum anderen alles verliert, was vorher sicher war: Heimat, Eltern, Geschwister, Freunde. Wenn man plötzlich auf Gedeih und Verderb auf Wildfremde angewiesen ist“, sagt die Autorin in einem Interview.


    Das ist ihr mit Sicherheit gelungen. Man hofft, bangt und leidet mit den beiden Mädchen. Das geht sicher nicht nur der jugendlichen Zielgruppe so, für die das Buch geschrieben wurde, und die sich mit den Erlebnissen von Altersgenossen erfahrungsgemäß besonders gut identifizieren können. Auch längst erwachsene Leserinnen und Leser lassen sich von dieser Geschichte mitreißen.


    Aufschlussreich dürfte der Roman vor allem für Leser sein, deren Vorfahren in Folge des Zweiten Weltkriegs zu Flüchtlingen und Heimatvertriebenen wurden. Wenn Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern überhaupt aus jener Zeit berichten, bekommt man die Episoden von abgeklärten Erwachsenen erzählt, die eine Distanz von Jahrzehnten zu dem Erlebten haben. Und die nur das berichten, was sie erzählen wollen und verkraften können. Ein vollständiges Bild der Ereignisse ergibt sich auf diese Weise kaum. Zudem kann man sich nur schwer vorstellen, dass die Urgroßmutter ein Teenager war, als sie in den Strudel dieser Ereignisse geriet. Da identifiziert man sich leichter mit einer Romanfigur im entsprechenden Alter, die alles in diesem Moment zu erleben scheint.


    Von den beiden Heldinnen ist Wanda wohl die interessantere Figur. Inge entwickelt sich im Verlauf der Geschichte vom naiven, behüteten Töchterchen zur selbständigen, erwachsenen Frau. Bei Wanda entdeckt man erst nach und nach, was hinter dem schweigsamen und gnadenlos realistischen weiblichen Pferdeknecht steckt. Ihre Geschichte enthüllt sich häppchenweise in Rückblicken.


    Gerne hätte man noch mehr über das weitere Schicksal von Wanda und Inge erfahren. Aber ihr ganzes Leben zu erzählen, das hätte den Rahmen dieses Buchs gesprengt. Wanda, die vernünftige und unsentimentale, wird ihren Weg sicher gemacht haben. Ob ihre Nachkommen jemals ihre wahre Geschichte erfahren haben? Und ob Inge ihre Flucht-Erlebnisse wirklich verarbeiten konnte? Dass man sich als Leser Gedanken über den weiteren Lebensweg fiktiver Figuren macht, zeigt, wie sehr deren Erlebnisse einem nahe gehen und wie nachhaltig sie einen beschäftigen.


    Ein ausführliches Glossar, Kartenmaterial, auf dem man den Weg der beiden verfolgen kann sowie ein Interview mit einer Zeitzeugin liefern dem jugendlichen Lesepublikum ergänzende Informationen.


    Ob wohl noch mehr Leser bei der Beschreibung Wandas das Bild der polnischen Schauspielerin Anja Antonowicz vor Augen haben? Nicht nur wegen deren roter Locken! Diese Mischung aus mürrischer Abgebrühtheit, Pragmatismus und Verletzlichkeit, garniert mit einem Hauch von Arroganz – Anja Antonowicz könnte das! Sollte wirklich jemand auf die Idee kommen, aus dem mitreißenden und bewegenden Roman ein „Historien-Roadmovie“ fürs Kino oder Fernsehen zu machen, möge er bitte Gefühl und Sachverstand walten lassen. Diese Geschichte hat eine sensible Umsetzung verdient.

    Und was die Autofahrer denken,
    das würd’ die Marder furchtbar kränken.
    Ingo Baumgartner

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  • Zum Inhalt


    Schlesien im Oktober 1944: Die 18jährige Inge hat es gut getroffen. Sie lebt mit ihrer Familie auf Gut Hohenau, besucht eine Höhere Mädchenschule und führt mit dem umschwärmten Wolfgang von Brandt eine geheime Liebesbeziehung. Die beiden sind miteinander verlobt, doch genau wie alle anderen Männer des Ortes muss auch Wolfgang an der Front kämpfen.
    Die Arbeit auf dem Gut wird unterdessen von Fremdarbeitern bestellt. Wanda, ein kräftiges, robustes Mädchen ist eine von ihnen. Sie wurde von den Deutschen aus ihrer Heimatstadt in Polen verschleppt und ersetzt nun den Pferdeknecht des Hofes.
    Während Inge in romantischen Träumereien schwelgt, arbeitet Wanda hart, sodass die beiden wenig miteinander zu tun haben.


    Erst als der Krieg verloren scheint und die russische Armee immer näher rückt, ändern sich die Umstände. Schon seit Wochen machen sich die in Schlesien lebenden Deutschen bereit für die Flucht und als Inge eines Tages von der Schule nach Hause kommt, ist ihre Familie bereits aufgebrochen. Nur Wanda ist zurückgeblieben, ausgerechnet das Mädchen, das Inge so furchtbar unsympathisch findet! Doch ihr bleibt nichts anderes übrig, als sich der Polin anzuschließen. Mit einem alten Pferdekarren, ein paar Lebensmitteln und einem Koffer voller Kleider machen sich die Mädchen auf den Weg Richtung Westen. Die Bedingungen sind allerdings härter als erwartet: Während ihrer Reise setzen bitterkalte Schneestürme ein, sie haben weder ein Quartier für die Nacht noch eine Vorstellung davon, was auf sie zukommt. Nur eins wissen sie: Die Rote Armee ist ihnen dicht auf den Fersen und damit verbunden die Angst, ihren Grausamkeiten ausgeliefert zu sein…


    Zur Umsetzung


    In ihrem Jugendroman „Die verlorenen Schuhe“ verbindet Gina Mayer auf fesselnde Weise historisches Hintergrundwissen mit dem fiktiven Schicksal zweier Mädchen.


    Wanda und Inge sind eigentlich grundverschieden: Während Wanda clever, stark und kämpferisch wirkt, scheint Inge naiv, sensibel und verwöhnt zu sein. Jede von ihnen lebt ihr eigenes Leben mit all seinen Erinnerungen und Träumen. Und jede von ihnen hat eine eigene Sicht auf den Krieg. Inge glaubt daran, dass die Deutschen den Krieg gewinnen und dass Wolfgang in seiner Position als Soldat das Richtige tut. Sie vertraut auf das, was man ihr sagt.
    Wanda hingegen verabscheut die Deutschen, die so blind ihrem Führer hinterherlaufen und ohne Zweifel seiner Ideologie folgen. Durch die wechselnde Erzählperspektive stehen sich diese gegensätzlichen Denkweisen direkt gegenüber.


    Erst als die Mädchen ein gemeinsames Ziel haben, verändern sich ihre Sichtweisen. Sie nähern sich einander an, entdecken Gemeinsamkeiten und erkennen, was der Krieg aus den Menschen macht. Die Wandlung der Charaktere wirkt als Resultat der Ereignisse glaubhaft und die Schilderungen der Gefühle machen die Figuren für den Leser greifbar. Nicht selten fallen dabei wichtige Sätze, die sich kritisch mit dem Nationalsozialismus auseinandersetzen. Mayer bettet die Fakten jedoch so geschickt in die Handlung ein, dass sie nicht belehrend wirken oder langweilen, sondern lediglich das Gerüst der Reise bilden.


    „Die verlorenen Schuhe“ überzeugt auf unterschiedlichen Ebenen: Die Geschichten der Mädchen, die sich an ihre verlorenen Familien und Lieben erinnern, berühren einen. Die Kriegszustände und die damit verbundene Unmenschlichkeit der Deutschen und Russen schockieren und zu guter Letzt klärt das Geschriebene über historische Hintergründe auf.


    In meinen Augen ist „Die verlorenen Schuhe“ ein wichtiges und gutes Buch, das sich mit einem Thema befasst, das bisher in der Jugendliteratur vernachlässigt wurde. Gina Mayer bewegt sich durch ihre gründliche Recherche nah an den geschichtlichen Fakten, ohne dabei das Alter ihrer Leser zu vergessen. Themen wie die erste Liebe und echte Freundschaft verschaffen den Jugendlichen Zugang zu den historischen Ereignissen, die letztlich selbst zu fesseln vermögen.


    Im Ganzen gibt es nur einen kleinen Kritikpunkt: Das Ende kam mir persönlich etwas zu schnell und schien mir zu gegensätzlich zu dem zuvor Erzählten. Das ändert jedoch nichts daran, dass ich das Buch unbedingt weiterempfehlen möchte.


    Altersempfehlung: ab 14 Jahren