Wie das sein kann? Ich glaube, die Erklärung ist recht simpel und gleichzeitig ein wenig erschreckend. Letztens habe ich von einer Schätzung gelesen, nach der ein Prozent aller Männer pädophile Fantasien, also letztlich entsprechende Neigungen haben - in verschiedenen Abstufungen. Das wären fast eine halbe Million in Deutschland. Vielleicht sind es sogar noch viel, viel mehr - bei Umfragen zum Thema Sexualität sind die Leute unehrlich, selbst wenn sie anonym befragt werden. So geben erwachsene Männer regelmäßig an, im Durchschnitt bisher über zwanzig verschiedene Sexualkontakte gehabt zu haben, während es bei Frauen um die oder unter zehn sind. Das ist rechnerisch unmöglich (mit welchen zehn nicht-existenten Frauen hatten diese Männer Sex?), und der Tatsache geschuldet, dass die eigene Sexualität oft unehrlich eingeschätzt oder vermittelt wird - wie gesagt, sogar bei anonymen Befragungen.
Intelligenz und Selbstbeherrschung alleine sind keine Garanten dafür, dass sich das Tier im Menschen nicht Bahn bricht. Wir sind alle zu einem Gutteil trieb- und instinktgesteuert, auch wenn wir das nicht wahrhaben wollen und/oder dem meistens nicht (im Idealfall: nie) nachgeben. Das kann man nachts in Kneipen, Bars und Diskotheken schön beobachten, aber selbst ohne Alkoholeinfluss gibt es den sprichwörtlichen Stillstand des Verstandes, wenn sexuelle Erregung eintritt. Diese ist letztlich eine extrem beherrschende Kraft. Die Natur des Menschen ist - wie diejenige aller anderen Tiere - hauptsächlich auf Fortpflanzung ausgerichtet, und sexuelle Erregung ist der maßgebliche Impuls, ein wesentlicher Faktor im Belohnungssystem des Gehirns, der dazu geeignet ist, alle Regulative abzuschalten. Selbst honorige, monogame, hochintelligente, prinzipiell sehr treue Männer (und einige Frauen) sind, entsprechende Reize vorausgesetzt, recht schnell dazu zu bringen, alle Vernunft sausen zu lassen. Der Kater kommt dann, wenn der Intellekt wieder die Oberhand gewonnen hat.
Menschen sind im frühen Jugendalter fortpflanzungsfähig und prinzipiell (das Eis wird gerade dünn) sexuell attraktiv, verfügen also über die entsprechenden Signalstrukturen, die anderen menschlichen Lebewesen die vermeintliche sexuelle Reife anzeigen. Bevor sich die Zivilisation ausbildete, wurde gevögelt, sobald es möglich war, und zwar - nach allem, was man weiß - über sämtliche Altersgruppen hinweg (in einigen Kulturen ist das heute noch so). Mit dem Eintritt in vernünftige Gesellschaftsordnungen und dem etablierten grundrichtigen Schutz Jugendlicher vor möglicherweise traumatischen Erfahrungen haben sich Menschen in eine freiwillige gewählte Verzichtssituation begeben. Sex mit Jugendlichen ist für Erwachsene tabu, was, wie gesagt, absolut richtig und vernünftig ist. Zu verstehen, dass etwas unrichtig ist, und einem dringenden Impuls nicht nachzugeben, das sind aber zwei verschiedene Paar Schuhe. Hier verwischt die Grenze zwischen Normalität und pathologischer Pädophilie schnell. Wenn das Tier herrscht, wird auch für einen vernünftigen, weitgehend gesunden Menschen die Selbstkontrolle zum Problem.
Damit will ich nichts kleinreden oder verniedlichen, ganz im Gegenteil. Es ist nur ein Erklärungsversuch. Unsere "Normalität" ist ein fragiles Konstrukt, und nicht jede Abweichung davon ist notwendigerweise absolut krankhaft. Man muss und sollte sich tagtäglich vor Augen führen, dass die Errungenschaften der Zivilistation nicht an jeder Stelle mit der Natur des Menschen vereinbar sind, und deshalb sorgsam darauf achten, dass die Selbstkontrolle funktioniert.
Am Samstag habe ich ein Interview mit einem Soziologen gesehen, der auch irgendwie bekannt ist, aber ich habe den Namen vergessen. Er sprach ganz nebenbei den - nicht wirklich neuen - Satz aus, jeder Mensch wäre zum Mord fähig. Ich bin da seiner Meinung. Sobald die zivilisatorische Kontrolle bröckelt (wie Kriege immer wieder zeigen), droht auch jedem einzelnen der absolute Kontrollverlust. Menschen sind Bestien, und zwar ganz wertfrei gesagt. Intelligenz und Vernunft sind Luxusgüter, die in schwierigen Zeiten sehr, sehr rar werden. Wenn diese Verknappung eintritt, nähern wir uns wieder jenen an, von denen wir auch abstammen.