Auf dem Meer – Gao Xingjian

  • Verlag: Fischer, 2000, 93 Seiten
    Aus dem Chinesischen von Natascha Vittinghoff


    Kurzbeschreibung:
    "Auf dem Meer" legt vier Erzählungen von Gao Xingjian vor, die für die chinesische Literatur und ihre Entwicklung Wegmarken sind. In einem politischen Umfeld, in dem jede Äußerung zu Denunziation Anlass gab, versucht Gao Xingjian mit tastender Sprache Worte zu finden und Werte zu rehabilitieren, die uns elementar scheinen. Aber in der damaligen Welt war selbst die enge Beziehung zwischen Mutter und Kind ärgsten politischen Missverständnissen ausgesetzt. Mit Ernst und Ironie, aber auch mit skurrilen Spannungsbögen und unerwarteten Handlungsbrüchen entfalten diese Erzählungen unverwechselbar den Resonanzraum, in dem sich das Werk von Gao Xingjian entwickelte.


    Über den Autor:
    Gao Xingjian wurde am 4. Januar 1940 in Ganzhou (Provinz Jiangyi) in Ostchina geboren. Bis 1962 studierte er in Peking französische Literatur und wurde dann im Zuge der Kulturrevolution lange zur 'Umerziehung' aufs Land gezwungen. Mach Maos Tod erschienen ab 1980 seine ersten Schriften, u. a. 'Erkundungen in modernen Erzähltechniken' sowie die Theaterstücke 'Das Warnsignal' und 'Die Busstation'. Nach Aufführungsverboten und einer politischen Kampagne zog er sich auf Land zurück. 1985/96 lebte er als DAAD-Stipendiat in Berlin, 1987 verließ er China endgültig und lebt seither in Paris. Nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens trat er 1989 aus der Partei aus, seine Schriften wurden in China endgültig verboten. 2000 wurde er mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet.


    Meine Meinung:
    Das Erzählungsband des chinesischen Literaturnobelpreisträgers enthält nur 4 Geschichten: Fünfundzwanzig Jahre, Der Krampf, Mutter und Auf dem Meer. Alle sind in Beijing entstanden.
    Den Geschichten ist gemein, dass sie alle Momentaufnahmen darstellen. Momente, in denen sich das Leben der Protagonisten ändert, unspektakulär und mehr in inneren Erkenntnissen verarbeitet.


    Alle Geschichten erzählen aus der Betrachtungsweise der Hauptperson, meist in der ersten Person, eine Geschichte auch in dritter Person.


    Die beste Geschichte ist meiner Meinung nach "25 Jahre":
    Nur wenige Minuten trifft der Ich-Erzähler seine ehemalige Freundin wieder, die er 25 Jahre nicht mehr gesehen hat. Damals wurde er für 2 Jahre in ein Umerziehungslager geschickt, er belastete unter Zwang auch seine Freundin. Danach wurde er Lehrer in einem Dorf unter Bauern. Er hat ein schlechtes Gewissen wegen seinem früheren Verhalten und will sich endlich bei ihr entschuldigen. Außerdem hat er seine Liebe zu ihr in all den Jahren nicht aufgegeben, obwohl beide inzwischen mit anderern Partnern verheiratet sind. Nur 10 Minuten treffen sie sich dann. Als er merkt, dass sie sich nicht einmal mehr an seinen Namen erinnert, brechen die Jahre für ihn zusammen. Doch andererseits ist es auch eine Befreiung.


    Auch "Der Krampf" ist gut gemacht. Ein junger Mann schwimmt weit aufs Meer raus als er einen Bauchmuskelkrampf bekommt. Nur knapp entgeht er dem Ertrinken. Dabei ist es ein Mädchen, dem er sich nicht zu nähern wagt, das seine Gedanken einnimmt.


    Die Kurzgeschichte "Auf dem Meer" ist etwas merkwürdig, aber auch originell erzählt. Der Leser wird vom Erzähler angesprochen. Es wird die Geschichte eines eigenbrötlerischen Kollegen erzählt. In der Anerkennung dieses egoistisch wirkenden Mannes liegt auch die Würdigung des Individualismus.


    "Mutter" ist die Beichte eines Sohnes an seine seit Jahren verstorbene Mutter.
    Ein klagender Text. Immer wieder bezeichnet sich der Erzähler als treuloser Sohn.
    Bei aller Intensität des Erzähltons bleibt doch für den Leser leider nur Hoffnungslosigkeit.


    Die einzelnen Geschichten stammen aus den frühen 80ziger Jahren und wirken heute schon etwas altmodisch. In der Art wie sie angelegt sind, erinnern sie mich an Kurzgeschichten klassischer Autoren des späten 19.Jahrhundert, aber das kann auch subjektives Empfinden sein.
    Erwähnenswert ist ebenfalls, dass alle 4 Geschichten auch in dem neueren Erzählungsband „Die Angel meines Großvaters“ enthalten sind.


    Gao Xingjian lebt seit 1988 in Frankreich, für China war er zu kritisch. Seine Geschichten an sich sind keine Systemkritik, aber sie betonen doch Individualität und entziehen sich einer gesteuerten Meinung.
    Ich halte die überwiegend pessimistisch gehaltenen Geschichten nicht für große Literatur, doch eigenständig und lesenswert sind sie schon.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar
    Ich halte die überwiegend pessimistisch gehaltenen Geschichten nicht für große Literatur, doch eigenständig und lesenswert sind sie schon.


    Diese Einschätzung teile ich, Herr Palomar. Ich habe das Buch bereits vor einigen Jahren mit Freude gelesen, doch sehr viel ist davon nicht hängengeblieben. Vielen Dank für die Erinnerung durch deine schöne Rezi.


    :wave LG harimau