Mit 50 Jahren verliebt in einen halb so alten Mann
Zum Inhalt:
Nach der Wende war für Frauen in Ostdeutschland die gesamte praktische Lebenserfahrung wertlos geworden. Marie kaufte sich ein dtv-Lexikon, einen halben Meter Bücher über die Geschichte der Bundesrepublik, das Grundgesetz, einen Autoatlas, das gelbe Buch von Konz, mit dem man angeblich Steuern sparen kann, abonnierte den SPIEGEL, schaffte sich einen Computer an und belegte einen Englischkurs. Doch den Westen hatte sie damit noch nicht studiert.
Marie ist die nervigere Hälfte der Ich-Erzählerin und für all das zuständig, das sich eigentlich nicht gehört. Die andere Hälfte mit dem besseren Benehmen ist 49 Jahre alt, Journalistin in Ostberlin und nach dem Auszug des erwachsenen Sohns allein lebend. Als Journalistin hat sie zu arbeiten, wenn Arbeit da ist, zu den ungewöhnlichsten Tageszeiten und selbstverständlich immer auf Kosten ihrer privaten Beziehungen. Für Männer ist eine 49-jährige allenfalls als Dauergeliebte in zentraler Wohnlage gefragt. Die Ich-Erzählerin erstattet Bericht über ihr Leben, illusionslos und beinahe so trocken wie eine sozialwissenschaftliche Untersuchung zur Lebenssituation älterer Frauen. Als der 25-jährige Kubaner Jesus in ihr Leben tritt, um ein paar kleine Reparaturen im Haushalt zu erledigen, verlässt die Erzählerin die für eine Frau ihre Alters vorgesehen Flughöhe. Trotz aller Unkenrufe aus dem Bekannten- und Kollegenkreis verlieben Marie und Jesus sich ineinander. Noch ahnen beide nicht, dass sie sich dem gnadenlosen Diktat der Ausländergesetze in Deutschland und in Kuba zu unterwerfen haben.
Fazit:
Regine Sylvester schildert in allen Einzelheiten treffend und mit feinem Humor die Lebenssituation einer knapp 50-Jährigen. Freizügig und ungeschönt beschreibt sie die Liebesbeziehung des ungleichen Paares. Obwohl die Aufspaltung der Hauptfigur in Marie und ihr Selbst mich weniger angesprochen hat, finde ich Sylvesters Roman beklemmend gut beobachtet.
Über die Autorin:
Regine Sylvester, geboren 1946 in Berlin, studierte Theaterwissenschaft und arbeitete als Assistentin an der Filmhochschule Potsdam-Babelsberg. Sie war stellvertretende Chefredakteurin der Wochenpost und leitete seit 1995 das Berliner Büro des STERN. Inzwischen ist Sylvester Leitende Redakteurin der Berliner Zeitung und freie Autorin. Sie ist Autorin der Bücher Bis hierher. Und wie weiter und Soll man so leben?