Colm Tóibin: Flammende Heide

  • Späte Einsicht eines alternden Richters


    Der irische Richter Eamon Redmond steht kurz vor der Pensionierung. Zum ersten Mal denkt er darüber nach, was er tun wird, wenn er keine Gerichtstermine mehr wahrzunehmen und keine Akten mehr zu studieren hat. Seine Gedanken schweifen zurück in seine eigene Kindheit, als er während der schweren Krankheit seines Vaters mehr oder weniger bei Verwandten abgestellt wurde. Er denkt an die Zeit, als er seine Frau Carmel kennen lernte und an historische Ereignisse, die er miterlebte. Als Redmond längst Vater erwachsener Kinder war, hatte er im Fall einer 16-jährigen Schülerin zu urteilen, die ungeplant schwanger wurde und sich für ihr Kind entschied. Noch im letzten Schuljahr sollte sie von der Schule verwiesen werden, um anderen Schülerinnen kein schlechtes Beispiel zu geben. Der Vater des Ungeborenen war offensichtlich kein schlechtes Beispiel für andere und blieb an der Schule. Eamon entschied über die Klage der Eltern des Mädchens unter rein rationalen Gesichtspunkten, wie er fand. Er hatte abzuwägen, ob der Schutz der Familie (Mutter und Kind) als wichtiger anzusehen sei als die Rechte einer Institution (der Schule). Diese Frage zu entscheiden, dafür hält Eamon sich als Richter für grundsätzlich kompetent. Seine Tochter Niamh, die selbst allein erziehende Mutter ist, betrachtet ihn vermutlich als skandalös weltfremden alten Knochen. Redmonds Pläne für den Ruhestand zerschlagen sich, als seine Frau schwer erkrankt und bald darauf stirbt. Erst kurz vor ihrem Tod spricht sie aus, wie isoliert sie sich während ihrer Ehe mit ihrem stets distanzierten Mann gefühlt hat. Redmond war der typische Vertreter einer Generation, die die eigene Aufgabe in der finanziellen Versorgung der Familie sah und die Aufgabe einer Frau allein darin, stets für Mann und Kinder da zu sein. Die Frage, wer für die Sorgen seiner Frau da sein sollte, hat er sich nie gestellt.


    Tóibin verknüpft das Schicksal des Eamon Redmond mit dem symbolischen Fall einer schwangeren Schülerin, der die kontroverse Haltung des katholischen Irland gegenüber ungeplanten Schwangerschaften aufzeigt. Bis in die Gegenwart wurde das Thema Schwangerschaftsabbruch in Irland euphemistisch als "Reisefreiheit" behandelt; gemeint ist die Freiheit einer Schwangeren, zu einem Schwangerschaftsabbruch ins Ausland zu reisen. Im Dezember 1992, in dem Jahr als "Flammende Heide" in Irland erschien, wurde erst im zweiten Anlauf in einer zweiten Verfassungsänderung innerhalb eines Jahres irischen Frauen offiziell das Recht zugestanden, zu einem Schwangerschaftsabbruch ins Ausland zu reisen.


    Der Autor beschreibt in seiner melancholischen Geschichte das Altern eines Mannes, der keine Gefühle zeigt; denn er hatte "gelernt, nie etwas von jemandem zu brauchen". Das meisterhafte Psychogramm des alternden Richters ist in stimmungsvolle Schilderungen Irlands und in poetische Landschaftsbeschreibungen eingebettet.

  • Ein Richter kurz vor der Pensionierung geht seinem Alltag nach. Er behandelt Routinefälle bei Gericht, macht Urlaub in seinem Ferienhaus an der irischen Küste, geht schwimmen, liest, isst mit seiner Frau zu Mittag. Das Ferienhaus jedoch ist von der Gewalt des Meeres bedroht, immer näher rückt die Küstenlinie, das Nachbarhaus ist bereits halb ins Meer gestürzt. Als ebenso brüchig wie das Land unter ihm erweisen sich die Gewissheiten seines Lebens. Ein Fall beschäftigt ihn mehr als gewöhnlich. Eine Schülerin klagt gegen ihre katholische Schule, die sie vom Unterricht ausschloss, nachdem sie schwanger wurde. Es stehen die Persönlichkeitsrechte des Mädchens gegen das religiöse Gewissen der Schule und es geht um nicht weniger als die Identität des modernen Irlands. Und der Richter Eamon Redmond zweifelt an seiner Entscheidung, die juristisch haltbar ist, aber ist sie auch gerecht? Auch sein privates Leben ist brüchig, das Verhältnis zu den Kindern distanziert, seine Frau erkrankt schwer.


    Nach und nach erfährt der Leser auch aus der Kindheit des Richters. Seine Mutter starb früh, der Vater erlitt einen Schlaganfall. Die Familie kümmert sich, die emotionalen Bedürfnisse des Kindes kommen jedoch zu kurz. Der Junge erfährt kaum, was mit seinem Vater geschieht, Tod und Krankheit werden dadurch noch bedrohlicher als sie sowieso für ein Kind sind. Auch sonst ist das Schweigen immer präsent, das Schweigen über den irischen Bürgerkrieg und über Verbrechen, die die Männer der Familie, Nachbarn an protestantischen Mitbürgern begehen. In diesem Roman ist das Schweigen wie ein Protagonist, der die gesammte Erzählung beherrscht.


    Lange scheint sich dieser Roman in Details zu verlieren. Minituiös beschreibt der Autor jede kleine Bewegung seiner Hauptfigur, seine Alltagsroutinen, seine Gedanken. Aber aus diesen scheinbaren Nebensächlichkeiten schält sich eine Erzählung von unglaublicher Wucht und Sprachgewalt. Colm Toibin weiß genau, was er tut. Jedes Wort sitzt, jede Geste seiner Figur ist von Bedeutsamkeit. So gelingt es ihm seine Geschichte aufzuladen ohne sie zu überladen. Hier schreibt ein ganz Großer!