Die Leinwand - Benjamin Stein

  • 416 Seiten, 2010,
    Gebunden, 19.95 Euro


    Inhalt
    Ein Spiegelkabinett mit zwei Eingängen. Hinter beiden Buchdeckeln beginnt je eine Geschichte. Genau in der Mitte kommt es zur Konfrontation, treffen die beiden Erzähler, Amnon Zichroni und Jan Wechsler, aufeinander.


    Amnon Zichroni besitzt die Fähigkeit, Erinnerungen anderer Menschen nachzuerleben. Geboren in Jerusalem und streng jüdisch erzogen, studiert er in den USA und lässt sich in Zürich als Analytiker nieder. Dort begegnet er dem Geigenbauer Minsky, den er ermuntert, seine traumatische Kindheit in einem NS-Vernichtungslager schreibend zu verarbeiten. Beider Existenz steht auf dem Spiel, als der Journalist Jan Wechsler behauptet, das Minsky-Buch sei reine Fiktion…
    Zehn Jahre später wird eben diesem Jan Wechsler ein Koffer zugestellt, der ihm bei einer Reise nach Israel verloren gegangen sein soll – doch Wechsler kann sich an den Koffer nicht erinnern. Auf den Spuren fragwürdig gewordener Erinnerungen reist er nach Israel und gerät in ein Verhör. Tatsächlich, stellt sich heraus, ist er schon einmal dort gewesen, und sein damaliger Gastgeber, Amnon Zichroni, gilt seither als vermisst …


    Ein faszinierender, spannender Roman über die Unzuverlässigkeit unserer Erinnerungen und das Ringen um Identität. Meisterhaft konstruiert – und als Buch zum Wenden zugleich eine Liebeserklärung an das Medium Buch.


    Der Autor
    Benjamin Stein wurde 1970 in Berlin (Ost) geboren. Nach dem Abitur arbeitete er bis zur Wende 1989 als Nachtpförtner in einem Altenheim, später studierte er Judaistik und Hebraistik. Seit 1982 veröffentlicht er Lyrik und Kurzprosa. Sein erster Roman „Das Alphabet des Juda Liva“ erschien 1995 im Ammann Verlag und 1998 als Taschenbuch bei dtv.
    Benjamin Stein arbeitete als Redakteur und Korrespondent diverser deutscher und amerikanischer Computerzeitschriften und seit 1998 als Unternehmensberater für Informationstechnologie. Er ist Inhaber des Autorenverlags Edition Neue Moderne und betreibt das literarische Weblog „Turmsegler“. Benjamin Stein ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt in München.
    (Stand: Januar 2010) Quelle: C.H.Beck


    Turmsegler - Benjamin Steins unterhaltsamer Blog



    Hintergrund
    Benjamin Stein bedient sich bei diesem Roman an Themen, die auf einer wahren Begebenheit beruhen. 1995 veröffentlichte ein Mann namens Binjamin Wilkomirski sein Buch "Bruchstücke - aus einer Kindheit 1939 – 1948". Darin berichtete er in autobiografischer Form über die Ermordung eines Mannes durch einen Uniformierten in Riga, die er beobachtet haben soll, über seinen Aufenthalt in zwei Konzentrationslagern, Auschwitz und Madjanek, und über seine Opferschaft „bestialischer Menschenversuche“ in diesen KZs.


    Von Kritikern wurde das Buch seinerzeit mit Begeisterung aufgenommen und auch mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet. Umso größer war natürlich auch das öffentliche Schauspiel, als 1998 ein schweizer Journalist namens Ganzfried einen Artikel in der Züricher Weltwoche veröffentlichte, in dem er schrieb, dass die Geschichte von Wilkomirski reine Fiktion sei.


    Um nicht allzu sehr abzuschweifen, es gab danach vielfältige Diskussionen darüber, was Bruno Dössekker, so hieß Binjamin Wilkomirski eigentlich, dazu motivierte ein solches Buch mit gänzlich erfundenen Erinnerungen zu schreiben. Es stellte sich heraus, dass Dössekker sich jahrelang einer speziellen Therapie unterzogen hatte, um verdrängte Erinnerungen wieder ins Bewusstsein zu rufen. Dabei sei er einer sogenannten "Erinnerungsfälschung" aufgesessen und dadurch auch selbst an die Wahrheit dieser Erinnerungen glaubte.


    Es war auch nicht so, als ob Wilkomirski rein fiktive Erinnerungen aufgeschrieben hatte. Tatsächlich wurde er als Kind von seiner Pflegemutter schwer misshandelt. Es gab diese Erlebnisse also, nur nicht in dem von Wilkomirski/Dössekker veröffentlichten Kontext.


    Mehr Informationen
    Der Fall Binjamin Wilkomirski bei Wikipedia
    Artikel der Zeit online


    Meinung
    Es steht zwar schon in der Kurzbeschreibung, aber ich erwähne trotzdem nochmal, dass das Buch von hinten oder von vorne zu lesen ist. Man kann also mit der Geschichte um Jan Wechsler anfangen, dem Verleger und Diaspora Juden, so bin ich vorgegangen, oder mit der um Amnon Zichroni, dem jüdischen Psychoanalytiker. Oder man kann auch kapitelweise abwechseln. Ist sicherlich etwas, dass ich bei einem Re-read in Betracht ziehen würde. Beim Erstlesen hätte mich das irritiert. Mit welcher Geschichte man beginnt ist sicher auch entscheidend für den Gesamteindruck.


    Stein nimmt den oben beschriebenen Hintergrund als Grundlage seines Romans. Als thematischen Hintergrund. Dabei geht er nicht in der Hauptsache auf die Person „Wilkomirski“, im Buch „Minsky“, ein, sondern auf die beiden anderen Figuren, den Journalisten Jan Wechsler und den Psychoanalytiker Amnon Zichroni. Was der Autor aus diesen Figuren macht, wie er die Geschichten der beiden zu seiner Geschichte macht, und uns damit die Kultur des Judentums und die Problematik des Identitätsverlustes nahe bringt, ist großartig und äußerst beeindruckend.


    Über Jan Wechsler erfahren wir sehr intensiv, wie es sich anfühlen mag, wenn die eigene Identität, der eigene Hintergrund, nicht vorhanden ist. Wie kann man ein verlässliches Leben führen, wenn man sich nicht auf seine Erinnerungen verlassen kann? Wie wird Identität erworben und wie zu einem unauslöschlichen Bestandteil einer Persönlichkeit? Diese Fragen beantwortet Stein natürlich nicht, nein, er wirft sie auf mit der Geschichte um Jan Wechsler. Es sind Fragen, mit denen wir uns nicht alltäglich beschäftigen, weil sie nichts mit unseren alltäglichen Problemen zu tun haben. Umso faszinierender ist es, die Auseinandersetzung mit der Thematik Identitätsverlust zu verfolgen.


    Zitat

    "Ich weiß nicht, ob ich mich mehr vor der Möglichkeit fürchtete, dass Wechsler meine Erinnerungen und damit mich selbst gestohlen hatte, oder aber vor einer zweiten, die ich für schlimmer hielt: Ich selbst könnte der Dieb sein und irgendwann in den letzten zehn Jahren die Regensburgers, Hillers und Markovás adoptiert und ihre Familiensaga zur Geschichte meiner Familie gemacht haben. Wenn es so war, dann existierte ich gar nicht. Dann bestand ich nur aus der Vorstellung, die ich mir und anderen von mir gemacht hatte.”


    Amnon Zichroni dagegen hat kein Problem mit Identitätsverlust. Ganz im Gegenteil besitzt er sogar die Fähigkeit in die Erinnerungen anderer einzutauchen, deren Identität quasi nachvollziehen bzw. vielmehr selbst erleben zu können. Es ist nicht so, dass der Fall „Minsky“ das zentrale Thema um Zichronis Teil ausmacht. Dies wird lediglich auf den letzten zwanzig Seiten behandelt. Vielmehr wird Amnons Leben, sein Aufwachsen in der Schweiz bei seinem Onkel, seine Studienzeit in New York und seine als Psychonanalytiker bedeutendsten Fälle dargestellt. Amnon wächst stets in einer strengen jüdischen Glaubensgemeinschaft auf und behält diesen tiefen Glauben auch.
    Wir begleiten Amnon auf seinen Weg zum Psychoanalytiker. Der allgemeinen Schulmedizin gegenüber entwickelt er eine große Skepsis, die nach den Begegnungen mit alternativer Medizin sogar in Ablehnung überschlägt.


    Zitat

    "Der mechanistisch argumentierende und auf Apparate und Substanzen vertrauende Medizin erschien mir wie ein faszinierendes Ende aber doch abwegiges Gedankenexperiment, das nicht aufgehen konnte, weil in ihrer Gleichung die Variable des göttlichen Funken in allem Lebenden fehlte."


    Benjamin Stein schreibt aus eigener Erfahrung. Er selbst ist Jude und wuchs in der DDR auf. Allerdings berichtet er durch Jan Wechsler, der glaubt, in der DDR aufgewachsen zu sein, über die Erfahrungen des jüdischen Lebens in der DDR, nicht durch Amnon. Ein sehr interessanter Einblick übrigens.


    Stein erzählt in einem sehr anspruchsvollen aber unterhaltenden Ton über jüdisches Leben, über Identität und Wahrheit. Für mich war es eine herausfordernde Lektüre, da ich mich nur bedingt mit jüdischen Gepflogenheiten auskannte und mich nebenbei einlesen musste bzw. wollte. Schon lange habe ich mich nicht mehr mit den Inhalten eines Romans so intensiv beschäftigt, wie bei diesem Buch. Das ist es, was ich mir unter Literatur vorstelle, die Kultur ausmacht.


    Aufgrund dessen ist es, so schätze ich, der falsche Ansatz diesen Roman als Unterhaltung zu verstehen. Ich verstehe ihn als Vermittlung von Kultur und einen Beitrag zur Völkerverständigung auf unterhaltender Ebene. Er ist etwas ganz Besonderes. Nicht nur, weil man es von vorne oder von hinten lesen kann. Es führt an Themen heran, die nicht häufig als Plot dienen. Daneben vermittelt die Lektüre eine Fülle an Informationen, die aufgenommen, erforscht und bewertet werden wollen.


    Fazit
    Viel Zeit und Muße sollte man sich für das Lesen nehmen. Der Roman ist eine große Bereicherung, wenn man sich auf ihn einlässt, die sich setzen muss und die nachwirkt. Ein Buch für Wissensdurstige und für mich persönlich jetzt schon ein Jahreshighlight!

  • Als "Sekundärliteratur" habe ich mit diesem Buch nebenbei begonnen, um mir einen Überblick über die jüdische Kultur zu verschaffen.


    Was ist koscher?
    Wer ist Jude? Warum ist den Juden Israel so wichtig? Warum glauben die Juden, das auserwählte Volk zu sein? Gibt es ein modernes Judentum? Was ist koscher? Weshalb wird das jüdische Neujahr im Herbst gefeiert? Wieso dürfen Juden am Sabbat nicht arbeiten? Und wie kann man als Jude in Deutschland leben?
    Paul Spiegel will mit dem Fremden vertraut machen und beantwortet Fragen zu Religion, Tradition und Alltag der Juden.