Yasmina Khadra - Die Schuld des Tages an die Nacht

  • Titel im Original: Ce que le jour doit a la nuit


    Licht und Schatten in Algerien


    Zum Inhalt :


    Das Buch erzählt in der Ich-Form die Lebensgeschichte von Jonas, ursprünglich Younes, einem Jungen in Algerien., beginnend mit der Vertreibung seiner Familie von ihrem Landbesitz, woraufhin sich die Familie nach Oran aufmacht, wo sie in großer Armut dahinlebt. Der stolze Vater ist bestrebt, aus eigener Macht wieder auf die Füße zu kommen, sieht aber die Unmöglichkeit seiner tapferen Bemühungen mit der Zeit ein und vertraut seinen Sohn dessen Onkel, einem Apotheker mit einigem Wohlstand im europäischen Viertel der Stadt, an, der Jonas adoptiert und großzieht. Sie ziehen nach Rio Salado, wo Jonas erstmals richtige Freunde findet und Emilie begegnet, nicht ahnend, welch große Rolle dieses Mädchen noch in seinem Leben spielen wird. Auch vom herankommenden Unabhängigkeitskrieg und den damit verbundenen umwälzenden Veränderungen nimmt der ins Erwachsenenalter kommende Jonas zunächst noch keine Notiz…


    Meine Meinung:


    Das Buch beginnt trist mit der Beschreibung der großen Armut am Lande und in dem Elendsviertel, in das es die Familie in Oran verschlägt; dem gegenüber steht der Wohlstand in den europäischen Vierteln der Stadt bei seiner Adoptivfamilie. Nach dem nicht gerade freiwilligen Umzug nach Rio Salado stehen die Freundschaften im Vordergrund, auch wenn Jonas immer wieder zu spüren bekommt, dass er als Araber und Muslim unter Europäischstämmigen und Katholiken ein wenig fremd ist. Als dann auch noch Emilie ins Spiel kommt, verstärkt sich die innere Zerrissenheit von Jonas zwischen seinem eigenen Volk und den Kolonialherren; er ist nicht fähig, sich endgültig für eine Seite zu entscheiden und der anderen zu entsagen; er lebt quasi zwischen zwei Welten. Dieser innere Konflikt von Jonas wird sehr einprägsam und glaubwürdig dargestellt und zieht sich über das gesamte Buch, auch die tragische Geschichte mit Emilie wird leidenschaftlich und einfühlsam erzählt.


    Bemerkenswert ist der poetische Sprachstil, in dem die Lebensgeschichte von Jonas vorgebracht wird, unterbrochen von auflockernden Dialogen, sodaß das Lesen niemals anstrengend oder überfordernd wirkt. Ein wenig zu kurz kommen über weite Teile die fragilen politischen Verhältnisse im Lande, erst mit dem ausbrechenden Unabhängigkeitskrieg rückt dieser Aspekt stärker ins Geschehen. Das Ende in der Gegenwart ist melancholisch, anrührend und in sich stimmig und setzt einen gekonnten Schlusspunkt.


    „Die Schuld des Tages an die Nacht“ ist ein Buch über die Widersprüchlichkeit des vergangenen Algerien, über Freundschaften und über die Liebe mitsamt ihren Unwägbarkeiten, erzählt mit großer sprachlicher Raffinesse und niemals in Kitsch oder ins Triviale abgleitend. Ich habe es gern gelesen und es wird mich in Gedanken noch eine Weile beschäftigen, auch wenn man über Algerien an sich etwas wenig erfährt.

  • Vielen Dank mankell für die ausführliche Rezension. :wave
    Meine WL wird irgendwie immer länger und länger......

    Herzlichst, FrauWilli
    ___________________________________________________
    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Der Roman „die Schuld des Tages an die Nacht“ handelt von dem sehr bewegenden Schicksal des jungen Arabers Younes.
    Im Greisenalter blickt er auf seine Vergangenheit zurück-auf alles was er in seinem nicht immer einfachen Leben durchlebt hat. Seine frühe Kindheit auf dem Land sowie seine Zeit im Elendesviertel Djenato Djato, in dem er schnell erwachsen werden musste, bringen ihm nicht grade glückliche Erfahrungen. Doch als Younes von seinem
    Onkel adoptiert wird, erschließt sich ihm eine ganz neue Welt, in der es ihm an nichts mangelt, auch nicht an guten Freunden. Dennoch wird der Junge stets zwischen den verschiedenen Welten hin und her gerissen-gelten Araber doch in der Welt des Okzidents allgemein als faul und unnütz. Jonas versucht sich zunehmend als heranwachsender Mann bestmöglich in die Gesellschaft einzugliedern.
    Doch sein ganzes Leben wird er in Gedanken von seiner großen Liebe Emilie begleitet, diese Liebe kann jedoch aufgrund vermeintlichen moralischen Grundsätzen nicht gelebt werden.


    Besonders beeindruckend ist wie Khadra auch die politischen Geschehnisse der Zeit in den Vordergrund rückt. Es ist dem Leser gut möglich, sich in den blutigen Widerstand der algerischen Bevölkerung, die sich gegen die weiter aufstrebende Macht der Franzosen richtet, hineinzuversetzen und auch die Armut zu verstehen.
    Auch sprachlich ist der Roman eine Glanzleistung. Verständlich geschrieben werden alle Handlungen klar herausgehoben, ohne in einem großen Gewirr zu verschwinden.


    Traurig ist irgentwie, dass Younes/Jonas in seinem ganzen Leben nie vollends glücklich gewesen sein scheint, was auch die Stimmung des Lesers sehr niederdrückt. Erst als Jonas sich bei einer Reise in die Vergangenheit an Emilies Grab mit seiner großen Liebe und alsbald auch mit seinem ehemals besten Freund aussöhnt, scheint er seinen Lebensabend genießen zu können.
    5 von 5 Sterne für Khadra alias Mohammed Moulessehoul für einen sehr bewegenden Roman.




    @mankell: deine rezension gefällt mir sehr gut, vielen dank :)

  • Zitat

    Original von brit


    @mankell: deine rezension gefällt mir sehr gut, vielen dank :)


    Dankeschön, das freut mich! Wir beide scheinen ja des öfteren bei den selben Vorablesen-Büchern Glück zu haben. :-]

  • Inhalt: Jonas wächst in Algerien bei seinem Onkel auf und gerät zwischen die Fronten im Krieg zwischen den Franzosen und den eigentlichen Herren des Landes. Am Ende muss er sich für eine Seite entscheiden...


    Meine Meinung: Ein wunderschönes, poetisches Buch. Man erfährt sehr viel über Algerien zur Zeit der französchen Herrschaft. Die Figuren sind sehr überzeugend dargestellt und man kann die meisten inneren Konflikte nachvollziehen. Die Schilderung von Jonas Leben bevor er bei seinem Onkel leben konnte ist sehr eindrucksvoll und man denkt noch lange darüber nach in welcher unvorstellbaren Armut die Leute in der Stadt leben mussten.


    Zum Lebensweg von Jonas: Manchmal möchte man Jonas treten und aus seiner Lethargie reissen. Wie kann man sich nur dermassen an einem gezwungenen Schwur halten, zumal die betreffende Person schon lange aus seinem Leben verschwunden ist. Jonas Freunde dagegen sind manchmal etwas blass geblieben in der Schilderung, gerne hätte ich auch über sie noch etwas mehr erfahren.


    Der Schluss hat mich sehr berührt und ein wenig überrascht.


    Ich war am Anfang etwas irritiert, weil ich die ganze Zeit während des Lesens dachte, das Buch klingt so als ob es von einem Mann geschrieben wäre, aber der Name der Autorin ist weiblich. Erst am Schluss habe ich die Umschlagsseite genauer angeschaut und das Rätsel wurde gelöst. Das Titelbild passt sehr gut zum Inhalt des Buches, und das Buch selber sieht sehr hochwertig und edel aus.


    Fazit: Ein Buch mit Tiefgang, das einen in eine interessante Welt eintauchen lässt und noch lange nachhallt


    Aber wisst ihr was mich sehr interessiert hätte:


  • Deine Rezension gefällt mir ausgesprochen gut. Ich habe das Buch auch bei vorablesen gewonnen und fand es wirklich sehr gut. Zuerst hatte ich richtig Probleme mit der Rezi, weil das Buch wirklich sehr viel beinhaltet. Letzendlich ist sie dann wie folgt ausgefallen:


    Aix-en-Provence in der heutigen Zeit. Eine handvoll älterer Männer treffen sich in der französischen Stadt, um sich an ihre gemeinsame Zeit in Algerien zu erinnern. Bis auf den Araber Younes (franz. Jonas) sind sie allesamt "Pied Noirs", Algerienfranzosen, die in den 60er Jahren als Folge des Unabhängigkeitskrieges hals über kopf ihre Heimat verlassen mussten (la valise ou le cercueil, Koffer oder Sarg).


    Anhand der Lebensgeschichte Younes´führt Yasmina Khadra dezent durch die geschichtliche Entwicklung des nordafrikanischen Landes (30er bis Mitte 60er Jahre) mit all seinen Folgen für die multikulturelle Bevölkerung. Ein großes Augenmerk fällt dabei auf den inneren Konflikt des Araber Younes, der als Sohn eines armen Bauerns geboren wird, zuerst in den Elendsvierteln Orans aufwächst und dann von seinem völlig verarmten Vater schweren Herzens in die Obhut seines wohlhabenden Onkels übergeben wird. Erst hier wird ihm ein unbeschwertes Leben und Schulbildung im europäischen Teil der Stadt gewährt. Obwohl er rein äußerlich nicht direkt als Araber zu erkennen ist, muss er sich trotzdem mit seinem Anders sein, inmitten europäischstämmiger Freunde, auseinandersetzen und so manchen Tiefschlag, auch in der Liebe, ertragen. Dabei ist ihm nicht selten seine Wesensart im Weg. Als Leser möchte man ihn das eine oder andere Mal gerne packen und schütteln oder den berühmten Tritt in den Allerwertesten geben, eben besonders, wenn es um seine Liebe zu Émilie geht. Und hier sind wir direkt bei einer der besonderen Stärken dieses Buches. Seine Menschen beschreibt Khadra realistisch, lebendig und sehr menschlich, mit all ihren Stärken und Schwächen, ihrem Hadern, Missverständnissen und Konflikten, die auch mal ungelöst bleiben dürfen - wie halt im echten Leben. Ihre Gefühle und Gedanken vermag er intensiv zu beschreiben und auf den Leser zu transferieren. Das Grauen mancher Szene spürt der Leser fast körperlich. Als Ausgleich versöhnt Khadra mit einem poetischen Erzählstil voller traumhafter Bilder.


    "Die Schuld des Tages an die Nacht" ist somit ein wunderbares Buch, eine tragische Liebesgeschichte, ein Zeitzeugnis, eine Geschichte über Freundschaft, Familie und herben Verlust oder schlicht, ein Buch über Menschen und die Auswirkung ihrer Entscheidungen auf ihr Leben. Ein Buch, das auch noch lange nach dem Lesen nachwirkt.

  • Die Schuld des Tages an die Nacht – Yasmina Khadra


    Verlag: Ullstein, 2010
    416 Seiten


    Originaltitel : Ce que le jour doit à la nuit
    Aus dem Französischen von Regina Keil-Sagawe


    Über den Autor:
    Yasmina Khadra ist der Künstlername des 1955 geborenen Autors Mohammed Moulessehoul. Als hoher Offizier der algerischen Armee veröffentlichte er seine ersten Bücher wegen der strengen Zensurbestimmungen unter den beiden Namen seiner Frau. Erst nachdem er im Dezember 2000 mit seiner Familie nach Frankreich ins Exil gegangen war, konnte er dieses Pseudonym lüften. Yasmina Khadra lebt heute in Paris.


    Meine Meinung:
    Das Buch folgt den Lebensdaten eines Arabers im Algerien ab den 30ziger Jahren bis heute. Mit ihm folgt man auch den Wandel im Land.


    Im ersten Abschnitt berichtet der 9jährige Protagonist Younes in einem melancholischen, leicht bitteren Ton über das Pech seines Vaters als Bauer im Algerien der 30ziger Jahre. Trotz harter Arbeit verbrennt der Weizen des Vaters und die Familie muss nahezu mittellos ihr Land verlassen.
    Im Oran verdingt sich der Vater als Hilfsarbeiter. Trotz vieler Mühe kommt er auf keinen grünen Zweig. Hilfe nimmt er nicht an, nicht einmal von seinem Bruder. Dazu ist er zu stolz.
    Man erfährt viele Details über das Leben in den gefährlichen Straßen und ärmlichen Stadtviertel im Oran. Schließlich wird der Junge doch zu seinem Onkel gegeben, doch das harte Schicksal des Versagens seines Vaters hat auch den Jungen geprägt.
    Wegen politischen Umständen verlassen sie Oran. Der zweite Abschnitt handelt dann in Rio Salado. Hier fühlt sich Younes wohler und der Erzählton ändert sich. Younes erlebt die Unterschiede zwischen arabischer und französischer Lebensart.
    1942 landen dann die Alliierten in Algerien. Sogar John Steinbeck taucht als Kriegsreporter der Herald Tribune ganz kurz einmal auf.
    In Abschnitt 3 lernt Younes dann Emilie kennen, die ihn liebt.
    1954 beginnt schließlich der algerische Unabhängigkeitskrieg, der das Land vollkommen verändern wird.


    Mit diesem preisgekrönten Roman hat Yasmina Khadra sein bisher reifstes und überzeugendstes Buch vorgelegt.

  • Hallo,


    auch ich habe dieses Buch gelesen und kann es nur jedem empfehlen:
    Meine Meinung:
    „Yasmina Khadras Worte sind von leuchtender Schönheit.“ Le Monde
    Ich denke dieses Zitat trifft es sehr gut. Ich habe selten ein Buch gelesen, dass so herzergreifend und mit so viel Gefühl geschrieben wurde, dass man zu Tränen gerührt wurde. Man fühlt die ganze Zeit mit Younes, dass er und Emilie eines Tages doch noch zusammenfinden und dass sie glücklich werden. Yasmina Khadra beschreibt die Ereignisse mit Worten so wirkungsvoll, als hätte er sie selbst erlebt. Es ist sein Schreibstil, der dieses Buch so einzigartig macht.
    Was ich etwas vermisse, sind die geschichtlichen Hintergründe. Ich kenne mich nicht so gut über die Geschichte Algeriens aus und mir hat ein Nachwort in dem Buch gefehlt, in dem sachlich über die Geschichte Algeriens berichtet wird, da diese in dem Buch nicht immer nachvollziehbar beschrieben wird.
    Ich werde auf alle Fälle noch weitere Werke dieses Autors lesen.

    Das Vielsinnige des Lesens: Die Buchstaben sind wie Ameisen und haben ihren eigenen geheimen Staat.
    (Elias Canetti (1905-94), Schriftsteller span.-jüd. Herk.)

  • Ich habe das Buch auch bei vorablesen gewonnen und mich selten so schwer getan mit einer Rezi, hier das Ergebnis:


    Younes hat kein Glück im Leben: Als Sohn armer Bauern muss er mit zusehen, wie die letzte Hoffnung seines Vaters sein Land zu retten in Flammen aufgeht. In der Stadt dann leben sie unter unglaublichen Umständen in einem Verschlag in einem Hinterhof, wo er es lernt, sich inmitten all der gescheiterten Existenzen seine Nische zu erschaffen und bewahren. Dann aber kommt der nächste Tiefschlag und sein Vater sieht keinen anderen Ausweg mehr als Younes zu seinem Bruder, dem Apotheker, zu geben, um ihm ein besseres Leben zu ermöglichen, obwohl ihm das zutiefst zuwider ist.


    Der Apotheker, Mahi, und seine Frau Germaine ziehen Younes auf als wäre er ihr Sohn und nicht ihr Neffe. Einige Zeit später ziehen sie nach Rio Salado, wo Younes, der inzwischen Jonas genannt wird, neue Freunde findet, die ihn sein ganzes Leben lang begleiten oder zumindest beschäftigen werden. Und er lernt seine große Liebe Emilie kennen. Dummerweise steht ein Geheimnis zwischen ihnen...


    Sprachlich ist dieser Roman wunderschön geschrieben, oft stechen besonders schöne Formulierungen ins Auge. Allerdings kann das über doch einige Längen vor allem in der zweiten Hälfte nicht so ganz hinwegtäuschen. Es wird zwar die Stimmung während des Krieges gut eingefangen, allerdings fehlt der Geschichte und vor allem Jonas die Handlung, der Antrieb. Er grübelt viel zu viel und tut nie etwas. Seine große Liebe lässt er ziehen - und das, nebenbei bemerkt , nicht nur einmal - und erklärt ihr nie, wieso. Schon tragisch. Am Ende schafft der Autor doch noch, was ich nie geglaubt hätte: er entlockt mir ein paar Tränen...

    Liebe Grüße :wave


    Waldmeisterin


    Every day I give my family two choices for dinner: take it or leave it!


    Nulla unda tam profunda quam vis amoris furibunda