Sofia, eine Frau aus dem Prättigau - Erica Brühlmann-Jecklin

  • Kurzbeschreibung:
    Die Geschichte spielt im Prättigau und im Züribiet, beginnt 1898 und endet 1962. Im Vordergrund stehen zwei Familien eines Bündner Dorfes, das durch einen Bach zweigeteilt ist. Auf der einen Seite wohnt Peter, dessen Vater als Bergbauer kaum die kinderreiche Familie zu ernähren vermag, auf der anderen Sofia, in deren Elternhaus, dem Rätia, am Stammtisch die Politik des Tals und der Welt abgehandelt wird. Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg heiraten die beiden. Sofia übernimmt das Rätia. Peter huldigt mehr und mehr dem Alkohol, was zur Unglücksnacht führt. Sofia muss mit den Kindern flüchten und zieht ins Unterland, wohin die Kindermagd Lena sie begleitet. Im Laden, den Sofia eröffnet, verkauft sie Faden, Nadeln und Wolle, und strickt für Kundinnen im neuen Dorf Pullover und Socken. Während ihre gesunden Kinder in der Schule sind, betreut sie gleichzeitig den körperlich behinderten Matthis, der erst in ein Schulheim darf, als er einen Rollstuhl bekommt.


    Über die Autorin:
    Erica Brühlmann-Jecklin, geboren 1949 in Küblis GR, Handelsschule, Lehrerin für Krankenpflege, Anatomie und Physiologie. Studium Anatomie Universität Zürich, Klinische Psychologie Universität Fribourg, Supervisionsstudium an der Freien Universität Amsterdam und der Donau-Universität Krems, Abschluss mit dem Master of Science, graduiert als Integrative und Gestalttherapeutin. Verheiratet, Mutter einer Tochter und eines Sohnes. Sie lebt in CH-Schlieren als Schriftstellerin, Liedermacherin und Psychotherapeutin und ist in eigener Praxis tätig.


    Meine Rezension:
    Sofia steht beispielhaft für eine Generation von Frauen, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit den - auch in der Schweiz - harten Zeiten und widrigen Umständen auseinandersetzen mussten, die das Leben mit sich brachte. Eine große Kinderschar und harte Arbeit, zwar relativ abgeschottet von der Weltpolitik, aber der Willkür der Natur und familiärer Schicksalsschläge ausgesetzt, kämpft sich Sofia durch ein Leben, das wir uns aus heutiger Sicht kaum vorstellen mögen. Wir begleiten sie von ihrer Kindheit bis zu ihrem Tod, lernen ihre Eltern und ihre Kinder und Enkel kennen und erhalten so ein umfassendes Bild von dem Leben im Prättigau Anfang bis Mitte des 20. Jahrhunderts.
    Woran sich die Geister bei der Geschichte um Sofia scheiden werden, ist der Erzählstil: Er wirkt eher spröde und vermittelt den Eindruck, statt eines Romans ein historisches Dokument, vielleicht ein Tagebuch (nur eben nicht in Ich-Form) zu lesen. Viele Schweizer Begriffe, dazu Einschübe aus Liedtexten und nicht zuletzt die strikt chronologische Abhandlung jedes einzelnen Jahrs wird nicht jedem Leser zusagen. Ich selbst brauchte eine Weile, um mich mit dem Stil anzufreunden, es gelang mir aber letztlich ab dem Moment, indem ich die Geschichte eben tatsächlich als (wenn auch fiktives) Zeitdokument und nicht als Roman, interpretierte. Auch wenn mich die Geschichte ab da mehr packte, bleib doch bis zum Schluss eine gewisse (gewollte?) Distanz, die nicht überbrückt werden konnte. Für alle, die gerne einen Eindruck vom Leben im Prättigau zu Beginn des 20. Jahrhunderts, erhalten möchten, auf jeden Fall empfehlenswert, für Leser, die großen Wert auf einen flüssigen Erzählstil und literarische Feinheiten legen, wohl eher nicht.


    Knappe 7 Punkte.


    Wer den Handlungsort der Geschichte Küblis (im Buch rätoromanisch Cuvlignas) kennenlernen möchte, kann sich bei wikipedia oder auf der offiziellen Homepage von Küblis ein Bild machen.


    EDIT: Informationen über die Autorin korrigiert!

  • Ach Milla, ist das jetzt aber schade, dass es "nur" ein Roman ist. :grin


    Mir würde dieser etwas spröde Schreibstil mit Sicherheit gefallen. Denn das ist genau der Schreibstil, den ich mir wünsche, wenn es um die Beschreibung eines kargen Lebens geht.


    Kennst Du das Prättigau Milla? Es ist das Tal durch das man fährt, wenn man vom Rheintal nach Davos fährt. Eine herrliche Gegend. Aber es war wirklich einst ein sehr armes Tal.


    Ich setze es trotzdem mal auf meine Wunschliste, für den Fall, dass ich irgendwann mal alles Biografische durchhabe... :wave

    Avatar: James Joyce in Bronze... mit Buch, Zigarette und Gehstock.
    Diese Plastik steht auf seinem Grab. (Friedhof Fluntern, Zürich)
    "An Joyces Grab verweht die Menschensprache." (Yvan Goll)

  • Zitat

    Original von milla
    Joan, ich könnte mir wirklich gut vorstellen, dass dir der Stil sofort gefällt! :-)


    Jajajaaaaa, ist ja gut! ....mich dünkt, ich werde um diesen "Roman" nicht herumkommen. Das Buch sucht mich förmlich. :lache
    Jedoch, bevor ich es mir kaufe, werde ich mir schon noch bisschen gut zureden müssen, dass ja schliesslich die Mehrzahl meiner Top-Tens Romane sind....


    Zitat


    Das Prättigau kenne ich leider nicht - eben nur von den verlinkten Bildern


    Da muss ich jetzt doch noch etwas loswerden. Jedes Mal, aber wirklich jedes Mal, wenn ich "Prättigau" höre, dann kommt mir ein Roman Remarques in den Sinn DER HIMMEL KENNT KEINE GÜNSTLINGE (nebenbei bemerkt: für die sogen. Remarque-Wissenschaftler/Kritiker einer seiner schwächsten Romane, für mich einer seiner stärksten....)


    Remarque kannte Davos und somit auch den Weg dorthin (durchs Prättigau) gut....


    Der Roman beginnt damit, dass ein gewisser Clerfayt nach Davos fährt, glaubs kurz nach dem 2. Weltkrieg. Er will dort einen Freund besuchen der Patient ist in einem Lungensanatorium. Er hält an einer Tankstelle an - und zwar eben irgendwo im Prättigau - wo ihn der Tankwart, ein Junge von 16 Jahren, darüber informiert, dass er den Pass (damit ist wohl der Wolfgangpass gemeint) nicht überqueren kann.


    "Ueber den Pass können Sie nicht fahren. Der ist seit gestern wieder geschlossen. Mit einem so niedrigen Sportwagen kommen sie schon gar nicht rüber."
    [......]
    "Soll ich die Kutsche mit dem Schlauch abspritzen?" fragte der Junge von der Tankstelle her. "Sie kann es verdammt gebauchen."
    "Nein. Mach nur die Windschutzscheibe sauber."
    Der Wagen war lange nicht gewaschen worden und zeigte es. Ein Sturzregen hinter Aix hatte den roten Staub der Küste von St. Raphael auf Kühlerhaube und Kotflügeln in ein Batikmuster verwandelt; dazu waren die Kalkspritzer aus den Pfützen der Strassen Mittelfrankreichs gekommen, und der Dreck, den die Hinterräder zahlloser Lastwagen auf die Karosserie geschleudert haben, wenn sie überholt wurden. Weshalb bin ich hierhergefahren? dachte Clerfayt. Zum Skilaufen ist es ohnehin fast zu spät. Und Mitleid? Mitleid ist ein schlechter Reisebegleiter - und ein noch schlechteres Reiseziel. Warum fahre ich nicht nach München? Oder nach Mailand? Aber was soll ich in München tun? Oder in Mailand? Oder irgendwo anders? Ich bin müde, dachte er. Müde des Bleibens und müde des Abschieds.
    [......]


    Er unterhält sich noch über einige Zeit mit dem Tankwart.


    Der Junge hielt mit blinkenden Brillengläsern Cerfayts Blick stand. "Du hast mir heute noch gefehlt", sagte der schliesslich. "Ein Alpenschlauberger auf zwölfhundert Meter Höhe! Heisst Du vielleicht auch noch Pestalozzi oder Lavater?"
    "Nein, Göring."
    "Was?"
    "Göring." Der Junge zeigte ein Gebiss, in dem ein Vorderzahn fehlte. "Aber Hubert mit Vornamen
    ."

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