Die Geborene. Renée Schwarzenbach-Wille und ihre Familie - Alexis Schwarzenbach

  • Kurzbeschreibung
    Aufgrund zahlreicher bisher unveröffentlichter Quellen erzählt Alexis Schwarzenbach in diesem Buch das außergewöhnliche Leben seiner Urgroßmutter Renee Schwarzenbach-Wille (1883 - 1959). Da sie über ein ausgesprochen vielseitiges Netz von familiären, kulturellen, politischen und sportlichen Beziehungen im In- und Ausland verfügte, bietet das Buch faszinierende Einblicke in die Geschichte Zürichs, der Schweiz und Deutschlands in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Renee Schwarzenbach lebte ein intensives Leben ohne Kompromisse. Die passionierte Reiterin und obsessive Fotografin liebte ihren Mann aufrichtig, unterhielt aber gleichzeitig fast vierzig Jahre lang mit der Wagnersängerin Emmy Krüger ein intimes Verhältnis. Politisch schlug ihr Herz stets für Deutschland, egal ob dort der Kaiser, Hitler oder Adenauer an der Macht war. Und weil sie vor allem deutsche Musik liebte, gingen Künstler wie Richard Strauss oder Wilhelm Furtwängler bei ihr ein und aus. Sowohl als Turnierreiterin im Damensattel als auch als Pferdezüchterin feierte sie Erfolge, im Privatleben aber musste sie immer wieder herbe Enttäuschungen einstecken. Zwei ihrer fünf Kinder machten ihr große Sorgen: Ihr erster Sohn Robuli, der nie sprechen lernte und den sie über alles liebte - sie widersetzte sich standhaft ärztlichen Bestrebungen, ihn in eine psychiatrische Anstalt einzuweisen - und ihre Tochter Annemarie, Schriftstellerin und Fotografin. Die Korrespondenz zwischen Mutter und Tochter, die Tagebücher der Großmutter Clara Wille-von Bismarck sowie Annemaries detaillierte Krankengeschichte stellen den jahrelangen Kampf zwischen Annemarie und Renee in ein völlig neues Licht. Vordergründig ging es um Politik und Drogen, tatsächlich aber um einen sich ständig wiederholenden Prozess von Liebe und Hass, Leid und Mitleid.


    Über den Autor
    Alexis Schwarzenbach, geboren 1971- Urenkel von Renee Schwarzenbach-Wille - Studium der Geschichte am Balliol College in Oxford, Promotion am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Längere Tätigkeit als Lektor, danach Arbeit er an einer Habilitation über die Wahrnehmung der Monarchie im 20. Jahrhundert. Für Herbst 2005 Vorbereitung einer Ausstellung mit den Aufnahmen aus Renee Schwarzenbachs Fotoalben im Fotomuseum Winterthur.


    Klappentext:
    "Sie ist ganz gut und ganz böse, und ihre Rede ist so wie es in der Bibel steht, ja ja und nein nein. Sie ist "primitiv", weil sie ihr Urteil absolut setzt, aber sie ist kompliziert, weil sie ja leidet. Sie leidet zum Beispiel an mir. Und dann ist sie hilflos."
    Annemarie Schwarzenbach über ihre Mutter Renée.


    Eigene Meinung
    „Die Geborene“ – diesen „Uebernamen“ erwarb sich Renée Schwarzenbach-Wille in der gehobenen Zürcher Gesellschaft damit, weil sie sich überall folgendermassen vorstellte. „Ich bin die Frau Schwarzenbach, eine geborene Wille.“
    Renées Vater war Ulrich Wille, General der Schweizer Armee im 1. Weltkrieg, bereits in jenen Zeiten seiner politischen Ansichten und seiner strengen Armeeführung wegen ein sehr umstrittener Mann. Ueber ihn hat Niklaus Meienberg ein recht kritisches Buch geschrieben: DIE WELLT ALS WILLE UND WAHN, welches grosses Aufsehen erregte, zumindest bei uns in der Schweiz.


    Alexis Schwarzenbach, der Autor von DIE GEBORENE, ist ein Urenkel von Renée Schwarzenbach-Wille, und er nimmt bereits in den ersten Sätzen Bezug auf Niklaus Meienbergs Buch:
    „Ich war fünfzehn Jahre alt, als Niklaus Meienberg 1987 sein polemisches Buch über die Familie Wille publizierte, DIE WELT ALS WILLE UND WAHN. Darin nimmt meine Urgrossmutter Renée Schwarzenbach-Wille als „Herrin auf Bocken“ einen prominenten Platz ein. Als ich meinen Grossvater Hasi damals fragte, wie seine Mutter wohl auf das Buch reagiert hätte, sagte er: „Sie hätte das Sturmgewehr genommen und den Meienberg erschossen.“


    Renée heiratete Alfred Schwarzenbach, Spross einer der reichsten Schweizer Industriellenfamilie jener Zeit. Wenige Jahre später, unter der Führung von Alfred, wuchsen diese Schwarzenbach'schen Seidenwebereien, mit Geschäftszweigen in aller Welt, auf rund 30'000 Beschäftige an. Eine enorme Grösse für die erste Hälfte des letzten Jahrhunderts.


    Renée war nicht nur die Generals-Tochter, sie war auch die Mutter von Annemarie Schwarzenbach, einer Schweizer Schriftstellerin, deren Werk (zwar nicht sehr umfangreich so doch recht vielschichtig und beeindruckend ist), und deren kurzes, bewegtes und tragisches Leben in den letzten Jahren wieder vermehrt ins literarische Bewusstsein zurück gefunden hat, nicht zuletzt auch aufgrund des grossen Einsatzes von Alexis Schwarzenbach.
    Ihre Werke wurden wieder neu aufgelegt, und es tauchten nach und nach auch die diversesten biografischen Bücher über sie auf. Einige davon habe ich gelesen. In allen diesen Biografien kommt ihre Mutter ganz und gar nicht gut weg.


    Nun...Alexis Schwarzenbach hatte für seine Renée-Biografie (inkl. Familiengeschichte) Zugriff auf eine reiche Fülle von bisher unveröffentlichten, und für Aussenstehende bis dato nicht einsehbare Dokumente, vor allem sind das Briefe von einem grossen Personenkreis, Tagebücher etc. und darüber hinaus um die 10'000 Fotografien - sogar einige Filme sind dabei - die für den Autoren eine weitere ausserordentlich aufschlussreiche Quelle bedeuteten. Die Renée war eine leidenschaftliche Fotografin. Alle ihre Fotos hat sie fein säuberlich in über 100 Alben eingeordnet, mit Datum und persönlichen Bemerkungen beschriftet.


    Was den Inhalt der Briefe anbelangt: praktisch die ganze Familie hat mit einer ganz verblüffenden Offenheit korrespondiert. Da werden Gefühle, Gedanken, Meinungen ganz klar und unmissverständlich ausgespochen, die ganze Palette menschlicher Regungen sind darin zu finden: Liebevolles und Zärtliches, Unmut, Wut, Tadel, Ablehnung, Hass, Klatsch und Tratsch, und und und….
    Auch die politischen Ansichten der diversen Familienmitglieder inkl. ihrem Freundeskreis werden durch diesen Briefwechsel einsehbar, ihre Nähe auch zu den Nazis und ihr mehr oder weniger grosses Einverständnis mit deren Ideen.
    Durch diese Offenheit in den Briefen werden einem die ganzen Widersprüchlichkeiten in menschlichen Gedankengängen bewusst gemacht, sodass ich mir erstmal dachte: Du lieber Himmel, was ist denn das für eine komische Familie!! …...aber mit der Zeit kam immer mehr die Ueberlegung dazu, dass doch auch ich selber, sowie eigentlich ein jeder Mensch seine ganz speziellen Widersprüchlichkeiten und Unsicherheiten in sich trägt….


    Die Renée pflege eine nahezu 40-jährige Freundschaft mit der deutschen Sängerin Emmy Krüger, mit der sie wohl mehr Zeit verbracht hat als mit ihrem Mann und ihrer Familie. Der Autor ist sich da ganz sicher, dass es eine sexuell geprägte und auch entsprechend gelebte Freundschaft war.
    Noch selten ist mir eine Person in einem Buch derart auf die Nerven gegangen wie diese Emmy Krüger. Das ging so weit, dass mir die Einsichten in ihre charakterlichen "Abgründe" tatsächlich ein Stück weit das Lesevergnügen vergällen konnten. Ihr massloser Judenhass, ihre Egozentrik, ihre Falschheiten, ihr Einmischen in die privatesten schwarzenbach'schen Familienangelegenheiten, was letztlich auch mitverantwortlich war für das gestörte Verhältnis zwischen der Renée und ihrer Tochter Annemarie. Ihre verlogenen, verdrehten Darstellungen/Erklärungen im Bezug auf ihre Nähe zu den Nazis , niedergeschrieben in einem scheinheiligen Memoiren-Buch, das sie 1960 veröffentlichte.....etc, etc.


    Es gibt so unendlich viele Aspekte die in diesem Buch enthalten sind: politische, kulturelle, gesellschaftliche, zwischenmenschliche…..sie alle anzusprechen zu wollen, würde hier viel zu weit führen.
    Zwei für mich markante Punkte möchte ich nur noch hervorheben. Zum einen ist das vielleicht eine Art „Denkfehler“ des Autors, zumindest eine recht verwirrend formulierte Aussage, die mir wohl gerade darum so sehr ins Auge stach, weil ich ansonsten den Eindruck hatte, dass er doch sehr darum bemüht war, diese seine Familiengeschichte möglichst sachlich und geschichtlich korrekt wiederzugeben.
    Er zählt die lange Liste der Prominenten auf die sich unter den 300 Gästen befanden, die an einem Fest auf dem Landgut Bocken, dem Wohnsitz der Familie Schwarzenbach-Wille, teilgenommen haben. Dieses Fest fand im Juni 1921 statt. Und er kommentiert ein Foto, welches die Renée inmitten einiger ihrer Gäste zeigt:
    „ Für ein Foto posierte sie stolz auf der Bockener Eingangstreppe zusammen mit anderen weiblichen Festspielstars und Hermann Hesse, nach Gerhard Hauptmann der zweite Literaturnobelpreisträger, der Bocken einen Besuch abstattete.“
    Damals war der Hesse noch weit entfernt vom Literaturnobelpreis, den bekam er nämlich erst ¼ Jahrhundert später.


    Und dann - als Abschluss dieser Buchbesprechung - noch etwas ganz Lustiges.
    Einer der langjährigen Gäste auf Bocken war der Dirigent Wilhelm Furtwängler, bereits Jahre vor dem 2. Weltkrieg, während des Krieges und auch noch danach, und der Hasi ist einer der Söhne Renées, der Grossvater des Autors.
    „Die weihevolle Stimmung bei Renées Furtwängler-Empfängen scheint vor allem durch Hasis Spässe etwas aufgelockert worden zu sein. […..] Ein anderes Mal schärfte Renées Jüngster seinen beiden Söhnen ein, der Gast ihrer Grossmutter heisse „Furzwängler“, und gerade weil er einen so peinlichen Namen habe, müssten sie ihn bei der Begrüssung laut und deutlich aussprechen, ohne dabei zu lachen.“ :rofl


    Ich kann diese wirklich kurzweilige, reichhaltige, auf unendlich vielen Ebenen informative Familiengeschichte mit grosser Begeisterung (einzige Einschränkung: diese Emmy Krüger :rolleyes) weiterempfehlen. Im Speziellen auch all denen, welche sich für das Leben der Annemarie Schwarzenbach interessieren. Dieses Buch gibt wirklich neue Einsichten frei auf ihre doch auch sehr komplizierten Charakterstrukturen, eine differenziertere Sicht auch auf die Hintergründe jener zentralen, problematischen und prägenden Rolle, die ihre Mutter eingenommen hat, und die ihr Sein und ihr Leben so sehr beeinflusste....


    Edit: paar Fehler korrigiert und Text bisschen versucht zu verbesern.

    Avatar: James Joyce in Bronze... mit Buch, Zigarette und Gehstock.
    Diese Plastik steht auf seinem Grab. (Friedhof Fluntern, Zürich)
    "An Joyces Grab verweht die Menschensprache." (Yvan Goll)

    Dieser Beitrag wurde bereits 3 Mal editiert, zuletzt von Joan ()