OT: Just In Case 2006
David ist ein durchschnittlicher Fünfzehnjähriger, er lebt mit seinen Eltern und dem ein Jahr alten Bruder Charlie in Luton. Die Pubertät hat ihn ein wenig verunsichert, orientierungslos gemacht, aber nicht auffällig, er hat sich in eine Art Kokon zurückgezogen. Sein Zustand ändert sich eines Tages schlagartig, innerhalb von wenigen entscheidenden Sekunden wird er sich bewußt, daß er sterblich ist. Auf einmal lauern überall Katastrophen. Daß er einer zum Opfer fällt, ist eindeutig, glaubt David, niemand geringerer als das Schicksal hat es nämlich auf ihn abgesehen. Er ist verloren!
Doch er beschließt, dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen, er wird sich einfach vor ihm verstecken. So ändert er seinen Namen, aus David wird Justin, er ändert seine Kleidung, seine ganzen Gewohnheiten. Er wird ein anderer. Das Schicksal jedoch läßt sich nicht täuschen und Davids Angst vor dem Ende wächst bald sich zu einer regelrechten Paranoia aus. In seinem Wahn entgeht er ebenso vielen Katastrophen, wie er verursacht, seine Wahrnehmungsfähigkeit ist völlig getrübt. Er schlingert durch den Alltag, wie ein außer Kurs geratener Planet. Am Ende findet er seine Umlaufbahn, aber die sieht ganz anders aus, als David es sich je vorgestellt hat.
Diese Geschichte über die komplizierte Befindlichkeit eines Teenagers ist wieder einmal eine Geschichte zum Thema Erwachsenwerden unter dem Blickpunkt der Angst. Für einmal aber geht es nicht um die Angst vor dem Leben außerhalb der sicheren Wände des Kinderzimmers, sondern vor um die Angst vor dem Sterben. Das Wissen vom sicheren Ende im sonst unüberblickbaren und unkontrollierbaren Dasein der Menschen bannt den Jungen völlig. Er verliert zeitweise jeden klaren Verstand, er gerät außer sich.
Rosoff gelingt es auf das beeindruckendste, Davids Gefühlsverwirrung an Tag zu bringen. Ihr Ton ist distanziert und sezierend, zugleich aber mitfühlend, ohne allerdings aus David einen Helden zu machen. Sein Schrecken bis hin zum Grauen angesichts all des Unglücks, das Menschen treffen kann, teilt sich unmittelbar mit und gibt der Geschichte eine dunkle Note. David sieht stets und ausschließlich schwärzer als schwarz.
Was ihm widerfährt, ist tatsächlich schlimm, steigert sich für ihn jedoch ins Unermeßliche, weil er ausschließlich auf sich konzentriert ist. Rosoff zeichnet ein schmerzhaft genaues Bild von blanken Egoismus eines Teenagers. Lange ist David einfach taub für jedes Wort seiner Umwelt, gleich, von wem es kommt.
Die Personen um ihn herum sind treffend ausgedacht. Ebenso wie die Geschehnisse, denen David ausgesetzt ist, sind sie gleichermaßen überwältigend wie absurd, sie wirken völlig realistisch und sind zugleich überlebensgroß. Ihr Handeln ist altruistisch und egoistisch, sympathisch und unsympathisch, von einem Moment zum anderen. So ist es im Leben, man weiß nie, was im nächsten Augenblick passiert. Rosoffs Perspektivwechsel sind rasant, sie geben der Geschichte zusätzliche Dynamik, denn sie brechen über die Leserin herein, wie die Ereignisse über David.
Ob Davids einjähriger Bruder kommentiert, sein stets beherrschter Freund Peter, ob indirekt kommentiert wird durch Davids Beobachtung seines Windhunds, der allein in seiner Phantasie existiert, fast in jedem Satz erwarten eine Überraschungen. Daß darüberhinaus das Schicksal persönlich seine Meinung abgibt, provozierend-frech, herablassend oder liebevoll, ist ein wunderbarer Kniff. Und nur Rosoff kann es gelingen, daß einer die Stimme des Schicksals nach wenigen Seiten schon völlig normal vorkommt.
Das Ganze ist nicht nur gut ausgedacht und konstruiert, sondern wird durch eine Vielzahl von Details zusätzlich zusammengebunden, die perfekt aufeinander abgestimmt sind, bis hin zu einem running gag mit einem aberwitzigen Ende an einer Stelle, an der man am wenigsten darauf gefaßt ist. Selbstverständlich ist der Witz nicht allein um des Witzes Willen eingebaut, er hat seine eigenen Bedeutungen in dieser verrückten Geschichte.
Damit wird ein weiteres wichtiges Thema dieses Romans betont, nämlich, wie viele Dinge in kürzester Zeit passieren und wieviel eigentlich miteinander zusammenhängt.
David findet erst dann allmählich in eine geordnete Bahn zurück, als ihm klar wird, daß sein Handeln andere ebenso beeinflußt, wie das Handeln anderer ihn. Streckenweise werden durchaus philosophische Gedanken entwickelt, das Buch ist auch ein Traktat zu diesem Thema. Man muß der Autorin so genau zuhören, wie David lernen muß, zuzuhören.
Atemberaubend schön wieder die Landschaftsbeschreibungen, atemberaubend wieder die Art Rosoffs, in einem an und für sich einfachen und gar nicht besonders langen Satz eine Mine zu legen, die explodiert, sobald der Punkt gesetzt wird. Sätze beginnen bei ihr oft mit einem Lachen und enden in Tränen, und umgekehrt. Das Leben ist ein Minenfeld, David würde hier kräftig nicken. Warum soll es in der Literatur anders sein?
Eigenwillig, eigenartig, eigenständig. Rosoff eben.