Eine Handvoll Leben - Marlen Haushofer

  • Klappentext (von Amazon):
    »Sie bereute nichts, das Leben war schön, grauenhaft, sanft und ohne Gnade und immer stärker als ihr Herz, das sich dagegen stemmte.«
    »Betty stellte sich vor, wie ihr Leben verlaufen wäre ohne den brutalen Eingriff von außen. Vielleicht hätte sie endgültig resigniert und wäre mit den Jahren eine freundliche, ein wenig zerstreute Frau geworden, die mit ihrem Kind spazierengeht, Romane liest, Gäste empfängt, Blumen in die Vasen ordnet und das Leben sanft und ohne Bedauern davonrinnen spürt. Eine von den vielen Frauen, deren Wille gebrochen ist und die gar nicht mehr wirklich sind.« Zwei Jahrzehnte sind vergangen, als eine Frau unerkannt in das Haus ihrer Familie zurückkehrt, das sie einst verlassen hat, um eine Ehe und eine Affäre aufzugeben. Nun steht sie ihrem ahnungslosen Sohn gegenüber ... «


    Über die Autorin:
    Link zur Eulen-Rezi für "Die Mansarde" mit ausführlicher Biographie


    Meine Meinung:
    1951 kehrt Betty Russel nach dem Tod ihres ersten Mannes in die Stadt nach Österreich zurück, in der sie zwanzig Jahre zuvor einen Suizid vortäuschte und sich aus ihrem damaligen Leben mit Mann und Kind davonstahl. Nun steht ihr Haus zum Verkauf. Sie gibt sich als Interessentin aus, lernt ihren Sohn und dessen Stiefmutter kennen, die als Mädchen ihre beste Freundin war und ihrem Kind eine bessere Mutter geworden ist als sie es je hätte werden können. Betty übernachtet im Fremdenzimmer, wo sie im Nachttisch alte Fotos und Postkarten findet, und erinnert sich an das kleine Mädchen Lieserl und an die junge Frau Elisabeth, die sie einst war. So weit die Rahmenhandlung.


    Die Erinnerungssequenzen machen den Hauptteil des Buches aus und zeigen die Entwicklung eines Mädchens im Österreich der zwanziger und dreißiger Jahre, ihre Gedanken, die Gefühlswelt, den Kampf gegen eine feindliche Welt, in der sie sich nur schwer zurechtfindet. Stets muss sie sich Regeln beugen, sei es in der Klosterschule oder später als Erwachsene. Sie stammt aus gutem Hause, würde gerne etwas Handfestes arbeiten und einen Mann heiraten, der körperlich schwere Arbeit an der frischen Luft verrichtet – undenkbar. Sie ist dazu verurteilt, sich auf adrettes Aussehen und das Arrangieren von Blumen zu beschränken. Elisabeth findet einen Mann, der im kaufmännischen Bereich tätig ist und den sie wirklich liebt. Er liebt sie auch, doch er schätzt viel zu sehr die Bequemlichkeit, um sich mit Elisabeth als Person und mit ihren Problemen auseinanderzusetzen. So bemerkt er nicht, was an ihr frisst, dass sie krank wird am Nichtstun, an der Sinnlosigkeit. Denn Elisabeth liebt die Herausforderung. Schon als Kind wollte sie hinter die Fassade sehen, suchte sich Freundinnen, die nicht gegensätzlicher hätten sein können und an denen sie sich aufrieb, stellte den lieben Gott und die Regeln der Kirche in Frage. Sie war gewiss, dass sie eines Tages etwas Herausragendes leisten würde. Doch dieses Etwas kommt nie. Und es gelingt ihr nicht zu sehen, dass sie in all der Belanglosigkeit ihres Lebens etwas Besonderes ist.


    Sie hat eine besondere und genaue Beobachtungsgabe, kann alles, was sie sieht, hört und riecht analysieren, nimmt Dinge wahr, die anderen verborgen bleiben und stellt Zusammenhänge her. Doch sie fängt nichts damit an, wirkt so gelähmt, dass ich sie manchmal gern geschüttelt hätte, um sie zu sich zu bringen. Sicherlich wäre es nicht einfach gewesen, in dieser Zeit als Frau etwas anderes aus ihrem Leben zu machen, aber sie kommt über ein paar zögerliche Versuche nicht hinaus, und dann flüchtet sie ganz.


    Die Geschichte ist wahrscheinlich stark autobiographisch geprägt. Sie ist wenig spektakulär und schon gar nicht spannend, schließlich wird nur erklärt, wie Elisabeth dazu getrieben wurde, ihren Selbstmord vorzutäuschen. Was danach geschah, wird nur angedeutet, und ihr Glück hat Elisabeth, die sich dann Betty nennt, wohl auch später nicht gefunden.


    Aber die Geschichte ist wundervoll geschrieben. Wahrscheinlich nicht jedermanns Geschmack – ich jedenfalls bin darin versunken, vor allem in den Beschreibungen aus den Kindertagen, die Wunder und Schrecknisse der Welt. Hier ein Auszug:


    „Am Ende des Ganges lag das böse Zimmer … Wenn sie eintrat, spürte Lieserl zunächst gar nichts. Sie setzte sich auf einen der überzogenen Stühle und sah die Rosskastanie vor dem Fenster und dahinter den leuchtenden Himmel. Aber nach einer gewissen Zeit hörte das Zimmer zu lächeln auf und legte seine heuchlerische Freundlichkeit ab. Aus der eisernen Truhe begann das Böse in den Raum zu sickern. Es stieg bis an die Knöchel, und Lieserl musste die Beine hochziehen … Lieserl spürte die drohenden Blicke der Kommoden im Rücken, aber sie wagte sich nicht umzudrehen, denn man durfte die Truhe nicht aus den Augen lassen. So lange man den Blick starr auf sie gerichtet hielt, konnte sie sich nicht öffnen, blieb der schwarze Deckel geschlossen über dem Grauen … Eines Tages entdeckte sie im bösen Zimmer den kleinen Schemel, den irgend jemand aus Versehen dort hingestellt hatte. Seine Farben waren verblasst vom ausgestandenen Schrecken und seine kurzen Beine zittrig geworden. Lieserl trug ihn in ihr kleines Kabinett, und dort stand er jetzt, noch gebrochen vor Furcht, aber auf dem Wege der Genesung. Sie vergaß nie, ihn vor dem Zubettgehen zu streicheln …“