Titel im Original: It´s All Right Now
Klappentext:
Tom Ripple, Export/Import, untere Mittelklasse, nicht gerade mit Charme oder intellektueller Neugier ausgestattet, nimmt uns mit von der Londoner Vorstadt in den Siebzigern nach Suffolk, zurück nach London und an die englische Ostküste, erzählt von seiner Frau, einer selbstgerechten Sozialarbeiterin, die ihn irgendwann verläßt, von seinen beiden Kindern, denen er sich entfremdet und denen er wieder näherkommt, seinen Nachbarn und Arbeitskollegen und Freunden. Sein Mundwerk ist ebenso scharf wie seine Beobachtungsgabe, und je mehr Zeit vergeht, desto stärker wächst einem dieser Tom Ripple ans Herz. Denn seine Suche nach Bedeutung in der postmodernen, absurden, unvollkommenen Welt macht ihn erst zum ganzen Menschen, und der spröde Witz, mit dem er uns an seiner Wandlung teilhaben lässt, macht seine Geschichte ganz und gar unwiderstehlich.
Meine Meinung:
Der Protagonist Tom Ripple, ein zu Beginn passiver Brite („den man als letzten in einer Menschenmenge bemerken würde“, wie er selbst sagt) mit anfänglichem Hang zu schlechten Witzen in den unpassendsten Momenten, schreibt von den 70er Jahren bis nach die Jahrtausendwende auf, was ihm im Leben so passiert, was er wahrnimmt und wen er kennenlernt, ohne sich selbst bewusst zu sein, wofür er diese Aufzeichnungen führt. Ripple ist ein völlig normaler, durchschnittlicher, eigentlich langweilig wirkender Mensch, der anfangs von seiner ihm intellektuell überlegenen Frau mit ihren hohen moralischen Ansprüchen erzählt, von den beiden gemeinsamen Kindern und dem gemächlichen Leben in der Londoner Vorstadt. Als sich seine Frau, die ihn der Beziehung das Sagen hat und die Erziehung des Nachwuchses größtenteils allein bestreitet, von ihm trennt, geschieht dies auf eine „zivilisierte Art“, wie es sich für eine moderne Sozialarbeiterin geziemt. Ripple verliert nach einem eher zufälligen Aufstieg seinen Job, geht in den vorzeitigen Ruhestand und zieht zum ersten Mal um – und erst an diesem Punkt beginnt das Buch eigentlich so richtig.
Unterteilt ist „Ein unauffälliger Mann“ in vier große Teile, wobei Tom Ripple jedes Mal umzieht und auf undramatische Art von den neuen Nachbarn erzählt, von seinem Alltagsleben, seinen Beobachtungen und der zunehmenden Selbsterkenntnis, die er allmählich gewinnt. Es ist ein absolut ungewöhnlicher Roman, den Chadwick als Debüt vorgelegt hat, ohne stringente Handlung und „lediglich“ von dem Durchschnittsleben eines gewöhnlichen Mannes erzählend. Klingt langweilig, ist aber dank des großartigen trockenen Humors und der ausgezeichneten Beobachtungsgabe ein wahrhaftiges Lesevergnügen, ausgebreitet auf über 920 Seiten, die dem Leser einiges an Sitzfleisch und Ausdauer abverlangen. Der Humor steht vor allem anfangs im Vordergrund, weicht dann allmählich einer zunehmenden Melancholie und Traurigkeit, ohne dass der Erzähler Ripple in Selbstmitleid oder Pathos abdriften würde (der Humor blitzt aber immer wieder einmal auf). Ebenso widersteht Ripple der Versuchung, bereits Geschriebenes nachträglich zu beschönigen, reflektiert sein bisheriges Leben und sich selbst und durchläuft im Laufe der Jahre eine starke Wandlung, was seine Persönlichkeit und seinen Umgang mit Menschen betrifft. Zu bemerken ist, dass die Personen, die Ripple im Lauf der 30 Jahre begegnen und die er eingehend betrachtet, nie wie fiktive Romanfiguren wirken, sondern dank ihrer individuellen Art allesamt realitätsnah sind.
Für mich war der letzte Abschnitt der beste, nicht etwa, weil das sehr umfangreiche Buch endlich zu Ende ging, sondern weil hier die Veränderung des Protagonisten am stärksten wahrzunehmen war; zugleich ist es auch der traurigste Teil des Buches (ohne jetzt näher auf den Inhalt einzugehen).
Chadwick hat 30 Jahre lang an diesem Roman geschrieben und ihn mit 72 Jahren als sein Debüt veröffentlicht – herausgekommen ist dabei die gelungene Erzählung der Lebensgeschichte eines Durchschnittsmenschen und zugleich ein Blick auf die Vielfalt der menschlichen Natur und das ewige Auf und Ab im Leben jedes einzelnen.
Ein beeindruckendes, kluges Buch.
9 Punkte