Charles Chadwick - Ein unauffälliger Mann

  • Titel im Original: It´s All Right Now


    Klappentext:


    Tom Ripple, Export/Import, untere Mittelklasse, nicht gerade mit Charme oder intellektueller Neugier ausgestattet, nimmt uns mit von der Londoner Vorstadt in den Siebzigern nach Suffolk, zurück nach London und an die englische Ostküste, erzählt von seiner Frau, einer selbstgerechten Sozialarbeiterin, die ihn irgendwann verläßt, von seinen beiden Kindern, denen er sich entfremdet und denen er wieder näherkommt, seinen Nachbarn und Arbeitskollegen und Freunden. Sein Mundwerk ist ebenso scharf wie seine Beobachtungsgabe, und je mehr Zeit vergeht, desto stärker wächst einem dieser Tom Ripple ans Herz. Denn seine Suche nach Bedeutung in der postmodernen, absurden, unvollkommenen Welt macht ihn erst zum ganzen Menschen, und der spröde Witz, mit dem er uns an seiner Wandlung teilhaben lässt, macht seine Geschichte ganz und gar unwiderstehlich.


    Meine Meinung:


    Der Protagonist Tom Ripple, ein zu Beginn passiver Brite („den man als letzten in einer Menschenmenge bemerken würde“, wie er selbst sagt) mit anfänglichem Hang zu schlechten Witzen in den unpassendsten Momenten, schreibt von den 70er Jahren bis nach die Jahrtausendwende auf, was ihm im Leben so passiert, was er wahrnimmt und wen er kennenlernt, ohne sich selbst bewusst zu sein, wofür er diese Aufzeichnungen führt. Ripple ist ein völlig normaler, durchschnittlicher, eigentlich langweilig wirkender Mensch, der anfangs von seiner ihm intellektuell überlegenen Frau mit ihren hohen moralischen Ansprüchen erzählt, von den beiden gemeinsamen Kindern und dem gemächlichen Leben in der Londoner Vorstadt. Als sich seine Frau, die ihn der Beziehung das Sagen hat und die Erziehung des Nachwuchses größtenteils allein bestreitet, von ihm trennt, geschieht dies auf eine „zivilisierte Art“, wie es sich für eine moderne Sozialarbeiterin geziemt. Ripple verliert nach einem eher zufälligen Aufstieg seinen Job, geht in den vorzeitigen Ruhestand und zieht zum ersten Mal um – und erst an diesem Punkt beginnt das Buch eigentlich so richtig.


    Unterteilt ist „Ein unauffälliger Mann“ in vier große Teile, wobei Tom Ripple jedes Mal umzieht und auf undramatische Art von den neuen Nachbarn erzählt, von seinem Alltagsleben, seinen Beobachtungen und der zunehmenden Selbsterkenntnis, die er allmählich gewinnt. Es ist ein absolut ungewöhnlicher Roman, den Chadwick als Debüt vorgelegt hat, ohne stringente Handlung und „lediglich“ von dem Durchschnittsleben eines gewöhnlichen Mannes erzählend. Klingt langweilig, ist aber dank des großartigen trockenen Humors und der ausgezeichneten Beobachtungsgabe ein wahrhaftiges Lesevergnügen, ausgebreitet auf über 920 Seiten, die dem Leser einiges an Sitzfleisch und Ausdauer abverlangen. Der Humor steht vor allem anfangs im Vordergrund, weicht dann allmählich einer zunehmenden Melancholie und Traurigkeit, ohne dass der Erzähler Ripple in Selbstmitleid oder Pathos abdriften würde (der Humor blitzt aber immer wieder einmal auf). Ebenso widersteht Ripple der Versuchung, bereits Geschriebenes nachträglich zu beschönigen, reflektiert sein bisheriges Leben und sich selbst und durchläuft im Laufe der Jahre eine starke Wandlung, was seine Persönlichkeit und seinen Umgang mit Menschen betrifft. Zu bemerken ist, dass die Personen, die Ripple im Lauf der 30 Jahre begegnen und die er eingehend betrachtet, nie wie fiktive Romanfiguren wirken, sondern dank ihrer individuellen Art allesamt realitätsnah sind.


    Für mich war der letzte Abschnitt der beste, nicht etwa, weil das sehr umfangreiche Buch endlich zu Ende ging, sondern weil hier die Veränderung des Protagonisten am stärksten wahrzunehmen war; zugleich ist es auch der traurigste Teil des Buches (ohne jetzt näher auf den Inhalt einzugehen).
    Chadwick hat 30 Jahre lang an diesem Roman geschrieben und ihn mit 72 Jahren als sein Debüt veröffentlicht – herausgekommen ist dabei die gelungene Erzählung der Lebensgeschichte eines Durchschnittsmenschen und zugleich ein Blick auf die Vielfalt der menschlichen Natur und das ewige Auf und Ab im Leben jedes einzelnen.
    Ein beeindruckendes, kluges Buch.


    9 Punkte

  • Ich habe das Buch vor ein paar Wochen gelesen und fand es ehrlich gesagt nicht ganz so gut. Man muss schon sehr ausdauernd und geduldig sein, wenn man das Buch lesen (und gut finden) will - denn teilweise gibt es wirklich kaum Handlung. Das stört mich im Allgemeinen eigentlich schon relativ wenig (kurz gesagt: Bin kein Krimileser, der aller 3 Seiten einen Mord erwartet o.Ä.), aber in dem Buch ist es schon sehr auffällig.
    Wie mankell bereits erwähnte, ist das Buch dafür wirklich realitätsnah - was man ja von den meisten anderen Büchern nicht gerade behaupten kann.


    Von mir würde es wohl 7-8 Punkte bekommen.

    "Es gibt einen Fluch, der lautet: Mögest du in interessanten Zeiten leben!" [Echt zauberhaft - Terry Pratchett]

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von saz ()

  • Ich lese dieses Buch derzeit ebenfalls, allerdings nur, wenn ich in der richtigen Laune dazu bin.
    Tom Ripple ist genial, keine Frage. Wie er über alltägliche Dinge sinniert und vor allem, wie treffend er die Dinge anspricht, finde ich gelungen. Ich amüsiere mich sehr über seine Ausschweifungen, besonders in Bezug auf seine Frau, die er mit distanziertem Respekt beschreibt, manchmal ein bisschen ins Lächerliche zieht, aber nicht über die Grenzen der guten Manier hinausgehend. Oder eben doch, das aber auf eine so diplomatische Art und Weise, dass man es ihm nicht als Vorsatz vorwerfen könnte. Kommt einfach darauf an, was man in seine Worte hinein interpretiert... :-)


    Aber ich habe auch meine Schwierigkeiten, das Buch an einem Stück zu lesen, da ich es nicht immer genießen kann. Wie saz schon schreibt, fehlt die konkrete Handlung, also ein Aspekt, auf den die Geschichte hinaus laufen soll. In unruhigen Phasen fehlt mir dann die Geduld mich einfach nur auf die (sehr gelungenen Beschreibungen) von Tom Ripple einzulassen.
    Allerdings kann man dieses Buch jederzeit unterbrechen und jederzeit auch weiterlesen. Ich denke, Chadwick hat dreißig Jahre gebraucht um das Ding zu schreiben und ich werde wahrscheinlich dreißig Jahre brauchen, um es zu lesen. :lache

  • Wie weit bist du denn, SueTown? Ich fand den letzten, also den 4. Teil am leichtesten zu lesen (und - wie bereits erwähnt - auch am ansprechendsten), da konnte ich auch mal 60 Seiten am Stück ohne Pause lesen. Am anstrengendsten kam mir der 3. Teil vor, nur so als Warnung.

  • Oh je, dann kommt das mit den dreißig Jahren wahrscheinlich wirklich hin :grin.
    Ich bin bei Kapitel 10 (ca. Seite 150), habe also noch eine ganze Strecke vor mir. Die letzten 100 Seiten habe ich aber recht schnell gelesen.
    Ich bin gespannt, ob ich den dritten Teil auch als anstrengend empfinde. "Zäh" kann man, wie ich finde, nicht sagen bei diesem Stil. Es ist ja nicht langweilig, nur manchmal schwierig die Sätze so aufzunehmen, dass sie auch entsprechend im Kopf ankommen. Mich darf da nichts ablenken, sonst lese ich einfach ohne mitzubekommen, was ich da gelesen habe - wenn du verstehst, was ich meine. :grin

  • Zitat

    Original von SueTown
    Mich darf da nichts ablenken, sonst lese ich einfach ohne mitzubekommen, was ich da gelesen habe - wenn du verstehst, was ich meine. :grin


    Verstehe ich durchaus, ich mußte viele, viele kleine Pausen einlegen und hatte einen erstaunlichen Kaffee- und Zigarettenkonsum in den letzten Tagen. ;-) "Anstrengend" war vielleicht ein zu hartes Wort, mir gefiel der 3. Teil ganz einfach nicht soo gut wie die übrigen. Aber das ist natürlich eine subjektive Sichtweise.