Bei Amazon gibt es kein Bild zum Buch, keine Kurzbeschreibung, kein Autorenportrait...dafür aber eine ganz grossartige Rezension, die die Meinige grad ganz gehörig in den Schatten stellt.
Klappentext:
Piero Bianconi darf als der beste Tessiner Schriftsteller seiner Generation bezeichnet werden, schrieb Giovanni Orelli in der "Weltwoche". Er empfiehlt sein Buch für alle jene Leser, die das wahre Tessin kennenlernen wollen.
Die "Neue Zürcher Zeitung" schrieb: "Bianconi hat mit diesem Buch im Sinne Prousts eine ergreifende Dichtung über Gegenwart und Erinnerung geschrieben."
Ja, Vergangenheit und Gegenwart sind das Thema dieses Buches. Familiengeschichten, wenn man so will, aber welch eine Welt wird sichtbar in den Schicksalen der jungen Tessiner, die, vor und nach der Jahrhundertwende, auszogen das Glück zu finden, angezogen von den magischen Namen Australien und Kalifornien und von der Hoffnung auf Gold und Wohlstand. Aber fast keinem lachte das Glück, nur wenigen wurde die Fremde zur Heimat.
Erschütternd die Briefe, die über den Ozean hin und her gingen. Warnend und beschwörend die Berichte der Heimgekehrten, die dennoch nicht verhindern konnten, dass die Jugend weiterhin die Armut und Kargheit ihrer Dörfer floh, um das Abenteuer zu suchen.
Bianconi schreibt diese Geschichte eines Dorfes, eines Tales, einer Familie stellvertretend für viele Tessiner Bergdörfer und zugleich eine zeitgeschichtlich und menschlich bedeutsame Chronik, die sich wie ein Roman liest - nur dass das wahre Leben dahintersteht.
Der Autor:
Ich finde nirgends eine Kurzbiografie über ihn in Deutsch. HIER gehts zur Wikipedia-Seite...in italiano, mi dispiace! Man kann aber die Seite übersetzen lassen, kommt halt bisschen ein Durcheinander dabei raus.
Eigene Meinung
Der Kanton Tessin war einst eine der ärmsten Gegenden der Schweiz. Vor allem in den Tälern war das Leben unvorstellbar hart. Die steilen Hänge, der karge Boden konnte seine Bewohner nicht ernähren. Noch bis ins letzte Jahrhundert hinein starben Kinder an Unterernährung, das muss man sich mal vorstellen, es sind gerade erst 100 Jahre seither vergangen.
Die jungen Leute waren gezwungen auszuwandern. Meist waren das Männer, aber es gab auch Frauen, die sich auf den Weg in die Fremde machten. Manche suchten irgend ein Land in Europa auf, aber es gingen auch ganz viele nach Uebersee.
Einige Tessiner Schriftsteller haben diese Vergangenheit literarisch verarbeitet, aber keiner von ihnen hatte vermutlich eine derart reiche Fülle an Dokumenten zur Verfügung wie Piero Bianconi. Seine Vorfahren haben die allermeisten Briefe und andere Schriftstücke fein säuberlich aufbewahrt. Briefe die hin- und hergingen zwischen den Ausgewanderten und den Daheimgebliebenen. Einige der Ausgewanderten brachten jene Briefe sogar mit, die sie aus der Heimat erhalten haben, wenn sie nach Jahren wieder zurückkehrten.
Somit konnte Piero Bianconi die Wege der Emigration seiner Vorfahren weit zurückverfolgen und eine beinahe lückenlose Chronik seiner Familie mütterlicherseits zusammenstellen. Und diese seine Familiengeschichte steht stellvertretend für viele Hunderte ja Tausende anderer Tessiner Familien, welche von Auswanderung betroffen waren. Es gab ganze Talschaften in deren Dörfer nur noch Frauen, Kinder und alte Leute anzutreffen waren.
Unter den Vorfahren Bianconis hebt sich vor allem eine Pesönlichkeit ganz markant hervor. Es ist dies sein Grossvater, Giacomo Rusconi, der aufgrund seiner roten Haare, seines roten Bartes von allen „Barbarossa“ genannt wurde.
Barbarossa hat sich zuerst einmal verheiratet, 5 Kinder gezeugt und ist dann im Alter von 36 Jahren für 7 Jahre nach Kalifornien ausgewandert, von 1867- 1874.
Er war des Schreibens sehr gewandt, seine Briefe sind sehr reichhaltig. Er übte in den Jahren vor seiner Auswanderung und später, nach seiner Rückkehr auch wieder, mancherlei Aemter aus, auch das des Sindaco (Gemeindeammann). Es ist sowieso ganz erstaunlich, wie wortgewandt die allermeisten aus dieser Familie sich in ihren Briefen ausdrücken konnten.
Man berichtete sich gegenseitig von grossen und kleinen Sorgen, von Todesfällen und sonstigen Ereignissen. Man ermahnte und ermunterte einander, man teilte Ratschläge aus, kritisierte einander oft auch wegen irgendwelchen Bemerkungen in vorangegangenen Briefen…. Barbarossa schreibt manchmal von länger andauernden Zeiten der Arbeitslosigkeit und dass es ihm daher unmöglich sei, Geld nach Hause zu schicken.
Wenn er Geld schicken kann, dann schreibt er genau auf, wofür dieses Geld ausgegeben werden soll.
So schickt er auch im Sept. 1869 seinen Verdienst nach Hause und schreibt dazu: „Gebt ihn – obwohl er ein Geschenk ist – vernünftig aus, denn er kostet mich viel Schweiss. Kauft den Kindern Schuhwerk und schickt sie zur Schule. Und Ihr, Mutter, kauft Euch von dem kleinen Geschenk ein Pfund Brot zu Eurem eigenen Bedarf.“ Oder: „Ich sende Euch ein Geschenk. Kauft einen halben Scheffel Reis und für fünf Franken Weissbrot, und dann kocht Euch eine gute Mahlzeit und trinkt Wein dazu. Ihr habt mich wissen lassen, dass Ihr viel Wein bekommen habt. So seid denn fröhlich miteinander.“
Barbarossas Briefe sind über all die Jahre geprägt von verantwortungs- und liebevoller Fürsorge für seine Familie. Doch als er dann nach 7 Jahren wieder nach Hause zurückkehrt, da weht sehr bald ein ganz anderer Wind. Er zeigt sich herrisch und unerbittlich und bis an sein Lebenende war er verbissen aufs Sparen bedacht.
Sein erstgeborenes Kind, die Tochter Margherita, ist die Mutter des Autors. Er schreibt dazu: „Sie erzählte oft von jener Zeit: Wenn sie den Klang der genagelten Schuhe des Vaters auf den Stufen des Gässchens hörten, hätten alle gefühlt, wie ihnen das Wort im Mund gefror, die Kinder sowohl wie auch die Frau und die alte Mutter. Tödliches Schweigen fiel über die dunkle Küche. Alle senkten die Blicke. Und wenn Barbarossa nicht fluchte, war die Stille noch grausamer.“
Bianconi zieht in diesem Buch einen weiten Bogen ausgehend von seinen Vorfahren, insbesondere den Auswanderern, über sein eigenes Leben - er musste nicht mehr auswandern, konnte sogar studieren - bis hin zu seinem Sohn, der Geologe ist und der an jenem Staudamm-Bau mitgearbeitet hat, der das Wasser der Verzasca auffing, und welches dann den Weiler Tropino unter sich begrub, dort wo in einem der Ställe einst die Mutter des Autors geboren wurde. Piero Bianconi ist nach dem Bau der Mauer immer wieder hochgegangen ins Verzsasca-Tal und hat mitverfolgt, wie das gestaute Wasser immer höher und höher anstieg, nach und nach die Häuser seiner Vorfahren überspühlte, und wie deren einstige Heimat langsam von der Bildfläche verschwand. Er schreibt dazu: „In einem jener Ställe, die sich im Wasser spiegeln, wurde vor mehr als einem Jahrhundert meine Mutter geboren. Ich weiss nicht, war es in dem jetzt noch unberührten oder in dem schon des Daches beraubten, oder in dem, den eben jetzt die Fluten bespülen. Und sie wurde dort unter Verhältnissen geboren, die man nicht zu schildern wagt, denn niemand würde einem glauben.“ HIER gibt es ein Foto, welches anschaulich die Staumauer, den See und das Tal zeigt.
Ein sehr beeindruckendes Buch in mancherlei Hinsicht. Grossartig auch die Personenbeschreibungen, es gelingt dem Autor meisterhaft, uns die verschiedenen Charaktere nahezubringen, man sieht sie geradezu vor sich. Er resümiert auch überaus selbstkristisch über seine eigenen charakterlichen Eigenheiten, ob und wie sehr ihn selber die Lebens- und Denkweisen seiner Vorfahren geprägt haben könnten.
Es entstehen auch ganz lebendige Bilder vor unserem geistigen Auge von Szenerien des damaligen Lebens, der bäuerlichen Arbeit, des häuslichen Lebens, des Betriebes auf den Strassen: die Ochsenkarren die bei längerem Regen im tiefen Matsch steckenblieben, all die Händler und HAndwerker (die Pfannen- und Kesselflicker z.B) die zu Fuss mit ihrem kleinen Handkarren unterwegs waren auf ihrer Suche nach Arbeit. Bäuerinnen, die in der GERLA ihre Ware auf den Markt in Locarno brachten..…. Bilder einer längst versunkenen Zeit.