Kürzere Tage - Anna Katharina Hahn

  • Kurzbeschreibung ( von www.amazon.de ):
    Marco wohnt im Hochhaus an der Hauptstraße. Von hier ist es nicht weit bis zum Olgaeck, und hinter dem Olgaeck liegt die Constantinstraße, wo die Altbauten unter Denkmalschutz stehen und die Äpfel beim türkischen Feinkosthändler teurer sind als im Hauptbahnhof. Hier wohnen die Aufsteiger, Übermütter und ihre wohlerzogenen Kinder. Hier scheint alles in Ordnung - wenn man nicht vom Supermarkt ins Büro und vom Büro in den Kindergarten hetzt, so wie Leonie, wenn man nicht am Doppelleben als Karrierefrau und Mutter verzweifelt. Judith findet Halt in der Anthroposophie. Hingebungsvoll pflegt sie den Jahreszeitentisch für ihre Kleinen. Doch nachts helfen nur Tabletten gegen die Angst. Im Nebenhaus wohnen die alten Posselts. Sie haben geschafft, wovon die Enkelgeneration nur träumt, nämlich ein Leben lang zusammenzubleiben. Da versetzt Marco die Nachbarschaft in Aufruhr. Kürzere Tage ist eine wortmächtige Bestandsaufnahme und eine melancholische Abrechnung mit einer Gesellschaft, in der alle Werte fragwürdig geworden sind.
    Wohlstand und Aussichtslosigkeit, Eurythmie und Hysterie, Elternglück und Kinderleid. Virtuos schildert Anna Katharina Hahn das satte Stuttgart von einer anderen Seite.


    Die Autorin: Anna Katharina Hahn


    Meine Meinung:
    Hier spricht jemand deutliche Worte. Schonungslos und ohne jede Schönfärberei. "Kürzere Tage" ist ein von Realismus geprägtes Abbild von beispielhaft ausgewählten Personen einer Großstadt ( Stuttgart ). Diese leben räumlich eng beieinander könnten aber unterschiedlicher nicht sein. Ihr Leben berührt sich in der täglichen Routine, aber keiner kennt den anderen oder hat näheren Kontakt. Am Schluss kommt es dennoch zu einer quasi "Zusammenführung oder Verwicklung" der einzelnen Personen, jeder macht schmerzhafte Erfahrungen - und danach verlässt der Leser diese wieder. Irgendwie ist es auch ziemlich klar, wie alles weitergehen wird.
    Sehr berührend fand ich die Geschichte des alten Ehepaares.


    Man ist schnell dabei, diese Menschen zu bemitleiden oder zu denken, "zum Glück bin ich nicht so" - aber es kann nichts schaden, ein bisschen weiter zu denken und hinter die eigene Fassade zu blicken.


    Ein gutes Buch, kein leichtes Buch - aber ein gutes.


    9 von 10 Punkten.

  • Danke für die Rezi, Rosenstolz. Interessant, bisher hatte ich nur negatives über das Buch gelesen.


    edit: sorry, Du hattest das mit dem TB schon geschrieben.

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

    alles zurück - Anfang

    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Sigrid2110 ()

  • Zitat

    Original von Sigrid2110
    Danke für die Rezi, Rosenstolz. Interessant, bisher hatte ich nur negatives über das Buch gelesen.


    Echt? Die Rezensionen bei amazon sind aber z.B. überwiegend positiv.
    Und bei den "Vorlesern" wurde das Buch ja glaube ich in der ersten Sendung auch schon vorgestellt. :-)

  • Zitat

    Original von Sigrid2110
    Es wurde aber von zwei Eulen hier schon im "Ich habe abgebrochen...."-thread gepostet. Deshalb dachte ich, es taugt wohl doch nichts.


    Ich habe dort zwar nicht gepostet (glaube ich), aber ich habe den Roman auch sehr schell abgebrochen. War mir irgendwie zu... gewöhnlich?

  • Zitat

    Original von Googol


    Ich habe dort zwar nicht gepostet (glaube ich), aber ich habe den Roman auch sehr schell abgebrochen. War mir irgendwie zu... gewöhnlich?


    Ach so............. :lache
    Na ja, gewöhnlich fand ich das Buch ( ein Roman ist es eigentlich nicht ) ganz sicher nicht. ;-)


    Aber jeder kann sich ja, zum Glück, seine eigene Meinung bilden. :-)

  • Zitat

    Original von Sigrid2110
    Es wurde aber von zwei Eulen hier schon im "Ich habe abgebrochen...."-thread gepostet. Deshalb dachte ich, es taugt wohl doch nichts.


    Aber als TB dann......



    Ich war jetzt mal neugierig: chiclana habe ich gefunden, sie hat das Buch abgebrochen.
    Aber ich lasse mich vom "abgebrochen-Thread" eigentlich nie beeinflussen, es wurden schon soviele Bücher abgebrochen, die mir gut gefallen haben.......da hätte ich schon einiges verpasst. ;-)

  • @ Rosenstolz: da hast Du sicher Recht. Nach Deiner Rezi habe ich nun auch wieder Hoffnung.....und warte auf Februar :-).


    (Der zweite Abbruch war von einer derzeit nicht aktiven Eule, die mir auch schrieb warum - so was ähnliches wie Googol)

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

    alles zurück - Anfang

    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

  • Gleich vorneweg: Es handelt sich nicht um einen Roman im klassischen Sinne. Ich würde es eher eine Beobachtung von Menschen, eine Momentaufnahme des Lebens betrachten.


    Und genau das hat mich ungemein an diesem Buch fasziniert. Die Autorin versteht es, ihre Figuren lebendig und echt darzustellen. Man will mehr über sie wissen, man will wissen, welchen Weg ihre Leben nehmen werden.


    Das Können der Autorin lässt sich am besten mit einer Textstelle ausdrücken. Es ist gleich der Anfang und der hat mich sofort in das Buch gezogen:


    Zitat

    Judith rauchte hastig, mit dem Rücken gegen die Wohnungstür gelehnt. Sie läßt den Rauch tief in ihre Brust einströmen und atmet ihn durch die Nasenflügel wieder aus. Das Verlangen nach einer Zigarette, schlimmer als der Druck einer vollen Blase, beherrscht schon den ganzen Tag. Am Morgen waren die Kinder zu ihr ins Bett geschlüpft, bevor sie sich hinausschleichen konnte, um auf dem Küchenbalkon zu rauchen. Viel zu lange mußte sie auf eine günstige Gelegenheit warten. Das steinerne Gesicht, mit dem sie Tee gekocht, Müsli in Schalen gefüllt, Obst geschnitten und selbst nur an ihrer Tasse genippt hatte, kennt die Familie schon. "Die Mama ist manchmal ein Morgenmuffel", bemerkte der fünfjährige Uli. Judith macht einen inbrünstigen Lungenzug und stellt sich vor, wie sich die bläulichen Schwaden mit ihrem Blut vermischen und zum Herzen ziehen, es einhüllen und ruhiger schlagen lassen. Die Gier ebbt langsam ab, sie hat wieder Augen und Ohren für ihre Umgebung und beginnt sich zu schämen.


    Bis zur Hälfte des Buches beschreibt die Autorin abwechselnd zwei Frauen, Judith und Leonie, deren Namen die jeweiligen Kapitelüberschriften sind. Beide Frauen haben kleine Kinder in etwa demselben Alter.


    Judith scheint die Bilderbuchmutter zu sein, die nicht arbeiten geht, die sehr auf die Ernährung achtet, ihre Kinder in den Waldorfkindergarten schickt und die keinen Fernseher in der Wohnung duldet. Doch der Leser erfährt auch noch eine ganz andere Seite an dieser Frau.


    Leonie wohnt im Haus gegenüber und betrachtet oft heimlich die Familienidylle von Judith. Leonies Mann will beruflich nach oben, ist selten zu Hause und auch sie geht arbeiten. Das schlechte Gewissen wegen ihrer zwei Mädchen ist ständig präsent.


    Als Nebenfiguren tauchen in den Erzählungen Marco und Luise auf, denen später auch selbst eigene Kapitel gewidmet werden. Marco ist ein dreizehnjähriger Draufgänger und man erfährt, dass er aus einem schwierigen Umfeld kommt. Er will sich daraus befreien.


    Luise ist über achtzig und wohnt mit ihrem Mann, dem schönen Wenzel, im gleichen Haus wie Judith. Man erfährt, wie sie Wenzel kennengelernt hat, warum sie ihn immer noch liebt.


    Was zunächst nur lose aneinandergereihte Erzählungen sind, bekommen zunehmend mehr Berührungspunkte, die Personen haben miteinander zu tun. Allerdings bleiben die Lebensgeschichten offen, man erfährt nicht, wie es "ausgeht". Man hat die Personen ein Stück weit begleitet und den weiteren Weg machen sie ohne uns Leser.


    Sprachlich empfinde ich den Roman als Juwel. Die Autorin ist eine sehr genaue Beobachterin und sie trifft den jeweils richtigen Ton.

  • Judith und Leonie wohnen mit ihren Familien in gegenüberliegenden Häuser. Beider Leben unterscheiden sich grundlegend – während Judith Nur-Hausfrau ist, ihre Kinder einen Waldorf-Kindergarten besuchen und ihr Mann sich Zeit für die Familie nimmt, geht Leonie arbeiten, ihre Kinder besuchen den Kindergarten, in dem sie einen Platz bekommen haben, egal, wie das pädagogische Konzept aussieht, und ihr Mann schiebt eine Überstunde nach der anderen. Unter Judith lebt das Ehepaar Posselt, beide über 80 und immer noch glücklich miteinander. Im selben Viertel, aber unter ganz anderen Umständen, lebt Marco, knappe 13 Jahre alt, bei seiner alleinerziehenden Mutter und ihrem gewalttätigen Freund.


    Der Roman schaut hinter die Fassaden und lässt uns das Leben der Protagonisten hautnah miterleben. Das geht mitunter unter die Haut, macht nachdenklich und bleibt auch nach dem Lesen noch lange haften. Jeder hat hier sein Päckchen zu tragen und hinter der Fassade sieht es oft ganz anders aus. Die Perspektiven der Erzählung wechseln, man erfährt viel über das bisherige Leben der Protagonisten und darüber, wie sie sich selbst sehen, und, da sie sich alle untereinander kennen, auch, wie jeder die Anderen wahrnimmt. Das ist sehr interessant und als Leser hinterfragt man womöglich eigene Gedankengänge.


    Mich hat der Roman mit jeder Seite mehr gepackt, ich bin regelrecht darin versunken und habe eine zunehmende Spannung empfunden. Dass der Roman dann sehr offen endet, empfand ich nur kurz als ärgerlich, immerhin gibt es mir so weitere Möglichkeiten nachzudenken.


    Mir hat es übrigens auch sehr gefallen, dass der Roman in Stuttgart spielt und man das sprachlich auch merken kann. Für jemand, der keine Beziehung zu diesem Ort oder der Gegend hat, könnte das aber etwas störend wirken. Anna Katharina Hahns Erzählstil, vor allem der Präsens, macht die Erzählung noch eindringlicher, ich habe teilweise fast atemlos gelesen. Das Coverbild, die Sprünge im Stuck, ist meiner Meinung nach sehr passend gewählt, das wird einem aber erst nach der Lektüre bewusst.


    Insgesamt ein Buch, das bei mir noch lange nachwirken wird und das ich gerne empfehlen. Wer einfach nur eine kurzweilige, unterhaltsame Lektüre sucht, ist hier aber wohl fehl am Platz.