Josef Winkler: Natura morta - Eine römische Novelle
Suhrkamp Taschenbuch 3575; 102 Seiten
ISBN: 978-3-518-45575-3
Zum Autor
Josef Winkler, geb. 1953, ist ein österreichischer Schriftsteller. 2008 erhielt er den Georg-Büchner-Preis, die wohl bedeutendste Auszeichnung der deutschsprachigen Literatur, zugesprochen.
Klappentext
„Feigen, frische Feigen!“ ruft vor den Toren des Vatikans eine dicke Römerin neben einem kahlgeschorenen Mann, der ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Mafia. Made in Italy“ trägt und auf einem Stab einen kleinen Plastiknegerkopf in die Höhe hält, den er den vorbeigehenden Pilgern zeigt. Aufdringlich, nahezu überwältigend fühlbar, riechbar, hör- und sehbar beschreibt Josef Winkler in seiner römischen Novelle die Stadt, wo sie am lebendigsten ist: wochentags das Markttreiben auf der Piazza Vittorio Emanuele; sonntags das Warten und Lungern vor dem Vatikan. […]
Kurzbeschreibung
Mit dem in sechs Kapitel eingeteilten Buch beschreibt der Autor eine kurze Zeit im Leben des sechszehnjährigen Piccoletto, dem Sohn der Feigenverkäuferin, die mit dessen Tod endet. Grundsätzlich stellt der Tod eines jungen Menschen in der Literatur nichts Ungewöhnliches dar, wäre da nicht die Art und Weise, wie Josef Winkler dies in Worte zu kleiden versteht. Mit einer Eskalation der sinnlichen Eindrücke auf allen Ebenen schafft Winkler eine so dichte Atmosphäre, dass man dazu neigt, den Lärm und die Gerüche des Marktes auf der Piazza Vittorio, wo er den Großteil seiner Novelle angesiedelt hat, wahrzunehmen. Die Beschreibung jeder einzelnen Handlung ist so sorgfältig ausgeführt, dass man beim Lesen förmlich die Anstrengung des Autors spürt, die er dabei empfunden haben muss. Überhaupt besteht das Buch in weiten Teilen aus Handlungen oder Beschreibungen, die mit der Sterblichkeit in seiner ungeschminkten Vielfalt daherkommen. Der Tod ist direkt oder indirekt allgegenwärtig: Im Abfallhaufen des Fleischers, in den herumliegenden Geflügeleingeweiden, über die Piccoletto mit seinem Motorroller fährt, an dem verfaulenden Obst und Gemüse, das über dem Boden verstreut liegt. Ein Beispiel gleich zu Beginn:
„Ein Macellaio auf der Piazza Vittorio, der über seine rechte Hand einen weißen Chirugenhandschuh gestreift hatte, an seiner Linken zwei breite Goldringe und am Handgelenk eine goldene Uhr trug, brach den bereits mit einem Hackbeil gespalteten, enthäuteten Kopf eines Schafs auseinander, nahm das Gehirn aus dem Schädel und legte die beiden Gehirnteile sorgfältig nebeneinander auf ein rosarotes Fettpapier mit Wasserzeichen. Im silberglänzenden rechten Augenhöhlenknochen - die herausgeschälten Augäpfel lagen auf dem Fleischabfallhaufen - lief eine violett schimmernde Fliege.“
Dieser kleine Absatz soll stellvertretend für den Inhalt, aber auch den Schreibstil Winklers, herhalten, der keine noch so kleine Ausmalung einer Szene versäumt, wenn diese Ausmalung zu dem Gesamtbild beiträgt. Einen Schlachter weiße Chirugenhandschuhe tragen zu lassen macht nur dann Sinn, wenn der Autor damit etwas aussagen will: Vielleicht, dass wir alle nur Schlachtvieh sind? Diesen Eindruck kann man sehr leicht gewinnen, folgt man dem Autor bis zum tragischen Unfalltod des schönen Piccoletto, der um so tragischer scheint, hat dieser doch gerade erst damit begonnen, seine Sexualität zu entdecken, die Winkler geschickt in die Erzählung eingebaut hat, ohne dabei ins Klischeehafte abzurutschen.
Meine Meinung
Obwohl Winkler gelegentlich Sätze gemessen in Marathonlängen daher laufen lässt, erschafft er damit eine Stimmung, die seines Gleichen sucht, kurz, Winkler beherrscht die deutsche Sprache auf einem hohen Niveau. Dieser hohe Stil verlangt seine Zeit, um sich in ihn hineinzufinden. Hat man dies jedoch nach wenigen Seiten geschafft, erliegt man geradezu seinen Ausführungen. Gerade deswegen empfand ich die recht häufigen italienischen Einschiebungen als störend, da mich das Nachschlagen regelmäßig aus dem Lesen herausgeworfen hat.
Natura morta halte ich für ein überaus lesenswertes Buch, über das Marcel Reich-Ranicki schrieb: „Fabelhaft. Eine große poetische Etüde über die Vergänglichkeit des Daseins. Ein sehr sinnliches Buch.“ Was kann ich dem noch hinzufügen …
Mit vielen Grüßen
Dieter Ziegler