'Roman eines Schicksallosen' - Seiten 001 - 086

  • Ich habe gestern mit dem Buch angefangen und bin schon in der Handlung "gefangen" - schreibe später mehr.


    Jetzt rätsele ich nur, was das Buchcover aussagen möchte.
    Vielleicht kann da jemand helfen?


    :wave

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Conor , schwer zu sagen. Ich könnte es mir so vorstellen:
    wenn ein Vogel zum Beispiel Hoffnung vermittelt, ist ein toter Vogel möglicherweise ein Symbol für das Gegenteil.


    Die Ausgabe, die ich jetzt lese, hat ein anderes Cover, dass vermutlich auf die Transporte hindeutet.


    Roman eines Schicksalslosen habe ich bereits vor Jahren schon einmal flüchtig gelesen.
    Er galt mit seiner Neuübersetzung Mitte der 90ziger Jahre als innovativ und ist dies meiner Einschätzung nach immer noch


    Holocaust-Literatur hatte zuvor entweder sehr sachlich zu sein, oder im Falle einer literarischen Erhöhung schwer und getragen.
    Kertesz Roman ist anders.

  • Conor
    eine Erklärung für das Titelbild habe ich nicht, aber was Herr Palomar sagt, nämlich Hoffnung vermitteln bzw. das Gegenteil könnte ja in diesem Fall zutreffen. Was ich allemal interessant finde, ist das Ei auf dem der Kopf aufgestützt ist.


    Ich lese diese Ausgabe hier, mit dem Selbstporträt mit Judenpass (um 1943) von Felix Nussbaum als Titelbild.


    Bisher auf jeden Fall sehr beeindruckend.

    Herzlichst, FrauWilli
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    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

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  • Der Blickwinkel des jungen Erzählers ist so ungewöhnlich. Er beschreibt die Ereignisse, wie er sie spontan empfand, unaufgeregt, ohne direkt zu urteilen. Hinzu kommt seine Ausführlichkeit.
    Bei aller Naivität eines Kindes besitzt er eine Hellsichtigkeit um Vorgänge zu durchschauen.


    Auf Seite 15 fällt der Abschnitt auf, wie er die Verkäufer in dem Geschäft betrachtet, in dem man gelbe Sterne kaufen kann.

    Zitat

    „Ich habe bemerkt, dass ihnen das eigene Produkt selbst auf der Brust prangte. Und das war, als würden sie es nur tragen, um die Käufer zu animieren.“


    Danach fällt ihm in der Bäckerei der Brotbetrug auf (Seite 17). Er verurteilt nicht, sondern kann den Hass des Bäckers rational erklären. Der Bäcker muss die Juden gezwungenermaßen hassen, um seinen gemeinen Betrug zu rechtfertigen.


    Seite 18 noch einmal der gelbe Stern. Ihm gefällt ein Mädchen, bewundert ihren Busen, aber auch da sind der gelbe Stern und dessen Aussage der Ausgrenzung der Juden allgegenwärtig.

  • Danke für die Erklärung, Herr Palomar :-)
    Und das Ei steht dann eventuell für Wiedergeburt, was meint ihr?


    Ich habe mal gegoogelt: Das Traumsymbol Ei


    aber vielleicht auch zuweit hergeholt :gruebel


    Stimmt, der Blickwinkel des Erzählers ist ungewöhnlich - auch so distanziert, er berichtet von den Vorgängen - und gut beobachtet.

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    Virginia Woolf

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  • Zitat

    Original von Conor
    Stimmt, der Blickwinkel des Erzählers ist ungewöhnlich - auch so distanziert, er berichtet von den Vorgängen - und gut beobachtet.


    Ein weiteres Beispiel in Kapitel 2 mit der Feststellung, die Zwangsarbeit sei "nicht so schlimm", und mit den anderen Jungs zusammen fast ein Vergnügen. Hier wird auch deutlich, dass in seinem Erzählen das Vorauswissen der folgenden Ereignisse ausgeblendet ist.

  • Stimmt!


    Und wie er mit den anderen Jungen in Ausschwitz ankommt, sieht er Sträflinge und fragt sich, was für Vergehen diese wohl begangen haben.
    Er realisiert gar nicht wirklich, was ihm geschieht und dass er auch ein Sträfling ist.
    (S.94)

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    Virginia Woolf

  • Gehört schon in den 2. Teil :bonk -

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  • Stimmt -und man soll hinnehmen, was "Gott für uns beschlossen hat" (S.35)
    Da könnte man glauben, dass sie nicht wissen, was auf sie zukommt.

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  • Das Hinnehmen ist eine verständliche Alternative wo Widerstand zwecklos ist.
    Es wurde immer viel behauptet, dass es kaum jüdischen Widerstand gegen die Depotationen gab.
    Allerdings hat die neuere Holocaustforschung auch andere Erkenntnisse:
    http://de.wikipedia.org/wiki/H…J.C3.BCdischer_Widerstand


    Für die Familie ist es auch finanziell schlimm, dass die Stiefmutter jetzt, wo der Vater im Arbeitslager ist, auf behördlicher Anordnung den Laden schließen musste.
    Her Sütö ist einer der wenigen, der mit Lebensmitteln, vermutlich vom Schwarzmarkt, hilft.


    Hinzu kommt, dass György als Scheidungskind sich auch zwischen Mutter und Stiefmutter hin- und hergerissen fühlt. Man kann ihn wegen seiner Treue zur Stiefmutter bewundern, obgleich er es bedauert, nicht bei der Mutter bleiben zu können. Aber er hat Pflichtbewusstsein.


    Im Übrigen ist das Buch so detailreich, dass mir praktisch auf jeder Seite etwas Bemerkenswertes auffällt, über das es sich lohnt, nachzudenken.

  • Zitat

    Original von Herr Palomar


    Im Übrigen ist das Buch so detailreich, dass mir praktisch auf jeder Seite etwas Bemerkenswertes auffällt, über das es sich lohnt, nachzudenken.


    In der Tat.


    Welche Unbedarftheit als die Jungen zur Fabrik fahren wollten und alle Juden gebeten wurden auszusteigen.
    Beinahe hat es sich wie ein Spiel angefühlt, als die anderen Jungen lachend die Böschung heraufkamen.
    Und der Polizist wohl genauso besorgt schien wie die Jungs selber, weil keiner so recht wußte wie es jetzt wohl weiter geht.


    Gerade diese leisen Töne und die Unbekümmertheit des Jungen bewegen mich sehr.


    Edit: Wobei ich glaube der Polizist wußte es wahrscheinlich sehr genau wie es weitergeht, hat den Jungs aber dieses unbekümmerte Gefühl gegeben.
    Eine solche Situation muss man sich mal vorstellen!

    Herzlichst, FrauWilli
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  • Ja. Sehr viele Szene sind bewegend. Zum Beispiel auch die Diskussion Györgys mit seiner Schwester über das Bewusstsein, dass sie als Juden gehasst werden.
    Die Verschiedenheit als Juden von anderen Menschen war ihnen vorher nicht so bewusst.
    Jetzt stellt sich die Frage, ob sie auf diese Verschiedenheit stolz sein sollen oder sich dafür schämen müssen. (Seite 43/44)


    Ich glaube, dass dieser vom Autor gewählte Stil bei der Beschreibung der Szenen wirkungsvoller ist, als eine getragen schwere Überhöhung, die der Junge zu dem Zeitpunkt wohl noch nicht empfunden hatte.

  • Ja. Ganz genau.


    Wie hätte sie das auch verstehen sollen. Plötzlich hasst man sie weil sie Jüdin ist und ist sich aber selbst garnicht darüber im Klaren was jüdisch sein überhaupt bedeutet. Denn so wie die Familie bisher beschrieben ist, sind es keine praktizierenden, streng gläubigen Juden.


    Der Autor war ja zum Zeitpunkt seiner Deportation 15 Jahre alt.
    Ich gehe mal davon aus dass das Buch sehr stark seine eigenen Erlebnisse und Gefühle wiederspiegelt.

    Herzlichst, FrauWilli
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  • Zum Thema habe ich schon etliche Bücher gelesen und Filme gesehen. "Roman eines Schicksallosen" ist sehr detailgetreu. Ich weiß noch nicht so recht, wie ich mit der Naivität des Jungen umgehen soll, er ist ja nicht dumm, nur vielleicht zu... unschuldig? Denkfaul? Typisch Junge in dem Alter? Kann man angesichts der Offensichtlichkeit der schrecklichen Vorfälle noch lange so bleiben?


    Die Familie weiß meines Erachtens schon, was dem Vater blüht, als dieser "einberufen" wird. Das zeigen die Ansprachen und Reaktionen der Angehörigen und Nachbarn sowie des Vaters selbst. Die Situation, verpflichtet zu sein bei der Stiefmutter bleiben zu müssen, obwohl die eigene Mutter auch allein zu Hause sitzt, stelle ich mir auch nicht gerade einfach vor, egal in welchem Alter man ist.


    Was sich immer wieder wie eine kleine Spitze in mein Herz bohrt, ist der öfter gebrauchte Ausdruck "mit heiterem Erstaunen".

    „An solchen Tagen legt man natürlich das Stück Torte auf die Sahneseite — neben den Teller.“

  • Zitat

    Original von killerbinchen


    Was sich immer wieder wie eine kleine Spitze in mein Herz bohrt, ist der öfter gebrauchte Ausdruck "mit heiterem Erstaunen".


    Dies und auch die Tatsache dass er stets bemüht ist, ein guter Gefangener zu sein. Höflich zu bleiben und Verständnis für die Soldaten und Aufseher aufbringt.
    Ich glaube auch nicht dass es Dummheit oder Naivität ist die den Jungen so handeln bzw. denken lassen, könnte es nicht eine komplette Verdrängung sein?

    Herzlichst, FrauWilli
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  • Zitat

    Original von FrauWilli


    Dies und auch die Tatsache dass er stets bemüht ist, ein guter Gefangener zu sein. Höflich zu bleiben und Verständnis für die Soldaten und Aufseher aufbringt.
    Ich glaube auch nicht dass es Dummheit oder Naivität ist die den Jungen so handeln bzw. denken lassen, könnte es nicht eine komplette Verdrängung sein?


    Man fragt sich auch, ob ein anderes Verhalten an seiner Lage etwas geändert hätte? Hat er irgend etwas falsch gemacht? :gruebel


    Ich denke nein! Nur durch unauffälliges Verhalten konnte er überleben. Er zumindest war wehrlos.

  • Nein, ich denke nicht, dass er etwas falsch gemacht hat (außer vielleicht der Tatsache, dass er aus "Anstand" den Zeitpunkt zur Flucht verpaßt hat), mir tut nur irgendwie diese kindliche Unschuld und Unwissenheit weh.


    Das wird ihm ja nun auch bald genug ausgetrieben, denke ich mal.

    „An solchen Tagen legt man natürlich das Stück Torte auf die Sahneseite — neben den Teller.“