Hans Waal: Die Nachhut

  • Vergangenheitsbewältigung der besonderen Art


    Kurz vor Kriegsende wurden einige junge Männer von der Waffen-SS rekrutiert, um ein Sonderobjekt zu schützen - eine riesige Bunkeranlage irgendwo südlich von Wittstock, in der Nähe eines Ortes namens "Gossow". Ihr Auftrag: Den Bunker zu halten, koste es, was es wolle. Und auf neue Befehle zu warten. Das taten sie dann auch, sechzig Jahre lang.


    Im Jahr 2004 zerbricht der letzte Dosenöffner, und die vier überlebenden SS-Männer wagen die Befehlsverweigerung: Sie verlassen den geheimen Bunker, den nach Kriegsende - von dem die Soldaten nichts wissen - niemand entdeckt hatte, und in dem sie weiterhin Kriegslärm hörten, weil sich direkt darüber ein NVA-Übungsgelände befand.


    Die alten Herren - alle weit über siebzig, einer gehbehindert und in einem mit Motorradfelgen zum Rollstuhl umfunktionierten Sessel unterwegs - schlurfen in SS-Uniformen und mit gut geölten Maschinengewehren bewaffnet durch die entvölkerte Region, finden die Autobahn und schießen auf einen Bus, ausgerechnet einen mit US-Soldaten an Bord. Kurz darauf besetzen sie eine kleine Kirche. Dass der Krieg längst vorbei ist, glauben sie nicht. Es sagt ihnen aber auch keiner so richtig.


    Das Geschehen ruft einerseits die Presse, vor allem ein zufällig in der Gegend tätiges Privatfernsehteam, und den Verfassungsschutz auf den Plan. Während die einen das Ganze für einen Ulk halten, fürchten die anderen um die Stabilität der wehrhaften Demokratie. Schnell werden die alten Nazis zum internationalen Politikum.


    Der Stern-Reporter, der hier unter einem Pseudonym schreibt, hat weitaus mehr vorgelegt als nur eine kleine Politsatire. Aus verschiedenen Perspektiven seziert er die Befindlichkeiten, die auch über sechzig Jahre nach Kriegsende noch den Umgang mit der Nazi-Zeit und ihrem Erbe betreffen.


    "Die Nachhut" ist ein politisches Buch, das auch vom entsprechenden Duktus beherrscht wird. Wer eine brachiale Geschichtshumoreske im Stil von Mel Brooks erwartet, wird enttäuscht werden. Waal führt seine Protagonisten nicht vor, sondern zeigt sie in ihrer entlarvenden Menschlichkeit, von der die politische Überzeugung, ob anerzogen oder frei gewählt, nur ein Teil ist. Das ist zwar auch lustig, etwa als die vier in das Set eines Kriegsfilms stolpern und mit echten Waffen auf Statisten schießen, oder als einer der SSler auf einen alten DDR-Nostalgiker trifft und beide lange glauben, von derselben Sache zu reden, aber meistens ist es eine relativ nüchterne Innenschau einer Republik, die auch über sechzig Jahre danach mit ihrer Vergangenheit keineswegs zurechtkommt. "Die Nachhut" ist zwar sehr unterhaltsam, gelegentlich amüsant, aber in erster Linie ernüchternd. Denn die Botschaft lautet: Begriffen hat auch heute noch niemand so recht, was "damals" passiert ist. Oder man will es nicht wahrhaben. Was schlimmer wäre.


    Schlau, böse, empfehlenswert. Nur manchmal ein bisschen schwafelig.

  • Spontan dachte ich, dass dieses Buch in einer Dose verstaut ist - so ähnlich wie das Graveyardbook von Neil Gaiman.
    Stattdessen ist es so weiß, dass man auf den ersten Blick nur das Dosenbild auf dem Cover wahrnimmt (Edit meint bei Amazon).
    War das ein Weihnachtsgeschenk, Tom?
    Schade, dass die Rezi erst jetzt kommt. Das wäre die ideale Lektüre für meinen Paps gewesen. Naja, er hat ja bald Geburtstag und ich kann es dann anschließend auch lesen. Du hast mich neugierig gemacht...

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    "Es hat alles seine Stunde und ein jedes seine Zeit, denn wir gehören dem Jetzt und nicht der Ewigkeit."

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  • Meine Rezension:


    Hans Waal erzählt in "Die Nachhut" eine bitterkomische Geschichte, die oft zum Lachen herausfordert, aber auch zum Nachdenken anregt. Vier ehemalige SS-Soldaten (allerdings allesamt ohne "Kriegserfahrung") stolpern nach 60 Jahren im Bunker in das Jahr 2004 - viel Potenzial für absurde Szenen, das der Autor gekonnt ausnutzt, ohne jedoch in Slapstick zu verfallen, stattdessen jedoch den Blick darauf zu richten, wie heute, 65 Jahre nach Kriegsende mit dem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte umgegangen wird.


    Erzählt wird die Geschichte von drei Beteiligten aus Ich-Perspektive: Da wäre zunächst einer der vier SS-Soldaten, Fritz von Jagemann, der seit Jahrzehnten Tagebuch führt. Mithilfe dieser Aufzeichnungen bekommt der Leser ein sehr eindrucksvolles Buch von seinen Gedanken, Gefühlen und der Überzeugung, Teil einer vermeintlich großen Weltordnung zu sein. Der zweite Erzähler ist Benny, ein Kameraassistent, der mit seinem Team durch Zufall in die große Story stolpert und schließlich ist da noch die erfahrene Kämpferin gegen Rechtsextremismus Evelyn, die gerade erst zur Polizeidirektorin ernannt wurde. Sie alle sind Teil dieser originellen und geistreichen Geschichte und tragen durch ihre Persönlichkeit, ihre Motivation und ihren Blickwinkel dazu bei, dass keine Facette dieser tragischen Groteske unbeleuchtet bleibt.


    Dafür von mir 9 Punkte! :wave

  • Was für eine Idee! In einem Nazi-Bunker in Brandenburg verharren seit 60 Jahren mittlerweile nur noch 4 SS-Männer und warten auf neue Befehle. Der Krieg schien bis vor kurz noch in vollem Gange (der Bunker befindet sich unter einem Truppenübungsplatz), eine kurze Patrouille in den achtziger Jahren hatte gezeigt, dass die ganze Gegend immer noch vor Russen wimmelte.
    Nun ist aber seit einiger Zeit Ruhe, und als dann auch noch der letzte Büchsenöffner in die Binsen geht, beschließen die vier, sich endlich mal wieder ans Tageslicht zu begeben.
    Und was sie dort erleben, ist hochgradig verwirrend. Schon alleine die politische Situation ist unklar. Eigentlich kommt ja nichts anderes als der erfolgte Endsieg in Frage, doch warum versetzt ihr Auftreten die Bevölkerung in Angst und Schrecken, während es allenthalben immer noch tapfere Nationalsozialisten gibt, die sie mit offenen Armen empfangen? Wieso durchstreifen sie nicht prosperierende Landschaften mit stolzen deutschen Bauern, sondern entvölkerte Dörfer?


    Den verwirrten Alten, von deren Sicht der Dinge wir aus Fritz' Tagebuch erfahren, gegenüber stehen der Fernsehreporter Benny, der mit seinem abgehalfterten, aber erfahrenen Kollegen Gerd für einen Privatsender arbeitet und Evelyn, eine überzeugte Kämpferin gegen Neonazis, die aus politischen Gründen an die Spitze der Soko gegen Rechtsextremismus gespült wurde.


    Benny und Gerd geraten zufällig in die Geschichte, und sie sind die ersten, die diese Sensation, vier waschechte und vor allem noch originale Nazis, auf Film haben. Doch leider wird aus der Sendung nichts, der Sender kuscht vor dem Verfassungsschutz, der recht schnell ebenfalls hinter den vier Relikten aus dem Dritten Reich her ist. Schließlich steht das Ansehen der Bundesrepublik auf dem Spiel. Und so werden aus den beiden überzeugten Nazigegnern, zwei, die alles in Bewegung setzen, um vier Altnazis vor dem Verfassungsschutz in Sicherheit zu bringen.
    Aber auch Evelyn muss recht schnell feststellen, dass sie auf einem Posten gelandet ist


    Das alles hört sich nach Slapstick an, nach so einer britischen, trotteligen Nazi-Klamotte, doch „Die Nachhut“ ist ein ziemlich kluges Buch, weniger über die deutsche Vergangenheit, sondern über die öffentlichen Auseinandersetzung damit.
    Natürlich ist der Clash der Kulturen erstmal unglaubig witzig. Wie die vier alten Knacker, die immerhin im Jahr 1945 stecken geblieben sind, auf 2004 reagieren, ist einfach grandios ausgedacht. Nicht nur der technische Fortschritt ist sensationell: offensichtlich hat sich der KdF-Wagen flächendeckend durchgesetzt, die Volksempfänger haben nicht nur Ton sondern auch farbiges Bild und wirklich jeder hat ein Sprechfunkgerät.
    Nein, auch die Menschen verhalten sich seltsam, sind schockiert bei ihrem Anblick, oder amüsiert, aber nur wenige biersaufende Dorftrottel bekunden ihnen den angemessenen Respekt. Ja, selbst die Sprache hat sich verändert.


    Doch auch für die andere Seite, die Bürgern einer vermeintlich stabilen Demokratie, sind die Ereignisse entlarvend. Da löst eine bestimmte Uniform Angst und Schrecken aus, auch wenn eigentlich nur vier harmlose Greise unterwegs sind. Es geht nur um das Ansehen der Bundesrepublik in der Welt und dafür wird mal schnell die Achtung der Menschenwürde von oberster Stelle außer Kraft gesetzt. Lediglich Benny und Evelyn gucken hinter die Fassade der furchteinflößenden SS-Mannen, hinter die Sensation, aber auch sie brauchen einige Zeit, ihren Abwehrreflex zu überwinden.


    Dass das gar nicht so weit hergeholt ist, zeigt sich zur Zeit beeindruckend am „Skandal“ um die Gurlitt-Funde. Da steigt der Dämon des Nazis wieder aus seinem Grabe, und tatsächlich steht da ein verhutzeltes Männchen, das seit vielen Jahren jeden Bezug zur Realität verloren hat


    Dabei geht es in diesem Buch in keiner Zeile um eine Verharmlosung des NS-Regimes, im Gegenteil, eher darum, über Denkreflexe nachzudenken. Denn natürlich sind alle gegen Nazis, und zwar so bedingungslos, dass sie gar nicht mehr merken, wie sich deren Gedankengut in die eigenen Anschauungen eingeschlichen hat:


    Dieses ganze schwere Thema in einen haarsträubend witzigen, überraschend klugen und extrem unterhaltenden Roman verpackt zu haben, dafür hat Herr Waal meine uneingeschränkte Bewunderung, wer auch immer er sein mag...

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • "Die Nachhut" von Hans Waal


    4 blutjunge SS-Männer werden 1945 kurz vor Kriegsende zu einem abseits von Berlin gelegenen und geheimen Bunker gebracht, um diesen zu bewachen bzw. im Bunker Stellung zu beziehen. Die nächsten 60 Jahre verbringen sie dort in dem Glauben, dass der Krieg noch immer im Gange ist. Vorräte haben sie genug. Ab und zu Bullern tut es auch, weil über dem Bunker ein Truppenübungsgelände zum Bombenabwerfen angelegt wurde. Nach 60 Jahren entscheiden sie sich nun, die Stellung zu verlassen, da der letzte Dosenöffner abgebrochen ist und stellen als 4er SS-Rentnerband so ziemlich alles auf den Kopf - stets im Glauben, der Krieg ist noch im Gange, die Niederlage sei Feindpropaganda. Bedingt durch ihr Alter, ihre Gebrechen sind sie mehr eine Gefahr für sich selbst als für andere.


    Genial geschriebene Satire mit Tiefgang - witzig, böse, teilweise unvorstellbar.