Grotesque von Natsuo Kirino

  • Kurzbeschreibung (von Amazon)
    Two prostitutes have been murdered in Tokyo. Yuriko had been working as a prostitute all her adult life, starting while still at school, where her stunning beauty compensated for what she lacked in intellect and commanded attention from older men. Kazue worked for a blue-chip company and had good career prospects, but was unpopular with colleagues and felt isolated. She chose to walk the streets at night where she hoped to get noticed. Twenty years previously both women were educated at an elite school for young ladies, and both exhibited exceptional promise prior to their brutal, unnecessary deaths. How and why did this tragedy occur? With narration from Yuriko's embittered, unattractive sister and through the girls' journals and diaries Kirino allows their shocking story to unfurl. As with "Out", "Grotesque" gets under the skin, and Kirino's analysis of the female psyche grips the reader. The extreme need to succeed, and the vicious desire to be accepted in the bewildering environment of modern life is explored here with acute and chilling insight. "Grotesque" is a masterful and haunting achievement.


    Nachdem ich nach ihrem genialen Erstlingswerk „Die Umarmung des Todes” von „Teufelskind“ eher enttäuscht war, wollte ich Natsuo Kirino doch noch eine Chance geben und habe mir „Grotesque“ (leider bisher nur auf englisch erschienen) zugelegt.


    Auch in diesem Buch wird wieder die rücksichtslose japanische Klassengesellschaft angeprangert.
    Diesmal anhand von (Tagebuch)Aufzeichnungen zweier Schwestern aus gutem Hause, die eine überwältigend schön, die andere potthässlich, die beide in die Prostitution abrutschen und schliesslich ermordet werden. Keine Angst, Ich verrate hier nicht schon den Schluss, da diese Morde bereits auf den ersten Seiten erwähnt werden.


    Zunächst kommt Yurike, die ältere der beiden, zu Wort. Schonungslos erzählt sie über ihr Leben, ihre Zeit als wunderschöne Eliteschülerin, über ihre Wünsche und Hoffnungen, ihre Erfahrungen mit Männern, ihre Frustrationen, ihre Beweggründe zur Prostitution.


    In einem Perspektivwechsel erfährt der Leser danach über die Motive des Mörders.


    Nach dieser etwas dahinplätschernden Vorbereitung auf die Geschehnisse scheint das Buch mit dem 2. Teil, dem Tagebuch Kazuos, auf einmal in eine Stromschnelle zu geraten: grausam nüchtern und quälend intensiv zugleich erzählt die jüngere der beiden Schwestern über ihr Leben, geprägt von Eifersucht, Sex, Grausamkeit und dem alles überherrschenden Zwang, als Frau in der modernen Gesellschaft akzeptiert zu werden.


    Fazit: Ein überaus berührendes, nachdenklich stimmendes, melancholisches, unheimlich-makaberes, peinliches, aber vor allem auch spannendes Buch, das zwar nicht so viele grausame Einzelheiten wie „Die Umarmung des Todes“ aufweisen kann, aber mir auf seine Art fast noch besser gefallen hat. Es ist auch für schwächere Nerven geeignet.


    Vor allem möchte ich noch einen guten Rat geben: Lasst euch durch den etwas langsamen Start nicht abschrecken, der zweite Teil entschädigt alles.

    [SIZE=7]. [/SIZE] Lg, Ann O'Nym [SIZE=7] ........................ ..............:spinne.............. .[/SIZE]

  • Über die Autorin:
    Natsuo Kirino wurde 1951 als Mariko Hashioka in Kanazawa/Japan geboren. Sie hat in Japan 13 Romane und 3 Bände mit Kurzgeschichten veröffentlicht. Kirino schreibt seit 1989 auch unter dem Pseudonym Noemi Nobara. Für die Umarmung des Todes (engl. Out) erhielt die Autorin 1997 den Mystery Writers of Japan Award. OUT wurde in der Kategorie „Best Novel“ als erster Roman einer japanischen Autorin für den amerikanischen Edgar Allan Poe Award nominiert.



    Zum Inhalt:
    In Tokio sind kurz nacheinander die Leichen von zwei älteren Prostituierten gefunden worden. Aus Tagebüchern und Erinnerungen blättert die Ich-Erzählerin des Romans die Schicksale der beiden Frauen und des der Tat verdächtigen Mannes auf.


    Die Erzählerin in Natsuo Krinos Roman ist Tochter einer japanischen Mutter und eines Vaters, der aus der Schweiz stammt. Seit ihrer Kindheit hat die Ältere, die zum Zeitpunkt der Morde ihre besten Jahre hinter sich hat, stets im Schatten ihrer gutaussehenden jüngeren Schwester gestanden. Wie besessen ist die Frau mit ihrem Aussehen beschäftigt und verliert sich in Tagträumen darin, wie ihre eigenen Kinder einmal aussehen könnten. In ihrer Obsession geht sie soweit sich zu einzubilden, der Mann ihrer Mutter sei gar nicht ihr Vater. Ihr starres Beharren darauf, dass sie als berufstätige unverheiratete Frau ein freies Leben führt, sich der Masse der japanischen Frauen weit überlegen fühlt, kann nicht über ihre Verbitterung hinwegtäuschen. Die Erzählerin müsste sich eingestehen, dass sie trotz ihres Abschlusses an einer Elite-Schule einer wenig befriedigenden Berufstätigkeit nachgeht. In Rückblenden erfahren wir, dass Juriko Hirata, eine der Ermordeten, die jüngere Schwester der Erzählerin ist. Die andere Tote ist Kazue, mit der die Schwestern gemeinsam zur Schule gegangen sind. Ein illegaler Einwanderer aus China steht wegen der Morde vor Gericht. Wie sein Weg den der beiden Frauen kreuzte, hofft man aus den Tagebuchaufzeichnungen Jurikos und Kazues, aus dem schriftlichen Geständnis des Verdächtigungen oder von der Erzählerin zu erfahren.


    Obwohl ihr Vater, dessen Geschäfte in Japan wenig erfolgreich waren, seinen Töchtern keine kostspielige Ausbildung finanzieren kann, erringt die Ich-Erzählerin durch erstklassige Leistungen einen Platz an einer Elite-Schule. Im gnadenlosen Rolltreppen-System des japanischen Schulsystems (vom Elite-Kindergarten direkt in die kostspielige private Grundschule und von dort weiter zum Elite-Gymnasium) sind alle Schüler ständigem Anpassungs- und Leistungs-Druck ausgesetzt. Selbst Kinderfreundschaften werden von den Eltern nach gesellschaftlicher Nützlichkeit bewertet und gesteuert. An der Schule gibt eine Elite von Schülerinnen aus besseren Kreisen den Ton an. Nicht Leistung wird zum Erfolg führen, sondern Beziehungen, die in bestimmten Zirkeln geknüpft werden, zum Beispiel unter den Cheerleaders. Der Zugang zu diesen Zirkeln ist aufgrund der hohen Kosten nur ausgewählten Schülerinnen möglich. Die Stipendiatinnen, die aus einfachen Verhältnissen stammen, sind hier unerwünscht und werden an der Schule nach Kräften gemobbt. Eine besondere Rolle im sorgfältig austarierten Machtgefüge nimmt Kazue ein. Die Tochter eines Fischers, der sich zum erfolgreichen Geschäftsmann hocharbeitete, ist in der elitären Kaderschmiede nicht vorgesehen, obwohl die Familie sich längst als wohlhabend betrachtet. Kazue lässt sich bewusst von den Mitschülerinnen ausbeuten, um auf diesem Weg ihre Karriere-Ziele erreichen.


    Die jüngere Juriko hat einige Zeit mit den Eltern in der Schweiz gelebt, während die Ältere in Japan beim Großvater blieb. Als auch Juriko mit einem Bonus für Auslands-Schülerinnen an der Schule ihrer Schwester zugelassen wird, bricht die erbitterte Eifersucht auf die gutaussehende Schwester erneut auf, die die Ältere seit Kindertagen zermürbt. Das Leben an der Schule wird noch erheblich komplizierter, als Juriko sich in ihren Lehrer Kijima verliebt, Kazue in Takashi, den Sohn Kijimas.


    Als Erwachsene wird Kazue trotz ihres Universitäts-Abschlusses keinen Erfolg im Beruf haben und im Büro täglich der Verachtung durch ihre männlichen Kollegen ausgesetzt sein. Inzwischen fast 40 Jahre alt, muss Kazue sich eingestehen, dass in der Arbeitswelt Japans nicht Leistung zählt, sondern Herkunft. Kazue erträgt ihr Leben nur, indem sie am Abend in ihre Rolle als Call-Girl schlüpft. Allein die Vorstellung, dass sie nun bald genug Geld haben wird, um nicht mehr arbeiten zu müssen, treibt Kazue voran.



    Mein Eindruck:
    Die Erzählerin, die formal im Hintergrund bleibt, hat mich in Grotesk am stärksten fasziniert. In keinem Moment lässt sie durchblicken, dass sie sich nach dem Tod ihrer Schwester mit der gemeinsamen Kindheit ausgesöhnt hat, sie zeigt keine Reue oder Trauer. Die Ältere hat als Erzählerin alle Fäden in der Hand, sie entscheidet, welches Bild von Kazue, Juriko und dem der Tat verdächtigten Zhang sie dem Leser vermitteln will. Aufzeichnungen und eigene Erinnerungen der Erzählerin überschneiden sich, widersprechen sich auch in einigen Punkten. Dass sie das Tagebuch ihrer Schwester sorgfältig kopiert hat, könnte ein Hinweis darauf sein, dass die einzige Überlebende der drei ehemaligen Eliteschülerinnen ihre Leser zu manipulieren versucht und ihr sehr persönliches Bild der beiden Ermordeten zeichnet.


    Für Juriko, Kazue und die Erzählerin hat sich Leistung nicht gelohnt, es gibt keinen Platz für sie in der Welt der Salaryman. Kirino verarbeitet in ihren Büchern vermutlich eigene negative Erfahrungen, die sie in der noch immer von Männern dominierten Berufswelt Japans gemacht hat. Am Beispiel der drei Schülerinnen seziert Kirino schonungslos wie bereits in Die Umarmung des Todes das japanische Gesellschaft-System. Aus der Sicht von Aussenseitern, die in der streng hierarchischen japanischen Gesellschaft keinen Platz finden, betreibt die Autorin auch in Grotesk kompromissloses Japan-Bashing. Die Schicksale der Beteiligten werden in allen bedrückenden Einzelheiten schonungslos geschildert. Gegenüber der Rückschau auf die Verletzungen der Vergangenheit spielt die Aufklärung der Todesfälle eine Nebenrolle, obwohl die Lösung so nahe zu liegen scheint. Grotesk ist m. A. kein Kriminalroman, auch wenn Kirino als Ausgangspunkt für ihr sozialkritisches Buch zwei Todesfälle wählt. Obwohl das Buch mit einige Längen keine einfache Lektüre ist, hat es mich lange beschäftigt.



    Rücksicht auf amerikanische Leser?
    Für Die Umarmung des Todes wurde ausdrücklich damit geworben, dass das Buch direkt aus dem Japanischen ins Deutsche übersetzt wurde – dieses Verfahren muss demnach die Ausnahme bei der Übersetzung japanischer Autoren ins Deutsche sein.


    Zitat

    “I attended a Natsuo Kirino reading and was disappointed to learn that in the American translation of this book, the ending had been altered. There is no indication of this in the book; there is no way to know this without comparing it to the Japanese edition. … and I hope that future works by this author are released uncut by a more courageous publisher.”

    schreibt eine Rezensentin [edit: über Grotesk] auf amazon.com.


    Da ich die englische Ausgabe des Buches gelesen habe, bin ich sehr daran interessiert zu erfahren, wie Leser der deutschen Ausgabe den Schluss bewerten. Ich fand ihn rätselhaft und war enttäuscht, dass es zu keiner Lösung kommt.


    Das Erscheinen des Buchs ist für den 10. 5. 2010 angekündigt.

  • @ Buchdoktor:
    Da es sich weniger um eine Kriminalgeschichte handelt, hätte ich das Buch unter zeitgenössische Literatur eingeordnet.


    Noch eine Anmerkung zur deutschen Übersetzung und Deiner Frage zum Ende Buches: Es stimmt mich wenig hoffnungsvoll, dass die Übersetzung möglicherweise wieder aus der englischen Sprache und nicht dem Original übertragen wurde. Was sich über den Übersetzer finden lässt, lässt auf eine
    Zweitübersetzung schließen.