Nachtschatten - Lars Saabye Christensen

  • btb Verlag, Dezember 2009
    Taschenbuch, 288 Seiten
    OT: Maskeblomstfamilien
    übersetzt von Christel Hildebrandt


    Kurzbeschreibung
    Komisch, melancholisch, aufwühlend - die Geschichte eines jungen Mannes, der mit sich selbst und dem Leben kämpft


    "Ich hatte eine schöne Kindheit. Mutter ging früh zu Bett. Vater starb, als ich zwölf war." So unverwechselbar und lakonisch beginnt die Geschichte von Adrian - Sohn einer depressiven Mutter und eines geheimnisumwitterten Vaters, der sich erschießt, als der Junge zwölf Jahre alt ist. Kurz zuvor hatte Adrian ihn noch an seinem Arbeitsplatz besucht, und noch Jahre später wird er das Schild an der Bürotür des Vaters vor sich sehen: "Bin gleich zurück." Im Leben bleibt Adrian ein Außenseiter, näheren Kontakt scheint er nur zu Emilie, einem Mädchen aus der Nachbarschaft zu haben. Bis diese eines Tages spurlos verschwindet ...


    Über den Autor
    Lars Saabye Christensen, 1953 in Oslo geboren, ist einer der bedeutendsten norwegischen Autoren der Gegenwart. Seine Bücher sind vielfach preisgekrönt und wurden in mehr als zwanzig Sprachen übersetzt. Zuletzt feierte er mit seinem Roman "Der Halbbruder", für den er den "Nordischen Literaturpreis" erhielt, in ganz Europa und den USA Triumphe. Der Autor lebt in Oslo.


    Meine Meinung
    Der 12-jährige Ich-Erzähler Adrian wohnte Mitte der 1960er Jahre mit seinen Eltern in Oslo. Alle Familienmitglieder haben dunkle Geheimnisse. Als der Vater Selbstmord beging, zog dessen ältere Schwester als „Ersatzmutter“ ein, denn Adrians Mutter lag seither nur noch im Bett und redete nicht mehr.


    Adrian sagt von sich selbst, er habe kein Schamgefühl. Sein Vater war „der Mann mit den schmutzigen Handschuhen in der hintersten Stube“, seine Mutter „die Witwe, die den Halt verlor“ und die Tante „ein dürres, unverheiratetes Klappergestell, in deren Verwahrung er war.“
    In der Schule ein Außenseiter ohne Freunde hatte Adrian nur zu der „weißen“ Nachbartochter Emilie, die immer ganz unten auf der Treppe saß, Kontakt. Bis sie eines Tages spurlos verschwand.
    Einsamkeit ist ein ganz elementares Gefühl für den Ich-Erzähler: die brutale Einsamkeit der Mutter, niemand einsamer als Emilie, die Einsamkeit des Sommers. Sich selbst spürt er nur durch Schmerz, „herrlich, magnetisch“.
    Adrians Verhalten ist ungeschickt, unmoralisch, bisweilen bösartig, was immer von Neuem Konflikte mit der Tante und der Schule schürt.


    Die Geschichte wird rückblickend ausschließlich aus der Sicht des Jungen erzählt. Dabei geht Adrian nicht chronologisch vor, so dass der Leser viele lose Fäden in der Hand hält. Dieser verworrene Erzählstil und die geheimnisvollen und teilweise merkwürdigen Protagonisten beunruhigen und verstören beim Lesen. Vieles wird nur angedeutet, lesen muss man zwischen den Zeilen. So kann man aus der Beschreibung Emilies herauslesen, dass sie wohl ein Albino ist und eine Lippen-, Kiefer-, Gaumenspalte hat. „Des Nachts bin ich ein Junge. Des Morgens ein Mädchen, ein kleines Mädchen“ und ähnliche Textstellen geben Hinweise auf Hermaphroditismus bei Adrian.
    Es gibt Szenen im Buch, die in verschiedenen Varianten erzählt werden, wobei Lars Saabye Christensen es dem Leser überlässt zwischen Wahrheit und Lüge zu wählen:“ Lügen sind wie Kleidungsstücke, und ich hatte eine ganze Garderobe zur Auswahl.“
    Dadurch bleibt die Geschichte vage und rätselhaft. Christensen verlangt in seinem in drei Akte (Zeit, Ort, Handlung) unterteilten Roman viel eigene Interpretation. In einem Schultheaterstück spielt Adrian Ödipus, auch ein Punkt zu regem Nachdenken.


    Die Sprache ist wunderbar, bildhaft, voller Metaphern und Wortspiele. Man spürt die Melancholie, die Erschütterung, die Orientierungslosigkeit und die Beklemmung in jeder Szene fast körperlich.


    Insgesamt ein schwerwiegender, aber schwer zugänglicher Roman oder als Fazit von Adrian: „Und wenn meine Geschichte dich berührt hat, dann war es eine Tragödie. Hast du aber gelacht, nur ein einziges Mal, dann war es nichts als eine Komödie.“


    7/10 Punkten

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

    alles zurück - Anfang

    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

  • ich lese das ja gerade auch, und finde, es ist bisher das sperrigste Buch von Christensen. Das Fehlen jeglicher Komik, die ja bei seinen anderen Bücher bei aller Tragik zwischen den Zeilen durchblitzte, macht dieses Buch zu einer ziemlich anstrengenden Lektüre.
    Das ist keineswegs schlecht gemeint, aber führt eben dazu, dass sich das Buch nicht so richtig wegknauspern lässt.


    Edit: wegen hanebüchener Syntax musste ich nochmal umbauen :-(

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von DraperDoyle ()

  • Hallo, Sigrid,


    danke für deine ausführliche Rezension. :wave


    "Nachtschatten" habe ich vor einiger Zeit gelesen. Es war mein 2. Roman van Christensen.


    Ich fand es ein sehr berührendes, bis zum Ende spannendes Buch.
    Dieser Adrian hat bei mir eine ganze Palette von Gefühlen ausgelöst, von Abneigung über Mitleid bis hin zu extremer Sympathie.

    [SIZE=7]. [/SIZE] Lg, Ann O'Nym [SIZE=7] ........................ ..............:spinne.............. .[/SIZE]

  • Zitat

    Original von buzzaldrin
    Danke für die schöne und ausführliche Rezension, Sigrid! :wave Hm, interessant klingt es auf jeden Fall - wenn auch etwas sperrig ... werde mich aber wohl doch mal an dem Buch versuchen.


    @ buzz: Du bist doch eigentlich Spezialistin für Sperriges (in denke da an einen Herrn Kracht ;-)).

    Liebe Grüße, Sigrid

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    Dass Zeit sich lohnt

  • Puh, was für ein trostloses, verwirrendes Buch!
    Denn Christensen will offensichtlich keine Geschichte erzählen, sondern nur Möglichkeiten andeuten und den Begriff Wahrheit relativieren. Obwohl die Erzählweise ziemlich stringend ist, entwickelt er die Figuren nicht, wir können sie lediglich von außen betrachten und ihre Motivation erraten. Selbst der Ich-Erzähler bleibt bis zum Schluss undurchschaubar.
    Das lässt zwar viel Interpretationsspielraum, lässt den Leser aber leider auch etwas in der Luft hängen, mir blieb einiges einfach zu unklar.
    Ich bin noch nicht sicher, ob mir dieses Buch gefallen hat :rolleyes

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • @ DraperDoyle: mir ging es auch so. Ich fühlte mich als Leser oft "im Stich gelassen". Auch schwierig, dieses Buch nun mit einer Note zu versehen. Ich habe da mal eine Art "Kompromiss" gewählt ;-).

    Liebe Grüße, Sigrid

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    Dass Zeit sich lohnt

  • Titel: Nachtschatten
    Originaltitel: Maskeblomstfamilien
    Autor: Lars Saabye Christensen
    Übersetzt aus dem Norwegischen: Christel Hildebrandt
    Verlag: btb
    Erschienen als TB: Januar 2010
    Seitenzahl: 286
    ISBN-10: 3442739993
    ISBN-13: 978-3442739998
    Preis: 9.00 EUR


    Das sagt der Klappentext:
    „Ich hatte eine schöne Kindheit. Mutter ging früh zu Bett. Vater starb, als ich zwölf war.“
    So unverwechselbar und lakonisch beginnt die Geschichte von Adrian - Sohn einer depressiven Mutter und eines geheimnisumwitterten Vaters, der sich erschießt, als der Junge zwölf Jahre alt ist. Kurz zuvor hatte Adrian ihn noch an seinem Arbeitsplatz besucht, und noch Jahre später wird er das Schild an der Bürotür des Vaters vor sich sehen: Bin gleich zurück. Im Leben bleibt Adrian ein Außenseiter, näheren Kontakt scheint er nur zu Emilie, einem Mädchen aus der Nachbarschaft zu haben. Bis diese eines Tages spurlos verschwindet ...


    Meine Meinung zu diesem Buch:
    Christensen hat ein Buch geschrieben, dass den Leser sicher nicht unberührt zurück lässt. Manches in diesem Buch wirkt ein wenig surreal, einiges wirkt düster und dann wiederum gibt es Szenen die von einer schonungslosen Realität sind. Die Person des Adrian scheint in sich zerrissen und unsicher zu sein – aber genau genommen nur auf den ersten Blick. Schaut man etwas genauer hin, wird man sehen, dass gerade dieser Adrian eine klare Linie verfolgt, eine Linie von der er sich von nichts und niemanden abbringen lässt. Manchmal ist die zynische und fast boshafte Ernsthaftigkeit des Adrian schon erschreckend. Echte Freundlichkeit hat bei diesem Protagonisten kein Platz. Ein Menschenfreund ist er ganz sicher nicht. Vielmehr entlarvt er seine Mitmenschen, zeigt – ob nun gewollt oder ungewollt – deren Schwächen gnadenlos auf. „Nachtschatten“ ist ein ganz besonderes Buch, ein Buch ohne den Hauch eines hoffnungsvollen Blicks in die Zukunft. Ein Buch so grau wie eine Winterdepression. Ein Buch bei welchem man sich so manchmal schon fragt, was steht wirklich hinter den Sätzen. Sehr lesenswert.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.