Wieviel Allgemeinbildung braucht ein Autor?

  • Hallo, Ihr alle,


    Derzeit beschäftigt mich die Frage, welchen hohen Grad an Allgemeinbildung ein
    Schriftsteller haben sollte, um in seinen Büchern wirklich neue Gedanken
    formulieren zu können. Reicht es aus, sich in der jeweiligen Zeit auszukennen
    oder sollte ein Autor nicht vielleicht doch nach einem gewissen
    Universalwissen streben?
    Bestimmte Dinge der Gegenwart sind erst aus der Historie heraus verständlich.
    Ist es deshalb für einen zeitgenössischen Autor notwendig, die Geschichte zu
    kennen? Wie sieht es mit Naturwissenschaften, Philosophie, Kunstgeschichte
    aus?
    Was meint Ihr dazu?

  • Hallo, Ines.


    Zunächst einmal verstehe ich die Frage nicht ganz, die nach den "wirklich neuen Gedanken", die "ein Autor formuliert". Ich bin nicht sicher, ob es die Originalität von Gedanken ist, die eine interessante Geschichte ausmacht. Vielmehr denke ich, daß es die Originalität der Erzählweise ist, die eine ähnliche Geschichte von der anderen abhebt. Will sagen: Wir repetieren ohnehin Muster von Geschichten, und wir unterscheiden uns durch die Art, wie wir sie erzählen.


    Zweitens. Es sind i.d.R. die Figuren, die Protagonisten und Antagonisten, die Nebenfiguren, die Menschen in unseren Geschichten, die denken, fühlen und handeln. Auch ein strunzdummer, völlig kenntnisloser Mensch kann ein interessanter Protagonist sein. Entscheidend ist die Glaubwürdigkeit. Man sollte möglichst viel über seine Figuren wissen, um von ihnen erzählen zu können, und das heißt natürlich auch, daß man das wissen muß, was die Figuren wissen. Das betrifft Allgemeinwissen, aber auch Fachwissen. Aber auch der explizite Verzicht auf Kenntnisse kann ein Stilmittel sein.


    Ich denke, Du willst darauf hinaus, daß es eine Grenze der Lächerlichkeit und Blamage gibt, von der man sich möglichst weit entfernen sollte. Das kann man durch gewissenhafte und ausgiebige Recherche erreichen - und die betrifft wiederum sowohl Allgemein-, als auch Fachwissen - letzteres umso mehr bei historischen Romanen oder solchen, die ein bestimmtes Sujet haben. Allerdings läuft man bei alltäglichen Dingen häufig Gefahr, falsches oder Halbwissen zu transportieren, denn unsere Protagonisten sind in aller Regel handelsübliche Normalos, die Alltagsprobleme haben und -gespräche führen. Ein Autor sollte nicht aus Unwissenheit heraus Unsinn verbreiten. Absichtlich kann man das durchaus tun, einen Protagonisten Quatsch erzählen lassen, wenn erkennbar ist, daß man es absichtlich tut, daß man die Figur so ausgestattet hat. Ansonsten sollte man m.E. bei jeder noch so kleinen Unsicherheit lieber nachschlagen und -prüfen, statt sie unkontrolliert an die lesende Öffentlichkeit loszulassen. Glücklicherweise läßt sich die Schreiberei jederzeit unterbrechen, um Informationen zu sammeln.


    Vielleicht meinst Du aber: Wie gebildet muß ein Autor sein, um auf die Öffentlichkeit losgelassen werden zu können? Meine Antwort: Völlig egal, solange er gut erzählen kann. Ob er sich auf (zu) dünnes Eis begibt, thematisch, muß er selbst wissen, aber nahezu jede Klippe läßt sich irgendwie umschiffen. Das hängt vom Sujet, vom Thema, vom Setting, von der Geschichte usw. usf. ab.

  • Uff, das ist eine schwierige Frage -- es hängt nämlich davon ab, was ein Autor will, also von seinen Intentionen.
    Von jemandem, der "nur unterhalten" will, kann ich eigentlich in der Tat nicht verlangen, daß er mehr weiß, als er erzählen will. Dennoch bin ich persönlich der Ansicht, daß der Anspruch "nur unterhalten" zu wollen, blanke Heuchelei ist. Texte vermitteln gerade durch die Art und Weise der Erzählung sehr viel Hintergrundinformationen -- auch und gerade die trivialen Formen der Belletristik, die vorgeben, sie würde "nur unterhalten".


    Als Beispiel kann man wunderbar die verbreiteten und beliebten "Frauenbücher" heranziehen: Die mögen noch so sehr von sich behaupten, sie seien "frech" und "modern", im Grunde werden (bei allen Unterschieden in den Moralauffassungen zum Thema Sexualität) noch immer die Rezepte des 18. und 19.Jhs. angeschleppt, nach denen die Frau mit "weiblicher Intuition" und ihrer "kommunikativen Überlegenheit" Rivalinnen ausschaltet bzw. am ungetreuen Mann Rache nimmt bzw. den Unerreichbaren erringt. Die Schemata weiblichen Verhaltens (kokkettieren, locken, sich zieren etc.) haben sich nicht geändert, nur die ethische Wertigkeit des Sex ist komplett umgekehrt worden. Was aber am grundsätzlichen Machtgefälle zwischen Mann und Frau nicht rüttelt.


    Hinzukommt die Tatsache, daß alle über die blanke Handlung hinausgehenden Informationen unbewußt übernommen werden und damit vollkommen unkritisch. Ich bin immer wieder erschüttert, wie bedenkenlos der vorurteilsbehaftete Unfug aus dem Gros der historischen Romane (die meist alles andere als historisch sind) als "wahr" akzeptiert wird! Je mehr ein Buch verbreitete Vorurteile und Ansichten stützt, desto beliebter ist es sogar! Und schon wird grober Unfug als Beleg für eifrige Recherche angesehen, wie auch bunte, üppige Schilderungen, die der Phantasie des Autors entstammen, gerne für bare Münze gehalten werden.


    Daraus ergibt sich meiner Ansicht nach eine sehr große Verantwortung, die bei den Autoren liegt, nicht beim Leser.


    Allein schon deshalb plädiere ich persönlich dafür, daß Schriftsteller sich weiterbilden, so gut sie nur können. Uns obliegt eine enorme Verantwortung in der Bildung der Leser -- gerade weil diese meist unbewußt beim Lesen einfließt.


    Wohlgemerkt, es geht nicht darum, belehrend zu sein, sondern wahrhaftig. Eigentlich ist das kein aberwitziger, sondern ein völlig natürlicher Anspruch, denn wer wird denn wirklich schon gerne belogen?


    Es gibt noch einen Grund, den habe ich im diesjährigen Autorenkalender in einem Artikel zum Thema "Recherche" angebracht: Nur wenn ein Schriftsteller sich in der Welt, die er schildert, blind bewegen kann, ist er in der Lage, eine Geschichte leichtfüßig zu erzählen -- weil er eben nicht unentwegt alles überprüfen muß. :-)


    Fazit: Ich bin für ein Höchstmaß an Allgemeinbildung -- natürlich gemessen an den Möglichkeiten des Autors und seinem Anspruch an die eigene Arbeit.


    Naja, ich versuch 's zumindest ... :grin

  • Liebe Iris, lieber Tom,


    zunächst Danke schön für Eure Meldungen. Tom, ich habe mich kaputt gelacht über deinen Beitrag zu Habseligkeiten. Besonders über das Aktfoto im Duden.


    Ich finde allerdings nicht, dass es ausreicht, nur über die jeweilige Zeit, die Schicht und das Leben der Protagonisten Bescheid zu wissen. Vor kurzem habe ich eine Vortragsreihe zur Toleranz zwischen Tugend und Torheit gehört.
    Einer der Referenten hat den Begriff der Toleranz historisch abgeleitet - und plötzlich stellte sich mein zeitgeistiger Toleranzbegriff als verdammt dünn und oberflächlich heraus.


    Deshalb stimme ich auch dir, Iris, voll und ganz zu: Ein Autor muss über ein Höchstmaß an Bildung verfügen.


    Mit neuen Gedanken meine ich allerdings noch etwas anderes. Wann ist ein Buch ein "gutes" Buch? Wann ist Kunst eigentlich Kunst?


    Ich finde, es reicht absolut nicht aus, eine Geschichte zu erzählen, selbst wenn sie verdammt gut erzählt ist. Bücher, die mich auf andere, neue Gedanken bringen, die neue Sichtweisen anregen, halte ich für sehr viel wertvoller. Das klingt jetzt ein bisschen blöde, aber ich erkläre es gleich.
    Kunst und gute Literatur sind erst dann Kunst und gute Literatur, wenn sie althergebrachte Denkmuster in Frage stellen und möglicherweise sogar neue Denkmuster aufzeigen.
    Beuys hat das praktiziert. Er hat die gewohnten Denkmuster in Bezug auf Kunst umgeworfen und neue dagegen gestellt. Das ist eine enorme Leistung, finde ich. Ob mir persönlich diese neuen Denkmuster gefallen oder nicht, ist dagegen eine andere Frage.


    Wisst Ihr, was ich meine?


    Fazit: Ein guter Roman ist nur dann wirklich gut, wenn er Denkmuster in Frage stellt und möglicherweise sogar neue Denkmuster aufzeigt. Dazu ist eine verdammt gute Allgemeinbildung notwendig.
    Mir ist so ein Glanzstück bisher noch nicht gelungen. Und Euch?

  • Hallo Ines,


    mein Anspruch als Leserin an den Autor ist in erster Linie, daß er/sie schreiben kann - d.h. wirklich mit Sprache umgehen kann, eigene Metaphern verwendet, nicht sprachliche Klischees nachbetet und abgedroschene Formulierungen verwendet. Manchmal lese ich Bücher von Autoren, wo ich das Gefühl habe, daß diese Autoren sehr viel gelesen haben und das fließt dann leider negativ in ihre Sprachauswahl ein, indem sie dann Formulierungen verwenden, die einfach zu oft schon verwandt wurden.


    Was die Allgemeinbildung betrifft, so verlange ich von einem Autor, daß er sich in dem Gebiet, daß er beschreibt, auskennt. Ich verlange von keinem Autor historischer Bücher, daß er gleichermaßen beschlagen in Kunst, Geschichte, Philosophie etc. etc. ist. Ich denke, das ist unrealistisch und ein Anspruch, der einfach nur Stress verursacht. Ich will auch nicht ständig in fiktionaler Literatur belehrt werden, sondern unterhaltend gebildet werden. Manchmal übertreiben Autoren mit ihrem didaktischen Bildungsanspruch, so daß man das Gefühl hat, in einer Schulklasse zu sitzen.


    Wenn ich mich bilden will, kann ich auch Sachbücher lesen.


    Allerdings sollte bei historischen Romanen der Zeitrahmen so authentisch wie möglich dargestellt werden. Wenn ich einen Roman z.B. über Tibet lese, dann sollten schon Bezüge zur Geschichte etc. da sein - aber ohne es zu übertreiben. Ich fände es dann störend, wenn in Nebenbemerkungen oder Exkursen ein zu weiter Rahmen gefaßt wird und tibetische Kunst, Religion, Geschichte etc. alles zusammengepackt wird, um größtmögliche Information zu liefern. Wenn das ein Autor schafft, ohne ständig zu dozieren, ist das bewunderswert, oft geht es aber leider daneben und dann hat man nichts Halbes und nichts Ganzes.


    Natürlich sollte ich mir als Autor klar sein, welches Bild der Zeit, der Personen, der Geschichte ich mit meinem Werk vermittle. Aber ein Autor ist kein Dozent - man sollte immer auch davon ausgehen, kritische Leser zu haben, die nicht hirnlos Bücher konsumieren, sondern mitdenken. (also als Idealfall :grin)


    Ich denke, ich muß mich als Autor erstmal selbst definieren, welchem Anspruch ich gerecht werden möchte. Wie ist mein Eigenanspruch, welches Leserpublikum möchte ich erreichen etc.


    Die von Iris angesprochenen Frauenromane haben in meinen Augen überhaupt keinen Anspruch auf Bildung etc. - ich denke, sie werden auch entweder nur als flache Unterhaltung konsumiert von Frauen, die darüber nur amüsiert lächeln bzw. nur von einem bestimmten Teil Frauen, die meinen, ein kokettes, flittchenhaftes Dummchen käme bei Männern an. Solche Frauen werden dann aber sicher nicht von emanzipierteren Frauenromanen erreicht werden können - wobei man es natürlich immer versuchen sollte. Das zählt für mich dann aber unter Eigenanspruch. Wenn ich mich als emanzipierte Frau definiere, schließt das für mich automatisch aus, ein überholtes, dummes Klischee des Weibchens, das sich ausschließlich über Männer definiert und dessen Lebenszweck in der Verführung und Begattung liegt, in meinen Büchern darzustellen. Da wäre ich mir dann zu schade.


    Wenn es sich natürlich um einen historischen Roman handelt, der ein historisches Frauenbild vermittelt, dann sollte ich natürlich ein angemessenes Bild der Frau in der jeweiligen Zeit darstellen.


    Also, ein gesundes Maß an Bildung ist positiv, aber es muß nicht in jedem Roman, nur um Allgemeinbildung zu demonstrieren, ständige Verweise, Anspielungen und Zitate aus Bibel, Kunst, Literatur, Philosophie etc. einfließen - es kommt wie bei allem auf das Maß an.


    :wave

  • Liebe Murmelito,


    danke schön für deine Meinung. Oh, um Gotteswillen, ich habe nie, nie, niemals vor den pädagogischen Zeigefinger beim Schreiben zu erheben. Nein, wirklich nicht. Hoffentlich ist es mir noch nicht passiert.


    Ich möchte nur einfach genau wissen, worüber ich schreibe. Bei einem Buch über die Liebe habe ich den Anspruch, so viel wie möglich über die Liebe zu wissen. Also auch ihre historische Seite, ihre Darstellungsweisen, ihre Erscheinungsformen usw. Ich glaube, erst aus dem Wissen darüber kann sich in mir eine echte Meinung bilden, die mehr beinhaltet als meine persönlichen Erfahrungen.


    Denkt jetzt bloß nicht, dass ich so arbeite. Nö, leider nicht. Bisher habe ich die Welt, die ich in meinen Büchern beschrieben habe, aus meinem kleinen Zimmer heraus betrachtet. MEINE Meinung, meine Erfahrungen usw. waren dabei ausschlaggebend. Aber inzwischen frage ich mich, ob das nicht etwas zu wenig ist.


    Danke schön und Gruß

  • Liebe Ines,


    da bin ich ja beruhigt, daß Du bisher nicht den pädagogischen Zeigefinger einsetzt - in der Bücherei liegt nämlich ein Buch von Dir abholbereit, daß ich wohl nächste Woche lesen werde (der Maler Gottes) :grin


    Ich kann Dich gut verstehen und ich denke, es würde mir ähnlich gehen. Allerdings sollte man sich nicht zu sehr unter Druck setzen. Wissensdurst ist in meinen Augen ein natürliches Bedürfnis, das fast allen Menschen innewohnt. Aber man kann nicht alles wissen und die Schwierigkeit ist, wo fange ich an und wo höre ich auf.


    Zum Thema Liebe, das Du anbringst. Kann ich einen Liebesroman schreiben, ohne jemals verliebt gewesen zu sein? Sicher könnte ich das, indem ich viele Liebesromane lese und sie dann sprachlich kopiere oder ähnlich schreibe. Habe ich damit aber den Kern erfaßt? Ich habe sicher viele Frauen, denen es nur auf das maximale Maß an Liebe und Liebesszenen mit erotischen Einschub ankommt, befriedigt. Sie merken sicher keinen Unterschied. Aber ich habe damit nichts Eigenes gegeben. Ich habe nicht eine neue Metapher, nicht eine neue Formulierung, eine neue Idee etc. zu dem Thema gegeben. Je mehr man über ein Thema weiß, je tiefer man selbst in ein Gefühl getaucht ist, um so instinktiver wird man echte, eigene Formulierungen schreiben können.


    Du wirst Liebe nie in all ihren Facetten einfangen können - was ist mit religiöser Liebe (ich meine jetzt nicht Islamisten :lache - obwohl das eigentlich auch darunter fallen könnte), was ist mit unerfüllter Liebe, Liebe allem Seins gegenüber etc. etc. Willst Du die alle kennengelernt haben oder muß man sie alle kennengelernt haben, um für sich das Thema ausgeschöpft zu haben?


    Das fände ich schade, denn was hätte der geneigte Leser denn von Autoren, die sich ständig bilden, aber keine Zeit mehr haben zu schreiben? :-( :grin


    Das Neue an einem Werk sind ja nicht immer "neue Ideen". Oft sind es eigene Formulierungen, eine Art zu schreiben, daß man versinkt in der Geschichte, daß man den eiskalten Schnee auf den Wangen spürt, daß man die Angst den Rücken hochkriechen fühlt (bei einem guten Psychothriller) bzw. daß eine Epoche, ein Zeitraum, ein Ereignis dichter, plastischer, begreifbarer geworden ist. Das ist eine große Kunst.


    Ich bin jedenfalls mal gespannt auf Deine Bücher :wave

  • Man kann niemals alles wissen, man sollte aber wissen, daß man nicht alles weiß. Der Begriff "Allgemeinbildung" ist ein sehr mißverständlicher, wie ich finde, was bedeutet er überhaupt? "Umfassende Bildung, alles Wissen außer Fachwissen" sagt der "Wahrig", aber wo fängt Fachwissen an und wo hört es auf? Daß der Fall der Mauer am 9. November 1989 eingeleitet wurde, ist genaugenommen geschichtliches Fachwissen, sollte aber auch zur Allgemeinbildung gehören. Daß ein Verbrennungsmotor eigentlich ein Explosionsmotor ist, muß man nicht wissen, aber, und hier kommen wir zum Thema, dann sollte man nicht in einem Buch behaupten, irgendwo im Motor wäre ein kleiner Kübel, in dem Benzin verbrennt, um Wasser zu erhitzen, was dann wiederum eine Dampfturbine antreibt.


    Ich habe mal ein Buch des Thrillerautors Philip Kerr gelesen, "Game Over". Da ging es um ein völlig computerisiertes Hochhaus, das schließlich einen seltsamen Maschine-vs.-Mensch-Krieg vom Zaun gebrochen hat. Kerr schwätzt in diesem Buch über Programmierung und Technik, als wüßte er, wovon er schreibt, aber genau das ist - war - nicht der Fall. Es enthält gnadenlose, grundlegende Fehler, bis hin zum völligen Schwachsinn (mir fallen leider keine Beispiele ein, es ist eine Weile her, aber der Ärger kommt tatsächlich wieder hoch, wenn ich an dieses unsägliche Mistbuch denke :fetch), heutzutage - das Buch hat ein paar Jahre auf dem Buckel, sieben oder acht - könnte jedes Kind widerlegen, was der Autor so behauptet und erklärt hat. Eigentlich ein sehr peinlicher Vorfall. Und trotzdem gibt es hingerissene und begeisterte Leser, jedenfalls teilweise. Menschen, die noch weniger wußten/wissen als der Autor? :gruebel


    Es ist eine Frage des Anspruchs. Eine Frage der Prämisse, der Absicht, meinethalben auch der Intention. Nicht notwendigerweise eine der Belehrung. Man sollte wissen, worüber man schreibt, finde ich, oder, Umkehrschluß, nur über Dinge schreiben, über die man bescheidweiß, sich zumindest informiert hat (man muß nicht morden, um einen Krimi schreiben zu können). So oder so ähnlich habe ich es auch in den Schreibtips auf meiner WebSite formuliert. Aber diese Maxime scheint keine Allgemeingültigkeit zu haben, siehe Beispiel - es gibt noch mehr Beispiele. Denn es scheint mir noch ein anderer Umkehrschluß zu gelten: Glaube niemals, was in fiktionaler Literatur geschrieben steht! Die Fiktion ist keine Schicht, die über einer anzunehmenden Wahrheitsbasis liegt, sondern sie durchdringt alles, was in einem Buch steht, denn der Autor ist kein unfehlbarer allwissender Mensch, sondern lediglich letzteres, mit einem Erzähltalent ausgestattet.


    Ich würde niemals über Dinge schreiben, von denen ich nichts oder zu wenig weiß, aber ich würde meine Figuren jederzeit ein entsprechendes Gespräch über sowas führen lassen. :-)

  • Hallo Ines,


    nein, ich schreibe keine Romane - ich habe zwar mal ein paar Kurzgeschichten geschrieben, aber nie was veröffentlicht - d.h. mal zu Schülerzeiten mit anderen einen Lyrikband.


    Ich denke, man wird nie einen Konsens über Allgemeinbildung erreichen. Vor Jahren sagte meine Schwester immer zu mir, daß ein gewisses Wissen über Fußball zur Allgemeinbildung gehört. Das habe ich damals, als mich Fußball nicht interessierte, immer verneint :wow.


    Seit ich jetzt einen fußballbegeisterten Mann habe und immerhin weiß, wer Jens Lehmann, Oliver Kahn und Zidane ist (und mich mittlerweile Fußball auf internationalen Niveau auch interessiert), würde ich nun jeden pikiert angucken, der Zidane oder Kahn nicht kennt :grin.


    Es ist sicher auch eine Frage der eigenen Interessen - je mehr mich etwas interessiert, um so eher neige ich sicher dazu, Kenntnisse darüber bei anderen zu verlangen. Allerdings sollte ein Autor - ob er nun über die französischen Revolution oder Computerviren schreibt - sich zumindest ein solides Grundwissen davon verschaffen.


    :wave

  • ich hab jetzt nicht die zeit mir alles durch zulesen aber ich find es einen quatsch wenn ein autor irgendwelchen wissenstand haben MUSS. er muss wissen von was erschreibt und gut rechachieren. das fakten stimmen. aber er muss keinen dr in irgendwas haben. das ist blödsinn. und man muss auch nicht alles wissen wenn man in einem bestimmten gebiet schreibt.

  • Bildungsauftrag nicht, aber macht es nicht mehr Spass etwas von einem Autor zu lesen, der ein umfassendes Allgemeinwissen hat (wenn er nebenbei noch schreiben kann)? Dem Autor steht dann doch ein größerer Handlungsspielraum offen, oder nicht? Zum Beispiel kann ich mir gut vorstellen, dass ein Autor mit gutem Allgemeinwissen eine interessante, aber strunzdumme Figur erschaffen kann, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Autor mit wenig Allgemeinwissen einen glaubwürdigen Protagonisten schaffen kann, der ihm vom Allgemeinwissen her überlegen ist.


    :gruebel


    lg Iris

  • Hallo, Iris.


    Ich habe gerade - alle anderen kannte ich schon - Charles Bukowskis "Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend" gelesen, das Buch über seine Kindheit und Jugend. Die Begrenztheit der Weltsicht und die Versuche des jungen Henry Chinaski, eine eigene Weltsicht überhaupt zu entwickeln, das sind die Themen, unter anderem. Dabei gibt es keinen Blick über den Tellerrand hinaus, das ist ein Grundprinzip des Buches, eigentlich ein Grundprinzip aller Bücher von Bukowski. Trotzdem entwickelt sich beim Lesen ganz unvermeidlich ein Vergleich, weil ich, der Leser, ein anderer bin und zu einer anderen Zeit lebe, unter ganz anderen Verhältnissen. Ich lerne etwas, über die Figur, seine Zeit, seine Sozialisation, sein Paradigma, ich verstehe es zuweilen sogar. Das Buch bildet mich, aber ohne jede Frage verfügen sowohl der Protagonist, als auch der schreibende Bukowski (in Personalunion) über ein vergleichsweise klägliches Wissen. Trotzdem ist es spannend und interessant. Gerade der fehlende Vergleich, die lineare und völlig wertungsfreie Erzählweise vermitteln ein Verständnis von der Figur und ihren Beweggründen, entfalten sogar eine seltsame, manchmal ergreifende Empathie. Ich sehe nicht, was dem Buch - oder der Schreibe von Bukowski generell - fehlen würde, weil der Mann nicht über eine enorme Allgemeinbildung verfügt(e). Wobei natürlich angemerkt werden muß, daß Bukowski - nicht erst spät - enorm belesen war, aber auf eine skurril-selektive Art.


    Was ich damit sagen will. Erstens kann man sowieso nicht alles wissen, der Begriff "Allgemeinwissen" ist falsch und irreführend - vor allem in Zeiten, da das verfügbare Wissen exponentiell (!) zunimmt, zur Zeit verdoppelt es sich alle fünf Jahre. Und zweitens hängt es von der Geschichte, von Plot und Gestaltung der Figuren ab, wieviel Wissen der Autor haben muß, um sie erzählen zu können. Mehr noch. Wenn man das obige Beispiel nimmt, wäre zu viel eingebrachtes Wissen sogar schädlich gewesen - eine Relativierung der Geschichte (die Bukowski tatsächlich sehr viel später geschrieben hat). Ein Hindernis - wäre es eingebracht worden, oder vorhanden gewesen (spielt keine Rolle).


    Bei der Fragestellung - ich will damit niemandem zu nahe treten - schwingt ein bißchen die Selbstelitarisierung von Autoren mit, dieses "Autoren müssen mehr wissen und sowieso bessere Menschen sein". Wer viel weiß, kann automatisch mehr - und besser - erzählen. Das ist Quatsch, mit Verlaub. Denn es grenzt automatisch alle anderen aus - die nichtsdestotrotz interessante und spannende Geschichten zu erzählen haben, möglicherweise solche, die das Weltbild der Bildungschauvinisten (ganz allgemein gesagt und niemanden persönlich meinend) erweitern und/oder verändern könnten. Und es hat natürlich auch mit dem "Was" zu tun. Ein fundamental gesellschaftskritischer Roman sollte durchaus auf eine solide Wissensbasis zurückgreifen können, aber eine anrührend-romantische Liebesgeschicht bedarf lediglich gewisser Empathie, Erzählkunst und gesundem Menschenverstand - um interessant, anrührend und blicköffnend sein zu können. Und auch mit dieser Anmerkung will ich die Autoren nicht kategorisieren. Mir ist egal, wie umfassend das Wissen, die Kenntnisse eines Autors sind, solange die Geschichten gut erzählt sind, in sich stimmig, glaubhaft und spannend.


    Zusammengefaßt: Es hängt vom Einzelfall, von der Art der Geschichte und vom Anspruch ab, des Autors wie des Lesers. Aber Autoren sind keine Weltrichter, und deshalb müssen sie auch nicht die gesamte Welt kennen, um über sie erzählen zu können.

  • Zitat

    Original von Tom
    Hallo, Iris.


    Welche meinst du?


    Okay, alles nochmal auf Anfang! :grin


    Ich stimme Ines und Iris (Delfin) zu. Ich langweile mich halt, wenn ich mittelmäßige Geschichten mit unglaubwürdigen Figuren lese, was meistens daran liegt, daß der Autor sich weder gut informiert hat noch von Charakterentwicklung viel Ahnung hat -- was aber wohl keine Rolle spielt, denn die Leser "wollen das so", "wollen nur unterhalten werden", "bitte nichts Literarisches" etc. etc. etc.


    Bukowski mag "nur" "selektiv gebildet" gewesen sein -- aber er war zumindest das - nämlich auf seinem Gebiet (das war nicht nur alles, was Alkohol, käuflichen Sex und abgestürzte Leute angeht). Und diese selektive gepaart mit seiner erzählerischen Begabung hatte er seinen Figuren quasi voraus; er konnte sich in der Tat mit schlafwandlerischer Sicherheit in deren Welten bewegen. Außerdem brachte er Dinge ins Gespräch, die ohne seine Texte vielleicht nie so ins Gespräch gebracht worden wären. Und seine Zielgruppe -- natürlich sofern er darüber nachdachte, für wen schrieb. Er hat einen starken Ecce homo-Habitus, ihm geht es um einige elementare menschliche Fragen, die er exzessiv behandelt, und sein Publikum sind letztendlich Menschen, die sich auch solche Fragen stellen -- also wohl kaum die "Penner" und "Nutten", über die er schrieb. :grin


    Außerdem hat der Bildungsstand nichts, aber auch gar nichts damit zu tun, ob ein Autor belehrend ist. Belehrend zu sein, ist eine Gesisteshaltung -- dazu braucht manch einer keine Bildung, sondern nur eine "Mission".

  • Hallo Tom und hallo an alle anderen,


    Selbstelitarisierung ist ein schönes Wort. Doch es wäre schade und mir auch peinlich, wenn ihr meine Frage in dieser Richtung verstanden habt.
    Es geht weder um den pädagogischen Zeigefinger noch um Bildungselite. Ich glaube, es geht einfach nur darum, dass ein Autor, der sich anmaßt, anderen etwas zu sagen zu haben (ich zähle mich dazu), auch eine solide Wissensbasis haben muss. Was nützt mir der beste Roman, wenn ich alles, was darin steht, schon anderswo gesehen, gehört oder gelesen habe? Gut, dann kann es immer noch ein Hochgenuss an Unterhaltung sein, aber ich glaube auch, dass ein Hochgenuss an Unterhaltung mit Bildung im Zusammenhang steht. Ein Autor, der z.B. Kleist, den Meister der Zeitraffung, gelesen hat, kann in seinem Buch vielleicht sehr gut mit Zeitraffungen umgehen, er kann von Jonathan Franzen die Einführung von Charakteren lernen, von anderen die Spannung, Dialoge usw. Ich nehme jedenfalls ab und an Bücher, die mir besonders gut gefallen haben, auseinander, um zu sehen und zu lernen, wie die anderen das machen.


    Aber wahrscheinlich bin ich momentan nur auf dem Humboldt-Tripp. Am Wochenende habe ich mir in einer Buchhandlung den "Kosmos" angesehen und bin vor Ehrfurcht fast ins Regal gekippt. Humboldt erklärt in diesem Buch schlicht und einfach, was die Welt zusammen hält und wie sie entstanden ist.
    Und ich habe begriffen, dass ich im Grunde verdammt wenig weiß. Eigentlich gar nix. Und habe mich dann darüber gewundert, dass ich mir trotzdem anmaße, Bücher zu schreiben.


    Fazit: Ines hat eine Bildungskrise, die nichts mit Bildungselite und Zeigefinger zu tun hat, sondern einfach mit der Tatsache, dass sie wieder mal auf ihre ureigene Unwissenheit gestoßen ist.

  • Hallo Ihr,


    Zitat

    Wer viel weiß, kann automatisch mehr - und besser - erzählen.


    Tsü, hab ich das so gesagt? Ich schrieb (schrub ©Tom) doch, dass ich glaube, dass es mehr Spass macht etwas von einem Autor zu lesen, der ein umfassendes Allgemeinwissen hat, wenn er nebenbei noch schreiben kann.


    Was ich meinte war, dass ich glaube, dass ein Autor, der über ein umfangreiches Allgemeinwissen verfügt, mehr Freiheitsgrade hat, eine Figur zu gestalten. Ich mein, wenn der Autor einen etwas beschränkten Horizont hat, wie soll dann eine Figur, die er geschaffen hat, einen weiteren Horizont haben können als er? Das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Die Figur ist dann wohlmöglich nur so, wie er sich aus seiner eingeschränkten Sichtweise vorstellt, wie eine Figur ist mit weiterem Horizont wäre. :lache


    Und ausserdem hab ich einen Riesenrespekt vor Leuten, die ein umfassendes Allgemeinwissen haben und ich wünschte, meins wäre besser. :rolleyes Was ich mag ist, wenn das Buch so geschrieben ist, dass ich mich schon ein wenig recken muss, der Autor sollte mir also ein kleines Stückchen voraus sein, aber nicht so abgehoben schreiben, dass ich mir wie ein Idiot vorkomme. Zum Beispiel meine Entdeckung des Jahres Jonathan Swift: Ich glaub, der Mann hat ein unglaubliches Allgemeinwissen gehabt, sonst hätte er gar nicht die ganzen gemeinen Anspielungen machen können, die sich ja wirklich durch alle Bereiche von Politik über Philosophie, Gesellschaft bis hin zu Naturwissenschaften zogen. Der Mann wusste eindeutig mehr als ich, aber das Buch ist nicht so geschrieben, dass ich es nicht mehr verstehe, sondern eher so, dass ich mich freue, wenn ich etwas entdecke und es mir Spaß macht, herumzuforschen, worauf sich eine Anspielung beziehen könnte. Gleichzeitig merke ich in so einem Buch natürlich meine Lücken, aber eher so, dass mein Interesse geweckt wird, da noch mehr wissen zu wollen und nicht durch einen erhobenen Zeigefinger.


    lg Iris


    PS: @ Ines


    Also, ich hab Deine Frage nicht in Richtung Selbstelitarisierung verstanden. :knuddel1

  • nachdem ich diese Diskussion immer wieder verfolgt habe, will ich mit meiner eigenen Meinung nun doch nicht hinter dem Berg halten.


    In meinen Augen ist Wissen für einen Autoren unabdingbar, und zwar über das Thema hinaus, über das er schreibt. Er hat in meinen Augen auch die Pflicht, seinen Erfahrungsstand zu erweitern, um so gut schreiben zu können, wie er es ihm möglich ist.


    Auf jeden Fall aber muss der Autor über das, was er schreibt, mehr wissen als er nach außen gibt, und auch mehr, als die überwiegende Mehrheit seiner Leser weiß


    Spezialisten, an deren Wissen das Seine nicht heran reicht, ja nicht heranreichen kann, gibt es immer. Schließlich hat ein Autor, der z.B. über eine Herzverpflanzung schreibt, eine solche nur in Ausnahmen selbst durchgeführt. Bei historischen Romanen kann auch ein bemühter Lokalhistoriker auf eine Urkunde oder dergleichen gestoßen sein, die dem Autoren entgangen ist, und entsprechend Kritik üben.


    Solche Dinge muss man als Autor in Kauf nehmen, sonst müsste man fordern, dass Krimis nur von echten Kommissaren, SF von Physikern und Astronauten und ein Buch über den Einfall der Hunnen nur von einem geschrieben werden darf, der damals dabei gewesen ist.


    Ein Autor hat die Aufgabe, zu unterhalten, aber auch Wissen zu vermitteln. Eine Unterhaltung ohne Wissen ist seicht, ein Wissen ohne Unterhaltung strohtrocken. Wie so oft kommt es auch hier auf einen gesunden Mittelweg an.


    Viele Grüße


    Eric :write