21. Dezember 2009 von Suzann
Das Bettelmädchen
Aurelia war kalt, sie spürte ihre Nase nicht mehr. Aus der Fensterscheibe des gegenüberliegenden Bücherpalastes starrten sie ihre großen Augen in dem schmalen Gesicht ausdruckslos an. Darüber kletterte eine groteske, rot gekleidete Puppe mit Sack auf dem Rücken die Fassade hoch. Vom Knien auf dem unebenen Kopfsteinpflaster taten ihr die Knochen weh. Da half es auch nicht, dass sie „junges Gemüse“ war, wie der alte Bran sie nannte. Wann würden ihre Leute sie endlich abholen? Sie hielt es nicht mehr aus. Es war schon so spät und bald würde es dunkel werden. So lang hatte Damir sie noch nie arbeiten lassen.
„Multumesc“, murmelte sie heiser, als ein kleiner blonder Junge ihr schüchtern zwei fünfzig Centstücke in die eisigen Hände legte. Eine blasse Frau, mit einer Unmenge Tüten in jeder Hand, hastete achtlos vorbei und schubste den Jungen in Aurelias Arme. Überrascht verlor sie das Gleichgewicht, kippte seitlich weg und ihr Kopf kollidierte mit etwas Hartem. „Laternenmast...“, dachte sie noch, bevor ihr schwarz vor Augen wurde.
Als sie wieder erwachte, schwebten mehrere Köpfe, seltsam losgelöst von ihren Körpern, in ihrem Gesichtsfeld. Ein Mann in roter Jacke fummelte an ihrem Kopf herum. So langsam konnte sie wieder denken. Sie hatte sich den Kopf gestoßen. Aus dem Mund des Mannes kamen eine Menge Worte und der Tonfall wurde drängender. Sie verstand ihn nicht. „Du bist in Deutschland!“, fiel es ihr ein. Mühsam suchte Aurelia ihre Sinne wieder zusammen. Sie musste nach Hause. Wie spät war es? Wo zum Teufel lag dieses Hotel, wo Damir sie und die anderen einquartiert hatte?
Sie stand jetzt und der Mann zog sie am Ärmel ihrer schäbigen Jacke in Richtung einer Bahre. Er wollte sie mitnehmen! „Nu!“, Aurelia schüttelte heftig den Kopf und bereute es sogleich, als ihr der Schädel zu platzen drohte. Sie entwand sich dem Kerl und hastete davon. Dank der dichten Menschenmenge in den Einkaufsstraßen der Fußgängerzone hatte sie ihren Verfolger rasch abgehängt. Als sie sicher war, dass er aufgegeben hatte, lies sie sich erschöpft auf eine Bank gleiten. Sie war es gewohnt und es war ihr sogar recht, dass sie für die meisten Passanten anscheinend aus Luft bestand. Schlimmer zu ertragen waren die mitleidigen Blicke derer, die sie anzuschauen trauten.
Da stand plötzlich der blonde Junge wieder vor ihr. Er war aus dem Spielzeugwunderland rechterhand von ihr gekommen. Auch vor diesem Laden bemerkte Aurelia eine seltsame Puppe in Lebensgröße und mit weißem Wallebart. Einziger Unterschied zu dem Kletterer war, dass sie einen enormen Bauch unter ihrem roten Mantel hatte. Mit hoher Engelsstimme sang die Opapuppe eine getragene Melodie. Trotz ihres schmerzenden Kopfes musste Aurelia grinsen. Der Junge setzte sich neben sie, nahm ihre Hand und erwiderte ihr Lächeln. Mit der anderen Hand fasste er an ihren Kopf. Diese Geste verstand sie, seine Worte jedoch nicht.
Mittlerweile waren die Lichter angegangen. Überall glitzerte und funkelte es. Leichtes Schneegeriesel hatte eingesetzt. Wie kam sie nur nach Hause? Zu dem Jungen hatte sich eine gütig aussehende ältere Dame gesellt. Der Junge sprach aufgeregt mit ihr und deutete immer wieder auf Aurelia. Verständnislos schüttelte Aurelia den Kopf. Schließlich erhob er sich und bedeutete ihr mitzukommen. Ein kurzer Blick auf die ältere Dame zeigte ihr ein ermutigendes Nicken.
„Warum sie wohl mitgegangen war?“, grübelte Aurelia, als sie in einer warmen Stube an einem großen Esstisch saß. Weil sie nicht wusste, wohin sie gehen sollte? Weil ihr kalt war? Weil sie Heimweh hatte? Egal, auf jeden Fall saß sie gerade mit einem vollen Bauch vor einer Tasse heißer Schokolade und sah Maria beim Backen zu. Maria hieß die ältere Dame, wie sie nach mehreren Verständigungsversuchen herausgefunden hatte. Der kleine Junge nannte sich Jonas. Er fuchtelte gerade mit einem Papierstück unter ihrer Nase herum und versuchte damit ihre Aufmerksamkeit zu erhaschen. Es war ein Stadtplan.
Er wollte ihr anscheinend helfen, sich zurechtzufinden. Nachdenklich zog sie die Nase kraus. Da fiel ihr der Zettel ein, den Damir allen bei ihrer Ankunft in dieser Stadt zugesteckt hatte. Zögernd holte sie ihn aus ihrer Manteltasche und hielt in Jonas hin.
*Hotel Eden*
Bergemannstr. 7
Frankfurt a.Main
Als Maria vor dem schäbigen Hotel den Wagen anhielt, konnte Aurelia nicht anders. Impulsiv umarmte sie die Frau und atmete deren Duft nach Zimt und Vanille ein. Es war zwar erst der 21. Dezember, aber Aurelia wünschte ihr mit belegter Stimme: „Crciun fericit“, bevor sie ausstieg und mit einer Tüte voller frisch gebackener Plätzchen ins Hotel eilte.