1. Dezember 2009 von Eskalina
Von Engeln und Zimtschnecken
„Ach nee, nicht schon wieder diese Zimtschnecken!“ Er kam in die Küche, griff sich eine noch warme Schnecke vom Teller, grinste uns an und setzte sich zu uns auf die Eckbank, die überall mit Teigspritzern bekleckert war. Der Tisch war voller Mehl, dazwischen hatten wir unsere Becher mit Kakao abgestellt und kneteten und rollten begeistert unsere Kreationen. Es war schon dunkel draußen und fast unbemerkt hatte es begonnen zu schneien. Sie stand am Herd und noch heute sehe ich sie so vor mir stehen. Trotz ihres Alters noch immer eine beeindruckende starke Frau, die mit hochgekrempelten Ärmeln den Teig durch walkte und dann auf dem Tisch ausrollte, damit wir unsere Formen in die buttergelbe, klebrige Masse stecken durften. So oft, bis nur noch ein winzig kleiner Rest übrig war. Den bekam dann immer der Jüngste von uns, der daraus mit ihrer Hilfe eine Kugel rollen durfte. Sie nahm die Kugel, legte sie zu den Figuren, die wir Älteren ausgestochen hatten und schnitt mit dem Messer einen kleinen Schlitz oben hinein. „So, nun hast du ein Brötchen!“ sagte sie lächelnd und schob das Blech in den heißen Ofen.
Es war immer ein ganz besonderer Tag, wenn es hieß „Weihnachtsbäckerei bei Oma“ Jeder aus der großen Familie, der gerade Zeit hatte, ließ sich das nicht entgehen und für jeden gab es einen Platz in der kleinen Küche.
Das letzte Blech war im Ofen verschwunden, überall standen Schalen übervoll mit duftenden Plätzchen und wir saßen müde und mit roten verschwitzten Gesichtern am Tisch, als sie zu sprechen begann. Sie erzählte gern Geschichten und wir waren noch in einem Alter, in dem wir sie gern hörten.
„Es war einmal an einem Dezemberabend wie diesem…“ begann sie. „Der Schnee fiel genau wie heute leise und sacht an die Scheiben. Am Fenster saß eine Frau, drückte die Stirn gegen das kalte Glas und sah sie fallen - sie sammelten sich auf der Fensterbank und die Frau wusste, es würde eine kalte Nacht werden. Sie hatte den Kindern alles angezogen, was sie an Kleidung besaßen und sie ins Bett gesteckt, damit sie einander wärmen konnten.“
Jemand steckte kurz den Kopf zur Tür herein: „Mensch Mutti erzähl doch den Kindern nicht schon wieder diese Horrorgeschichten vom Krieg!“
Sie ließ sich nicht unterbrechen und es war, als sei sie ganz weit weg. In einem anderen Land - in einer anderen Welt. Wir spürten ihre besondere Stimmung und obwohl wir ein munterer Haufen waren, traute sich niemand etwas zu sagen.
„An diesem Dezemberabend beschloss ich, dass wir sterben würden, “sagte sie und blickte an uns vorbei zum Fenster. Erschrocken sah ich sie an. „Wir hatten seit Tagen nichts mehr gegessen, nur aufgewärmten Ersatzkaffee getrunken und ich wusste nicht mehr, woher ich noch etwas für alle sieben Kinder nehmen sollte. Der Krieg dauerte schon zu lange und Frieden war nicht in Sicht. Nun kam auch noch dieser bitterkalte Winter dazu und die kleine Wohnung auf dem verlassenen Gutshof, die uns geblieben war, bot gerade mal ein Dach über dem Kopf. Schon lange hatte ich keine Kraft mehr, nachts mit allen Kindern in den Bunker zu laufen. Opa war in Russland und ich besaß kein Geld und keinen Mut mehr.
Mir war nichts geblieben, außer dem Weinen meiner Kinder.“
Ich rutschte unbehaglich auf meinem Platz hin und her. Sollte ich sie unterbrechen und um einen Kakao bitten? Als ich sie ansah, spürte ich, wie wichtig ihr das war, was sie uns sagen wollte und schwieg.
„Ich gab meinen Kindern einen Abschiedskuss. Einige schliefen schon. Schmale ausgezehrte Gesichter, deren Anblick so unendlich wehtat - und begann, mich am Ofen zu schaffen zu machen. Wir würden nichts merken, einfach einschlafen und nie wieder Schmerzen vor Hunger haben, nie wieder frierend in der Dunkelheit sitzen, während draußen die Bomben immer näher fielen. Da klopfte es an der Tür. Ich war müde und ich wollte keine Menschenseele mehr sehen, doch das Klopfen hörte nicht auf und so ging ich mechanisch durch den dunklen Flur und öffnete. Es war niemand da. Suchend blickte ich auf den einsamen Hof. Am Fuß der Treppe stand ein großes Paket. Ich zog es mühsam ins Haus und als ich es öffnete, waren darin Lebensmittel für die nächsten zwei Wochen. Noch einmal lief ich zur Tür, um zu sehen, ob sich da vielleicht jemanden versteckt hatte, der meine Überraschung abwarten wollte, doch es waren keine Fußspuren zu sehen… Ich glaube, es war ein Engel, der uns die Sachen gebracht hat – genau zur richtigen Zeit, sonst säßen wir alle nicht hier.“
„Ach Oma, das waren sicher deine Nachbarn.“, sagte der Älteste von uns und unterbrach so die Stille. Er steckte sich einen Keks in die Hosentasche und verschwand schief grinsend aus der Küche.
Sie lächelte uns an, stand auf und wischte sich mit den mehligen Fingern über die feucht gewordenen Augen. „So und jetzt ab an den Ofen, das Blech ist fertig und einer von euch beginnt schon mal etwas aufzuräumen, das sieht ja aus hier…“
So war sie - und manchmal zur Weihnachtszeit, wenn ich in meiner Küche stehe, allein und ohne Kinderlachen, Trubel und heißen Kakao und ihr Rezept in den Händen halte, dann werde ich an diesen Augenblick erinnert und daran, dass es immer weiter geht – irgendwie…
Zimtschnecken:
400g Mehl und 1 Päckchen Trockenhefe vermischen.
125 g weiche Butter, 3 Eier, 1TL gem. Kardamom und 1 Prise Salz dazugeben und nach und nach 100 ml warme Milch unterrühren.
An einem warmen Ort gehen lassen.
Für die Füllung 4 EL weiche Butter, 4 EL Zucker, 1 TL Zimt verrühren.
Den Teig in Folie ausrollen (dann klebt er nicht so sehr), mit der Füllung bestreichen und zu einer Rolle formen. Dann Scheibchen abschneiden und auf ein gefettetes Backblech legen. Bei 220 Grad 10-15 Minuten goldbraun backen.
(Gewidmet Andreas, der in diesem Jahr zu ihr gegangen ist – wo immer das auch sein mag, und der nun sicher sagen würde: „Ach nee, nicht schon wieder diese Zimtschnecken!“)