Die Nachteile des Plebiszits - Schweizer stimmen gegen Minarett-Neubauten

  • janda : Genau das habe ich gemeint. Auch Wahlentscheidungen zu Gunsten oder Ungunsten einer Partei unterliegen bemerkenswerten, zuweilen unerklärlichen Schwankungen, sind populistisch oder werden als (m.M.n. nutzlose) "Denkzettel" missbraucht, da sind dann plötzlich Skandälchen ausschlaggebend oder vergleichsweise kurze Fernsehauftritte (oder Oderfluten :grin), aber nicht die Programme oder die Vertreter, die man direkt wählt. Immerhin aber - wenn nicht extreme Parteien gewählt werden - entsteht hier kein echtes Dilemma, denn Demokraten sind sie ja fast alle. Und je größer die Macht ist, umso mehr ähneln sie sich, weil Tagespolitik Ideenpolitik übertrumpft.


    Bei Sachentscheidungen sind die Gefahren sehr viel größer. Vor allem, wenn das Thema emotional ist oder emotional genutzt wird. Wenn man auf der Site der SVP (auf deren Initiative hin der Volksentscheid stattgefunden hat) die Argumente gegen die Minarette liest, eine vielseitige Abhandlung über den Islam, über Integration, Terror und viele andere Themen, bekommt man eine Ahnung davon, wie die Debatte im Einzelfall ausgesehen haben mag. Und man sollte nicht vergessen, dass der Entscheid eine Änderung der Bundesverfassung zum Gegenstand hatte. Im Ergebnis soll in der schweizerischen Verfassung stehen, dass der Bau von Minaretten verboten ist. In der gleichen Bundesverfassung steht, dass "Die Glaubensfreiheit ... gewährleistet ist." Ist sie nicht mehr, wenn der Volksentscheid umgesetzt wird. Die Schweiz hätte dann eine widersprüchliche Verfassung.


    Wie schwierig das mit den Emotionen ist, hat eben auch die im ersten Posting von mir zitierte Äußerung von Wolfgang Bosbach gezeigt. Der Mann hat nicht nur keine Ahnung von Fremdwörtern, er gehört seit Jahren schon zu den Politikern, die gerne bei medienpräsenten Themen mitreden, ohne wirklich zu wissen, worum es geht. Anders gesagt: Er ist einer, der (vermeintlich) dem Volk "auf den Mund schaut". Dieserart entstehen dann Diagnosen wie diejenige der "Angst vor Islamisierung". Ich bin, nebenbei bemerkt, sicher, dass es in Deutschland Leute gibt, die tatsächlich Angst vor einer Islamisierung des Landes oder wenigstens größerer Bevölkerungsgruppen haben - zuvorderst sind sie vermutlich unter den Würdenträgern der Amtskirchen zu finden. Viele Ängste sind nur herbeigeredet und wachsen sich dann zur Panik aus (Schweinegrippe, Vogelgrippe und BSE sind gute Beispiele dafür), ohne dass eigentlich Grund zur Sorge besteht. Wenn man einen Volksentscheid mit einer solchen Angst zu verbinden in der Lage ist, führt man eine emotionale Entscheidung herbei, die ohne Sachverstand getroffen wird, und deren Konsequenzen sehr viel schlimmer sein können als das, was man zu vermeiden versucht hat.


    Davon abgesehen hat mir, BJs Ansatz mal ausgenommen, noch niemand schlüssig erläutert, warum die vielen tausend schweizer Muslime keine Minarette haben sollen. Und wie man etwas durch solche Verbote verhindert.

  • Die Gegner gehen davon aus, dass die Religionsfreiheit nicht eingeschränkt wird. Schliesslich "wollen sie nur keine Türme". Die Religionsausübung bleibt weiterhin gewährleistet und will auch von niemandem eingeschränkt werden.


    Genau, @ Bernard, dass sie keine Türme haben sollen, war ja Gegenstand der Abstimmung, welche von 57 Prozent angenommen wurde. Sprich, die Mehrheit hat das demokratisch entschieden. Und knapp die Hälfte der Stimmbürger ging wie gewohnt nicht abstimmen, nehmen ihre Rechte/Pflichten also gar nicht erst wahr. Dass das alles solche sind, die resiginiert haben, kann so nicht gesagt werden. Normalerweise ist die Stimmbeteiligung mehr im Bereich von vierzig Prozent und nicht wie jetzt bei etwas über 52 %.


    Auch wenn es keine Abstimmung gegeben hätte, einfach so kann keiner Minarette bauen; andere Gebäude und Bauten (z. B. Tiefbau, Innenausbau wie z. B. Dachfenster, Erdsonden, Solarzellen auf dem Dach, Wintergarten, sogar das Gartenhaus etc.) auch nicht.
    Dafür braucht es Baubewilligungen, welche auf Gemeinde- und je nachdem auf Kantonsebene bearbeitet werden. Dann läuft das Einspracheverfahren etc. etc. Dazu kommen die Auflagen von Kulturgüter-/Heimatschutz, Raumplanungsgesetzen und so weiter. Ist man mit einem negativen Bescheid nicht einverstanden, folgt der Weg über die Gerichte. Ein langer und mühsamer Weg.


    [edit] Gänsefüsschen gesetzt.

    Suche die Stille auf, damit du die Ruhe findest.

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von fabuleuse ()

  • Zitat

    Schliesslich wollen sie nur keine Türme.


    Wow, das schreit eigentlich nach einer bitterbösen Antwort. Einer, die mit geschichtlichen Vergleichen gespickt ist. Aber da sich die Beteiligten das inhaltlich vermutlich denken können, erspare ich uns das.

  • Das kannst du halten wie du willst ;-)
    Ich gebe lediglich den Inhalt der Abstimmungsvorlage wieder.


    Im Moment kommt mir alles ziemlich aufgebauscht vor. Nicht mal die Politiker sind sich einig, was sie nun wem und wie sagen sollen.

  • fabuleuse : Das Referendum - das ja schon im Jahr 2007 initiiert wurde - sollte ursprünglich noch sehr viel mehr beinhalten. Da sollten noch "Zwangsehen", "Ehrenmorde" und einiges andere mit abgestimmt - verboten - werden. Da völlig klar war, dass diese unsinnigen (weil längst durch Gesetz und Verfassung abgedeckten) Anträge abgewiesen werden würden, zog man sie zurück, aber sie blieben Bestandteil auch der argumentativen Kausalkette. Der Minarett-Entscheid wurde bewusst auf die fundamentalistischen, die integrationsresistenten Muslime reduziert, von denen es in der Schweiz nur sehr wenige gibt; verhältnismäßig sogar sehr viel weniger als etwa in Deutschland. Vor dem Hintergrund völlig religionsunabhängiger Ängste - auch die Schweiz trifft die Finanzkrise, sogar härter als manch anderes Land - wurde das dann genutzt, um eine "Mehrheit" eine letztlich fremdenfeindliche Entscheidung treffen zu lassen, wobei sich das Adjektiv "fremd" auf "alles, was nicht zu unserer Kultur gehört" bezieht. Nicht vergessen werden sollte auch, dass viele Gegner diese Abstimmung boykottiert haben, weil sie es für unrichtig hielten, dass überhaupt zu diesem Thema abgestimmt werden sollte.


    Wenn "sie" nur "keine Türme" wollen, warum sind dann Kirchtürme weiterhin erlaubt?

  • Weil die bestehenden Kirchtürme nicht abgerissen werden, genausowenig übrigens, wie die bestehenden Minarette.
    Neue Kirchen werden kaum mehr gebaut, und eine der neuesten davon, die Botta-Kirche, hat keinen Turm oder ist einfach ein Turm ;-)
    Von daher ist das eine müssige Feststellung.


    Es handelte sich bei der Minarettabstimmung um eine Initiative, nicht um ein Referendum, das ist ein grosser Unterschied.


    Und in der Unterschriftensammlung ging es um die Türme, nicht um weiterführende Forderungen. Mit den Argumenten Scharia, Zwangsehen, Beschneidung (passiert ja leider auch hier) etc. wurden zusätzlich Ängste geschürt.


    Das Problem integrationswilliger Menschen ist, dass der (oft beträchtliche) Teil, der nicht willens ist, halt alle mit runter zieht. Egal um welche Landsleute es sich handelt. Das ist bei euch mit z. B. den Türken oder in Frankreich mit den Maghrebinern und anderen Arabern nicht anders.

  • Zitat

    Original von Tom
    Nicht vergessen werden sollte auch, dass viele Gegner diese Abstimmung boykottiert haben, weil sie es für unrichtig hielten, dass überhaupt zu diesem Thema abgestimmt werden sollte.


    Womit wohl bewiesen ist, dass eine Verweigerungshaltung nur in den seltensten Fällen dazu führt, dass die eigene Position sich durchsetzt. :rolleyes
    "Selbst schuld" trifft es wohl am besten.


    Zitat

    Original von Tom
    warum sind dann Kirchtürme weiterhin erlaubt?


    Weil die Schweizer ihre Stimmzettel gelesen haben und da "Minarette" drauf stand. Vielleicht bringt ja mal irgendwer ein Volksbegehren gegen Kirchtürme ein.

  • Zitat

    Das Problem integrationswilliger Menschen ist, dass der (oft beträchtliche) Teil, der nicht willens ist, halt alle mit runter zieht. Egal um welche Landsleute es sich handelt. Das ist bei euch mit z. B. den Türken oder in Frankreich mit den Maghrebinern und anderen Arabern nicht anders.


    Oder mit den "Ureinwohnern" des Landes selbst. Wie im vorliegenden Fall: 57 Prozent derjenigen Schweizer, die zur Abstimmung gegangen sind. :grin Merke: Integration ist ein bilateraler Prozess.

  • Integration ist kein bilateraler Prozess.


    Die Einheimischen pochen mit Recht darauf, dass sich Gastarbeiter (wie ich) und Einwanderer einfügen, wenn sie Teil der einheimischen Gesellschaft sein wollen. Touristen lässt man einiges durchgehen, aber Leute, die sich ihr Brot im jeweiligen Land verdienen, müssen sich schon den Gepflogenheiten anpassen.
    When in Rome do as the Romans do. (Gibt es das Sprichwort eigentlich auch auf Deutsch?)
    Ich renne schliesslich auch nicht herum wie es mir passt, sondern so, dass ich andere Menschen nicht vor den Kopf stosse und ausserdem respektiert werde.


    Zum Thema: Die Mehrheit der Schweizer hat sich gegen Minarette ausgesprochen. Das muss respektiert werden. Es ist eben eine direkte Demokratie.

  • Oryx :


    Zitat

    Integration ist kein bilateraler Prozess.


    Stimmt. Tatsächlich ist es nämlich sogar ein multilateraler Prozess.


    Und übrigens auch einer, der stattfindet, obwohl vollmundig vom "Scheitern der Integration" gesprochen wird - oder sich Schweizer gegen den Neubau von zwei (!) Minaretten aussprechen, und dafür sogar ihre Verfassung ändern.


    Du scheinst Integration mit Assimilation zu verwechseln. Mögen die Schweizer jetzt auch die "Borg" Europas sein, jedenfalls vorübergehend, so ist Integration aus soziologischer Sicht ein Vorgang, bei dem sich eine gesamte Gesellschaft über den Wechsel ihrer Zusammensetzung ändert. Integration bedeutet nicht, dass diejenigen, die neu hinzukommen, ihr Verhalten, ihre Kultur und ihren Hintergrund ablegen, um zu ureinwohnerähnlichen Mutanten zu werden, denen man nach ein paar Jahren nicht mehr anmerkt, dass sie anderswo herkommen. Das ist - nach einem völligen Verzicht auf solche Leute - eher der Wunsch der Herrschaften vom rechten Ende der politischen Skala. Integration bedeutet, dass man durch das Hinzufügen neuer Teile zu einem anderen Ganzen kommt. Und das geht nur, wenn sich alle ändern, auch diejenigen, die vorher schon da waren und mit aller Macht darauf pochen, einerseits ihr gutes, altes System zu behalten - und gleichzeitig z.B. die billigen Arbeitskräfte von außerhalb.


    Integration bedeutet also nicht, Neues einem unveränderlichen Alten hinzuzufügen, im Idealfall sowieso nur in homöopathischen Dosen, die man nicht bemerkt. Sie bedeutet natürlich auch nicht umgekehrt, dass sich die Alteingesessenen bis zur Selbstaufgabe verbiegen müssen, um den Neuen das Leben in der andersartigen Gesellschaft zu ermöglichen. Wenn Integration funktioniert, entsteht eine Gesellschaft, in der alle Arten von Leben möglich sind, ohne dass sich irgendwer daran stößt. Das bedingt allerdings auch eine gewisse Offenheit dem Neuen, Anderen gegenüber, und dafür scheinen viele Menschen einfach nicht gemacht zu sein.


    Diese hübschen Vergleiche mit den Touristen und den wenigen Auswanderern, die es aus den bequemen europäischen Ländern in ferne, andere Länder zieht, verkennen, dass es nicht um ein paar Einzelschicksale geht, sondern um Gruppen von durchaus relevanter Größe. Davon abgesehen sollte jemandem, der Respekt vor dem Leben hat, auch und immer bewusst sein, dass jedes Einzelschicksal auch tatsächlich eines ist: Man hat nur ein Leben, und es sollte jedem vergönnt sein, es bestmöglich zu führen. Migration, also ein Wohnortwechsel (in eine andere Nation), ist ein großer Schritt ins Unbekannte, nicht selten vor dem Hintergrund großer persönlicher Not. Wer solche Menschen in die Assimilation zwingt, fügt dieser Not eine weitere hinzu - eine, die nicht notwendig ist.


    Fraglos ist all das mit großen Schwierigkeiten verbunden. Ghettobildung, großes soziales Gefälle, Kriminalität, kulturelle und soziale Abgrenzung. Nicht wenige "Menschen mit Migrationshintergrund" verstehen sich auch in der x-ten Generation noch nicht als Bestandteil der "Zielgesellschaft", die dadurch wiederum großen Schwierigkeiten ausgesetzt ist. Das alles muss man nicht diskutieren oder erklären, aber auch nicht aufbauschen oder stigmatisieren. Sondern im Idealfall daran mitarbeiten, dass es besser wird. Denn keine der Alternativen ist praktikabel und/oder "lebbar". Aber das, was die Schweizer getan haben, ist definitiv ein Schritt in die falsche Richtung.

  • Zitat

    Original von Tom
    Wenn Integration funktioniert, entsteht eine Gesellschaft, in der alle Arten von Leben möglich sind, ohne dass sich irgendwer daran stößt.


    Gibt es in der bekannten Weltgeschichte ein Beispiel dafür, dass das einmal gelungen wäre?
    :gruebel


    Zitat

    Original von Tom
    Aber das, was die Schweizer getan haben, ist definitiv ein Schritt in die falsche Richtung.


    Das kommt wohl darauf an, ob sie sich eine Zielgesellschaft mit Minaretten wünschen oder eine ohne.

  • Übrigens hält auch ein Vertreter der Kirche - Weihbischof Hans-Jochen Jaschke - die Entscheidung für falsch. Hier gehts zum Interwiev: Klick.


    Er nennt ziemlich deutlich den Punkt, der mich an dieser Abstimmung auch sehr arg stört, indem er sagt, dass Religionsfreiheit bedeutet, seine Religion auch nach außen - eben z.B. durch Gebäude und die dazu gehörigen Türme - zu zeigen. Die schweizer Christen haben diese Freiheit nun weiterhin, die Muslime sind in dieser Freiheit eingeschränkt - da geht es eben nicht nur um ein paar Türme, sondern um die Beschneidung der Religionsfreiheit.


    Erschreckend finde ich auch die Art und Weise, wie vor der Entscheidung geworben wurde. Wahrscheinlich kennt ihr alle das Plakat mit der Frau in der Burka und den Minaretten im Hintergrund (die Raketen verdächtig ähnlich sehen). Da wird scheinbar alles, was mit dem Islam zusammenhängt, schön in einen Topf geworden und dämonisiert.


    Was die Integration angeht: Da kann ich Tom zustimmen. Ich denke auch, dass das ein Prozess ist, der von beiden Seiten ausgehen muss. Man kann nicht einfach sagen: So, liebe Muslime, integriert euch mal bitte. Wie soll das bitte gehen? Da müssen von der anderen Seite, also den "Einheimischen" auch Anreize und Angebote kommen. Ein Verbot der Minarette lässt bei Muslimen sicher nicht den Eindruck entstehen, dass die andere Seite eine Integration wünscht. Deshalb setzt ein solches Verbot einfach ein falsches Zeichen, es schürt Ängste und Vorurteile, auf beiden Seiten.


    Deswegen glaube ich auch, dass solche eine Entscheidung nicht durch eine Entscheidung in einem Parlament zustande gekommen wäre, da Berufspolitiker (die Mehrheit der Berufspolitiker zumindest, die Initiative für die Abstimmung kam schließlich auch von Berufspolitikern) sich vermutlich über die Folgen bewusster gewesen wären. Insofern kann ich den Titel des Threads "Die Nachteile des Plebiszits" schon nachvollziehen. Ich stehe Volksentscheiden grundsätzlich eher positiv gegenüber, aber bei solchen Entscheidungen sehe ich eben auch die Nachteile, die es mit sich bringt, wenn politisch wenig gebildete Menschen über etwas abstimmen, das weitreichende Folgen haben kann.


    Dass dieses Verbot nicht nur ein normales Gesetz ist, sondern auch noch in der Verfassung steht, lese ich hier zum ersten Mal. Es ist wirklich widersprüchlich und sehr erschreckend, dass ein solches Verbot in eine demokratische Verfassung aufgenommen wird.

  • Zitat

    Original von Glass


    Erschreckend finde ich auch die Art und Weise, wie vor der Entscheidung geworben wurde. Wahrscheinlich kennt ihr alle das Plakat mit der Frau in der Burka und den Minaretten im Hintergrund (die Raketen verdächtig ähnlich sehen). Da wird scheinbar alles, was mit dem Islam zusammenhängt, schön in einen Topf geworden und dämonisiert.



    Ja, und das ist die Sache, warum ich mit solchen Volksentscheiden arge Bauchschmerzen habe. Da werden die Emotionen der Wähler angesprochen, Ängste geschürt und die Vorurteile genutzt und so ein Thema hinmanipuliert, um Stimmung zu machen.
    Da geht es eben nicht nur darum: passt ein Minarett in unser beschauliches kleines Städtchen? Das zeigt solche Plakatwerbung doch sehr deutlich.
    Und die Plakatierer haben eine gute Werbekampagne geführt und ihr Ziel erreicht.
    Genausowenig wie es in Kalifornien in den Kampagnen nur darum ging, die Heirat von Homosexuellen abzuschaffen - da wurde in der Kampagne die Homophobie der wählenden Mehrheit bestens geschürt.

    :lesend
    If you can read, you can empathize, luxuriate, take a chance, have a laugh, hit the road, witness history, become enlightened, turn the page, and do it all again
    Oprah Winfrey

  • Glass :


    :write


    Wie Politikwissenschaftler Udo Vorholt in dem weiter oben verlinkten Interview sagte - Plebiszite können funktionieren, wenn "(das Volk) den gleichen Informationsstand (...) hat, wie diejenigen, die die politischen Entscheidungen in unserem System umsetzen."


    Wer eine Entscheidung unter falschen Voraussetzungen, ohne Kenntnis der Konsequenzen, der Umstände, der Beweggründe, aller Hintergründe trifft, trifft automatisch eine falsche Entscheidung - übrigens auch, wenn sie in der Konsequenz "richtig" ist (er hätte sich besser überhaupt nicht beteiligt). Wenn ich als Vater aus zweiter Hand erfahre, dass Klassenkamerad XY meines Sohnes ein gefährlicher Vollidiot ist, dieser Information Glauben schenke und deshalb meinem Sohn den Umgang mit XY verbiete, habe ich mich manipulieren lassen, nichts weiter (selbst wenn XY tatsächlich gefährlich ist). Wenn mir Leute erzählen, dass Minarette Ausdruck der "Islamisierung" des eigenen Landes sind, die der Ghettobildung, Ausgrenzung oder "feindlichen Übernahme" Vorschub leisten, und ich entscheide mich auf Basis dieser Informationen dagegen, dann hat das mit plebiszitärer Demokratie nicht sonderlich viel zu tun. Und damit kommen wir wieder zum Kern der Problematik und zu meinem Ausgangsposting. Obwohl ich die gestrige Entscheidung für falsch und bedauerlich halte, ging es mir in der Hauptsache nicht darum, sondern um den Akt insgesamt. Volksentscheide sind ein wohlfeiles Instrument, um zu manipulieren und zu polarisieren. In Berlin gab es in diesem Jahr auch einen Volksentscheid (bzw. ein Volksbegehren, die Vorstufe eines Volksentscheides), übrigens - wenig erstaunlich - auch zum Thema "Religion": Die Kampagne "Pro Reli" versuchte, das Unterrichtsfach "Religion" als Wahlpflichtfach gleichwertig neben dem bestehenden Wahlpflichtfach "Ethik" zu etablieren (Religion ist in Berlin ein fakultatives Unterrichtsfach). Um dies zu erreichen, wurde gezielt die Fehlinformation gestreut, "Ethik" würde anstelle von "Religion" unterrichtet werden. Tatsächlich aber konnte (und kann) jeder, der wollte, Religionsunterricht bekommen - zusätzlich zu "Ethik". Glücklicherweise hat die Kampagne ihr Ziel verfehlt. Aber auch hier ist versucht worden, über die Manipulation der Entscheidenden, die sich oft nicht die Mühe machen wollten, sich ausführlich über das Thema zu informieren, eine Richtungsänderung herbeizuführen. Und gleichzeitig der amtierenden Landesregierung ans Bein zu pinkeln. Das ist die grundsätzliche Gefahr bei Plebisziten: Ein Thema wird emotionalisiert, seines Kontextes entledigt und in einen ganz anderen verfrachtet. Häufig wird das "Problem" auch noch aufgebauscht, und es erscheint wesentlich dringlicher, als es das tatsächlich ist. Die Wähler haben häufig überhaupt nicht die Möglichkeit, mindestens aber nicht die Muße, sich alle Informationen zu verschaffen, und fallen auf populistische Propaganda herein. Und das ist m.E. gestern auch in der Schweiz passiert.

  • Tom : Nein, ich verwechsele nicht, sondern setze gleich. Integration bedeutet Assimilation im öffentlichen Leben der Gesellschaft, in der man lebt. Was jeder dann daheim treibt, ist Privatsache.
    Ich kann von dem Land, in dem ich lebe, nicht erwarten, dass es sich an meinen Werten orientiert oder denen argentinischer Juden oder denen libanesischer Christen. Erst recht nicht, wenn wir nicht Staatsbürger sind.


    (Ein laizistisches Land wie Mexico mit überwiegend katholischer Bevölkerung wird sich bedanken, wenn auf einmal verhüllte Menschen oder Türme fremder Religionen Flagge zeigen. Bis vor ein paar Jahren durften die Mexikaner selbst auf Passbildern keine Kreuze oder Davidsterne tragen. Nonnen und Priester durften in der Öffentlichkeit keine Kutten tragen. Religion war und ist auch heute noch Privatsache.


    Ausländer dürfen sich nicht an Demonstrationen beteiligen, selbst wenn sie jahrzehntelang im Land leben. Ausländer, die keine Arbeit haben und keine Steuern bezahlen und mit keinem mexikanischen Staatsbürger verheiratet sind, müssen innerhalb von 14 Tagen einen Job finden oder das Land verlassen. Der Staat schützt ausdrücklich seine eigene Bevölkerung und duldet Ausländer nur so lange sie Geld einbringen. Selbst "nationalized citizens" dürfen keine Positonen bei der Polizei, Militär, usw. einnehmen, siind also Bürger 2. Klasse.)

  • Hallo, Oryx.


    Zitat

    Integration bedeutet Assimilation im öffentlichen Leben der Gesellschaft, in der man lebt.


    Das mag erstens in Mexiko so sein und ist zweitens Quatsch. Eine "Gesellschaft, in der man lebt" besteht - unter anderem - aus einem selbst. Diese Gesellschaft ist kein abstraktes Konstrukt, in das man sich einzufügen hat, koste es, was es wolle, sondern die Summe aller Bestandteile - Gesellschaften bestehen aus ihren Mitgliedern. Und eine integrative Gesellschaft, die sich auch zu recht so nennt, betreibt eben keine Assimilation, sondern wandelt sich durch die Integration. Das ist übrigens im Ergebnis weit weniger schmerzvoll, als viele anzunehmen scheinen. Es geht ja nicht darum, dass plötzlich alle Kopftücher tragen sollen und von jeder Straßenecke ein Muezzin brüllt (so aber wird es gerne dargestellt), sondern darum, zu tolerieren, und gleichzeitig die eigenen Freiheiten weiter ausleben zu können.


    Es gibt viele Staaten auf dieser Erde, die mit Zuwanderern, Migranten und Neubürgern auf recht widerwärtige Weise umgehen. Nicht wenige lassen überhaupt keine Zuwanderung zu. Diese Länder sind aber bestenfalls Negativbeispiele - und keine Definitionsgrundlage.

  • Die Schweiz hat keine Berufspolitiker. Die Damen und Herren treffen viermal jährlich zu einer Session zusammen, die jeweils drei Wochen dauert. In der Regel haben alle einen Beruf (Angstellte oder eigene Firma) und müssen alles unter einen Hut bringen. Und sie sind als Vertreter des Volkes gewählt, ob sie dann auch die Volksmeinung vertreten, steht auf einem anderen Blatt.


    Integration heisst - wie ich schon vorher geschrieben habe - die eigene Kultur zwar behalten, sich aber den Gepflogenheiten des Gastlandes anzupassen und nicht deren Kultur nicht akzeptieren wollen.
    Dazu gehört, dass man Krippenspiele weiterhin aufführen darf. Es kam schon vor, dass darauf und auf das Singen von Weihnachtsliedern verzichtet wurde, weil jemand fand, das verletze seine Würde. Da hat sich die Mehrheit auch einer einzigen Person gebeugt, und das sind die Dinge, die bei der Abstimmung wohl einigen aufgestossen sind.


    Integragtion heisst aber auch, dass z. B. Hassan und Yasmine, die freiwillig den Religionsunterricht der reformierten Kirche besuchen, mit auf den Jakobsweg dürfen (weil sie das so wünschen und die Eltern es erlauben), der hier in der Nähe vorbeiführt. Ihnen ist es freigestellt, ob sie die katholische Kirche besichtigen wollen oder nicht. Die meisten Kinder, egal ob einer Religion zugehörig oder gar keiner, machen das volle Programm mit und geniessen den Tag.


    Was hier auch für die Integration getan und gerne genutzt wird, zumindest hier herum: Die Sprachkurse. Für Frauen und Kinder gibt es eine eigene Gruppe, sie haben extra ein Programm, das sie mit den Gegebenheiten rund um die Kinder vertraut macht. Also von Mütterberatung (betreuung der Mütter Neugeborener bis ungefähr vier, fünf Jahre), Krabbel- dann Spielgruppe, Kindergarten und Schule.
    In der Schule selber werden Flugblätter mit Informationen über die diversen Anlässe mittlerweile in ungefähr neun oder zehn Sprachen übersetzt. Die Angebote werden genutzt.
    Und was gegenseitige Integration auch sein kann: Ein Arbeitgeber schickt seine Angestellten (vorwiegend aus dem Balkan und von weiter östlich, aus Portugal und Spanien) in die Sprachkurse. Wer den Kurs zu 80 Prozent besucht hat, erhält die Kurskosten zurückerstattet. Und die Schweizer werden - zum Glück - aufgefordert, anständig Deutsch mit ihnen zu sprechen und nicht "Doofsprache". Also nicht: Ich machen Salat, du holen Schüssel und bringen Kartoffel zu Chef *grusel*


    Glass, es war jedem Stimmberechtigten unbenommen, ein Ja oder ein Nein in die Urne zu legen. Wer gestern nicht seinen gesunden Menschenverstand einschaltete, dem ist wohl auch sonst nicht zu helfen. Wer für ein Nein war, blieb dabei, die "zweifelhaften" haben wohl in letzter Minute entschieden. Und wie schon geschrieben, über die Ethik der Plakate muss man wohl keine Worte verlieren. Und die sind auch etlichen Befürworten sauer aufgestossen.


    Übrigens, ich bin gerade zurück von "gelebter, direkter Demokratie", sprich einer Gemeindeversammlung, und werde das Morgen und für den Rest der Woche täglich haben.
    Was vielen im Ausland offenbar auch nicht bewusst ist: Die meisten Zuzüger haben auf kommunaler und kantonaler Ebene (wir haben es hier sogar in unserer Kantonsverfassung) das Stimm- und Wahlrecht und können sich selber auch in den Gemeinderat und Kommissionen wählen lassen. Wichtig und Voraussetzung ist, dass man eine der Landessprachen spricht. Mit Deutsch ist nicht Dialekt gemeint ;-)
    Auch das ist Integration.



    Wer entscheidet, was ein Schritt in die falsche oder richtige Richtung ist? Das kann wohl nur die Zukunft weisen. Und es bleibt zu hoffen, dass das, was viele als "einen Schuss vor den Bug der Regierung" bezeichnen, gut ausgeht.


    Was das boykottieren der Abstimmung angeht, so kann ich das nicht bestätigen. Im Gegenteil, war die Stimmbeteiligung deutlich höher als sonst. Und was ich beim Auszählen gesehen habe: es sind eh immer die Gleichen und ein paar Neue dazu, die ihre Stimmzettel abgeben.
    Sollte es tatsächlich Gegner gegeben haben, die die Abstimmung boykottierten, dann sind sie dämlich. Denn damit haben sie geholfen, diese Entscheidung herbeizuführen, die sie so wahrscheinlich nie wollten. Von daher ist das mit dem Boykott hanebüchen.