Hallo, Bernard.
Einerseits, andererseits.
In einer repräsentativen Demokratie - wie der unsrigen - wählt das Volk seine Vertreter (im direkten Sinn des Wortes) und überlässt ihnen die notwendigen Einzelentscheidungen. Es wird also jemand gewählt, dem man den Sachverstand zutraut, die "richtigen" Entscheidungen zu treffen, und man hat als Wähler nicht die Notwendigkeit oder sogar Pflicht, sich in jeder Einzelfrage schlau zu machen - das überlässt man dem "Vertreter". Damit geht (leider, mag mancher sagen) auch einher, dass der gewählte Vertreter nicht an Einzelfragen gebunden ist, sogar, mehr noch, sich schließlich im Parlament anders verhalten kann, als er zuvor versprochen hat. Das geschieht übrigens nicht nur (wie gerne behauptet wird), weil man die Wähler zuvor getäuscht hat, sondern weil man als in das Parlament eingebundener Volksvertreter erkennen muss, dass Einzelentscheidungen niemals unabhängig von anderen sind, und weil es noch viele weitere Zwänge gibt, nicht zuletzt finanzielle. Das einzige, was der Wähler noch als Richtungsentscheidung mitwählt, ist die Parteizugehörigkeit des jeweiligen Vertreters. Er stellt damit (aus seiner Sicht) sicher, dass alle Entscheidungen, wenn sie auch vorherigen Versprechungen widersprechen, zumindest in etwa einer bestimmten politischen Linie genügen werden.
Diesen Volksvertretern obliegt aber nicht nur die Pflicht, in vielen Einzelfragen ja oder nein zu sagen. Sie bereiten die Entscheidungen (mit) vor, sie sind an der Umsetzung beteiligt, etwa beim Entwurf von Gesetzestexten oder Umsetzungsvorschriften. Als Bestandteil des "Apparats" sehen sie (im Idealfall!) nicht nur die Einzelfrage, sondern auch ihre Wertigkeit bezogen auf das ganze. Und es gibt tatsächlich nur wenige Einzelfragen, die sich aus dem Ganzen herauslösen lassen. Kann man für die EU eintreten und gleichzeitig gegen den Euro sein? Kann man den aktiven Versuch unternehmen, die Wirtschaft zu stärken, ohne dass man der Türkei wenigstens suggeriert, sie würde eines Tages EU-Mitglied werden? Kann man aktiver Bestandteil des sicherheitspolitischen Weltgefüges sein, sich aber bei Einsätzen wie im Kosovo oder in Afghanistan zurückhalten? Die Fragen sind tatsächlich sehr viel vielschichtiger; vieles (fast alles) hängt irgendwie zusammen.
Und dann stellt sich noch die Frage nach der Kompetenz des Wählers. Nach einer "Polizeiruf 110"-Folge wie der (sehenswerten!) gestrigen, die vermutlich so was um die 10 Millionen Leute angeschaut haben, dürfte ein Votum bezüglich des Afghanistan-Einsatzes anders ausfallen als zum Beispiel noch am vergangenen Freitag. Vielleicht wäre es am kommenden Freitag schon wieder anders. Meiner Meinung nach aber kann man eine solche Frage nicht unabhängig vom gesamten Rest entscheiden. Sie hat vielschichtige Implikationen, die bei einer Verneinung dazu führen müssten, dass man vieles in Frage stellen müsste. Die gesamte Außenpolitik würde sich verändern. Die Bedeutung des Staates Deutschland auch. Und eine Regierung, die eine andere Haltung dazu hat, als das Volk in dieser Einzelfrage, wäre im Prinzip danach nicht mehr regierungsfähig.
So reizvoll, wie es scheint, das Volk in Einzelfragen abstimmen zu lassen, und sei es auch nur, um sich "abzusichern", so gefährlich ist das auch. Viele Wähler wissen wenig (ich schließe mich da ein), und deshalb ist es besser, sie kompetente(re) Vertreter wählen zu lassen, als ihnen riskante Einzelentscheidungen zu überlassen. Das hat das Beispiel Schweiz m.E. gestern überdeutlich gezeigt. Dort hat man sich dafür entschieden, eine Gruppe zu unterdrücken. Nicht mehr und nicht weniger. Eine beherrschende religiöse Gruppe hat sich die Maske der Toleranz vom Gesicht gerissen und klar festgehalten, dass sie das Erstarken einer anderen Gruppe mit allen Mitteln bekämpfen wird. Das hat mit Demokratie nichts zu tun. Denn Demokratie bedeutet, dass nicht nur die Mehrheit bestimmt, sondern die Minderheiten auch Schutz genießen.