Jahres-Gewinner Schreibwettbewerb 2009!

  • Liebe Eulen,


    hier findet Ihr alle Monats-Gewinner-Beiträge des Jahres 2009.


    Vom 01.12.2009 bis zum 28.12.2009 habt Ihr die Möglichkeit, Euren Favoriten des Jahres 2009 zu wählen. Für die Abstimmung wird ein Extra-Punktethread eingerichtet, in dem Ihr wie üblich 3-2-1 Punkte verteilen könnt.


    Der Jahres-Gewinner des Schreibwettbewerbs 2009 erhält von uns einen Büchergutschein von Amazon.de über


    25,- EUR.


    Viel Erfolg!

  • "Konjunkturpakete"
    Thema: Krise
    Autor: churchill
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    „Du, Liebling?“
    „Ja, mein Schatz?“
    „Du hast mich doch lieb, oder?“
    „Natürlich. Das weißt du doch.“
    „Sag mal, du hast doch letztens gesagt, dass wir eigentlich ein neues Auto brauchen könnten ...“
    „Habe ich das?“
    „Ja, das hast du gesagt. Und wir bräuchten doch eigentlich wirklich eins“
    „Schon ...“
    „Aber?“
    „Wir bräuchten auch einen neuen Fernseher. Einen DVD-Recorder. Und ein Notebook. Dann wäre da noch die Kreuzfahrt und das Haus. Könnten wir auch brauchen ...“
    „Schatz, du nimmst mich nicht ernst. Hast du heute nicht die Nachrichten gehört?“
    „Doch. Selbstverständlich nehme ich dich ernst.“
    „Nimmst du nicht“
    „Nehme ich doch. Sehr sogar.“
    „Wirklich?“
    „Wirklich.“
    „Und wie lautet deine Antwort?“
    „Nein.“


    „Liebling?“
    „Ja?“
    „Ich habe dich doch gefragt, ob du die Nachrichten gehört hast.“
    „Habe ich.“
    „Da haben die gesagt, dass wir jetzt 2500 Euro kriegen, wenn wir ein neues Auto kaufen. Und die Krankenkasse wird billiger. Und für jedes Kind kriegen wir noch 100 Euro extra.“
    „Kriegen wir nicht.“
    „Doch, das hat die Koalition beschlossen!“
    „Kriegen wir trotzdem nicht.“
    „Wieso nicht?“
    „Wir haben keine Kinder.“
    „Aber theoretisch kriegen wir das.“
    „Es bringt uns aber praktisch nichts.“
    „Aber 2500 Euro für ein neues Auto bringen uns was. Das siehst du doch ein, oder?“
    „Nein.“


    „Du ...“
    „- - -“
    „Du, ich rede mit dir.“
    „Leider.“
    „Was hast du gesagt???“
    „Ich sagte: Leider habe ich das gerade nicht gehört“
    „Hast du wohl! Ganz genau hast du mich gehört. Also gut, wir haben keine Kinder. Aber wir können doch auf die unglaubliche Chance nicht verzichten, für ein neues Auto 2500 Euro geschenkt zu bekommen!“
    „Doch.“
    „Du, ich habe da einen ganz süßen Wagen gesehen, der würde supergut zu mir passen. Und dann noch die 2500 Euro.“
    „Nein!“
    „Warum denn nicht?“
    „Die 2500 Euro bekommt nur der, der ein mehr als 10 Jahre altes Auto abwrackt.“
    „Der was?“
    „Abwrackt.“
    „Was?“
    „Dich.“

    „Hab ich das jetzt richtig gehört?“
    „Kaum.“
    „Bitte???“
    „Kaum möglich, dass du die Abwrackprämie bekommst. Zumindest nicht für dein Auto. Das ist nämlich noch keine 10 Jahre. Im Gegensatz zu ...“
    „Zu ...?“
    „Zu bedenken ist, dass die ganzen Maßnahmen auf uns nicht zutreffen. Also vergiss es.“


    „Ich kann das nicht vergessen. Wir können doch unsere Wirtschaft nicht verkommen lassen. Vor allem nicht die Autoindustrie. Wenn wir jetzt alle ein neues Auto kaufen, dann ist unser Land gerettet. Das hat die Kanzlerin gesagt.“
    „Wir kaufen aber kein neues Auto.“
    „Zu spät.“
    „- - -“
    „Hörst du?“
    „- - -“
    „Ich sagte: Zu spät!“
    „Das heißt?“
    „Ich hab das Auto schon gekauft. Das mit der Prämie haben die mir da nicht so genau erklärt wie du. Die haben gesagt, es wäre genau richtig, dass ich gerade heute ein Auto kaufe. Weil es die Kanzlerin gesagt hat. Und der Außenminister. Und weil es auch der bayrische Ministerpräsident gesagt hat, habe ich extra ein bayrisches Auto ... Du ... Liebling ... Was ist denn? ... Wohin ...?“
    „- - -“
    „Gehst du???“
    „Ja.“
    „Wohin?“
    „Wirtschaft. Unterstützen. Praktisch. Nachhaltig. Für immer.“

  • "Dürre Zeiten"
    Thema: Familienbande
    Autor: Ushuaia
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    „Ist sie tot?“


    „Mh“, der alte Zhang blickte nicht auf. Dumme Frage. Natürlich war sie tot. Am Morgen war auch die letzte Kuh klapperdürr umgefallen. Einfach so. Nur mehr ein Gerippe.


    Keine lebende Kuh lag ansonsten so herum.


    Seit Stunden war er nun hier gehockt, neben dem toten Vieh und hatte eine Lösung gesucht. Es gab keine mehr.


    „Was habt ihr sie auch noch so lange herumstehen lassen? Das Vieh hat auch noch die letzten Gräser abgefressen, völlig nutzlos“, meckerte Lao Gao.


    „Ja, ja, du weißt alles besser.“


    Der alte Zhang seufzte. Aus den Knochen würden seine Schwiegertochter wenigstens noch ein paar Töpfe Suppe für die ganze Familie herausholen. Es war die letzte Kuh des Dorfes gewesen. Ein paar Schweine gab es noch. Ein paar Hühner und Gänse auch. Aber nicht viele. Und die wenigen, die es noch gab, würden es nicht mehr lange machen. Wenn nur die Dürre endlich enden würde. Wenn es nur endlich wieder einmal regnen würde.


    Lao Gao hatte anscheinend den ganzen Tag Zeit heute. Er schmauchte weiterhin an seiner höllisch stinkenden Zigarette und bewegte sich nicht von der Stelle.


    „Xiao Gao fährt heute Mittag ins Tal“, sagte er schließlich in die Stille hinein.


    Zhang blickte auf. Xiao Gao war Lao Gaos jüngster Sohn. Wie kam es, dass er für sein klappriges altes Auto noch Benzin hatte? Aber die Familie Gao hatte immer gewusst, wie man sich Vorteile verschaffte.


    Im selben Moment hüpfte Meiling die schiefen Stufen herunter.


    Zwei alte Augenpaare richteten sich auf das Kind. Zhangs jüngste Enkelin. Seine einzige Enkelin, neben den drei Enkeln. Mager, ihre Augen groß vor Hunger, das kurze Haar struppig. Seit Wochen hatten sie kaum noch Reis. Und die diesjährige Ernte würde ganz ausfallen. Die Frauen waren schon jeden Tag unterwegs und sammelten Essbares.


    „Xiao Gao wird Suyin mitnehmen.“


    Zhang wendete sich bedächtig zu Lao Gao um. Die Augen des alten Mannes waren auf die verdorrten Felder gerichtet, auf die die Sonne seit Monaten erbarmungslos herunterbrannte. Suyin war Lao Gaos Enkelin. Sein Augenstern.


    Der alte Zhang schluckte. Jetzt war es also soweit. Seit der Wirtschaftskrise war alles aus. Sein zweiter Sohn, der als Wanderarbeiter unterwegs war, schickte seit Monaten kein Geld mehr heim. Er wusste, dass es bei Lao Gao nicht viel anders war. Zwei seiner Söhne waren als Wanderarbeiter nach Shanghai gezogen. Auch er hatte seit Monaten nichts mehr von ihnen gehört und kein Geld mehr bekommen, er wusste nicht einmal wo sie waren.


    „Xiao Gao fährt los, wenn die Frauen unterwegs sind. Er wird unten auf Meiling warten.“


    Abrupt wandte Lao Gao sich um und schlurfte davon.


    Zhang starrte wieder auf die tote Kuh.


    Wie lange würden sie von dem Geld leben können, das sie für die beiden Mädchen bekamen?

  • "Scheidung"
    Thema: Glück
    Autor: Bildersturm
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    Floyd Matheson hatte sich noch nie in seinem Leben so gedemütigt gefühlt.

    Schlimm genug, dass Alice die Hotelrechnung aufgestöbert hatte und ihm seine kleine Affäre auf den Kopf zusagte, aber musste sie sich danach ausgerechnet bei Emily ausheulen? Emily White. Die Jungs im Büro nannten sie die Eiskönigin, wenn sie in einer Wolke schweren Parfüms vorbeirauschte und niemanden eines Blickes würdigte. Nur leider war die Eiskönigin verheiratet mit dem Stinktier - und das Stinktier hieß Harry White, seines Zeichens passionierter Golfspieler und Herr über die Personalabteilung der Allied Insurances Inc., des wohl familienfreundlichsten Unternehmens in den Vereinigten Scheißstaaten von Amerika. Nur eine Stunde nach Alices fatalem Fund stand Floyd auf der Straße.


    Die zu Hause folgende Auseinandersetzung war unschön, aber Floyd erinnerte sich nicht mehr an die Details. Als er das erste Mal wieder einen klaren Gedanken fassen konnte, lag Alice am Fuß der Treppe, das rechte Bein grotesk verdreht, ihr Kopf in einer Blutlache und die Augen weit aufgerissen. Vorwurfsvoll, dachte Floyd und begann hysterisch zu kichern. Die Panik kam erst sehr viel später.


    Und nun stand er hier am Straßenrand. Verdammt. Er hatte die zerbrochene Flasche erst bemerkt, als sich ihre Überreste in den Reifen bohrten und der Chevy wie ein bockiges Pferd nach rechts ausbrach. Floyd war panisch auf die Bremsen gestiegen, und der Wagen schlingerte gefährlich, bevor er zum Stehen kam. Deutlich konnte Floyd hören, wie Alice im Kofferraum herumflog. Entschuldige, Schatz. Seine Beine fühlten sich wie Pudding an.


    Die Luft flirrte in der Mittagshitze. Schweißtropfen bildeten sich auf Floyds Stirn, und ächzend legte er das Wagenkreuz beiseite, um sie wegzuwischen. Dann griff er nach seiner Baseballkappe (Scheißsaison für die Dodgers dieses Jahr) und zog den Schirm tiefer, bevor er sich wieder an die Arbeit machte. Sorgsam zog er die letzten Schrauben an, dann ließ er den Chevy herunter und verstaute den Wagenheber unter dem Beifahrersitz. Den kaputten Reifen rollte er in den Straßengraben. Keine zehn Pferde würden ihn dazu bringen, den Kofferraum ein weiteres Mal zu öffnen, bevor er an der alten Kiesgrube angelangt war. Tut mir leid, Alice. Du hast auch schon mal besser gerochen. Ein laut vernehmliches Räuspern ließ ihn herumfahren.


    Floyd wusste nicht, wie lange der Polizist schon hinter ihm gestanden hatte. Ich bin erledigt. Der Gesetzeshüter musterte ihn mit undurchdringlicher Miene, dann deutete er auf den Reifen im Graben. „Ihrer?“ Floyd setzte ein betroffenes Gesicht auf. „Ja, Sir. Wollte ihn gerade verstauen.“ Der Polizist nickte skeptisch. „Aha.“ Er setzte zu einer Runde um den Wagen an, während Floyd das Rad eilig aus dem Gras hievte. Es gelang ihm, den Kofferraum einen Spalt zu öffnen und den Reifen ins Innere zu schieben, bevor der Cop seine Runde beendet hatte. Eine Spur zu schnell schlug er den Deckel wieder zu. Beruhige dich. Der maulfaule Polizist warf ihm einen argwöhnischen Blick zu, und wandte sich zum Gehen. „Schönen Tag noch.“ Floyd atmete auf. Glück gehabt. Er trat auf die Straße. Den heranrasenden Truck nahm er nicht einmal wahr.


    Floyd Matheson starb noch am Unfallort.

  • "Eine Fahrt hinaus"
    Thema: Wasser
    Autor: Voland
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    Mit kräftigen Schüben trieb der Junge das kleine Boot hinaus auf die See. Der alte Mann, der ihm gegenüber saß, betrachtete ihn ruhig und nachdenklich, und immer wieder schweifte sein Blick über das ruhige Wasser zum fernen Horizont. „Was wollen wir hier draußen, Großvater?“, fragte der Junge. „Wir wollen angeln. Nur noch ein Stückchen weiter, nur zu!“ Im Boot befand sich keine Angel. Zunächst schwieg der Junge, dann sprach er ihn darauf an. Sein Großvater lächelte nur, ohne den Blick von der See abzuwenden. „Wir wollen sie mit den Händen fangen, mein Kind.“


    Zweifelnd betrachtete er den alten Mann, der in der Bootecke kauerte, längst zu schwach, um selbst hinauszurudern. Er atmete schwer und unregelmäßig, oft rann Blut aus seiner Nase, welches er ohne Eile mit einem Ärmel abwischte, und trotz alledem lächelte er so sonderbar, als wäre das kalte, schimmernde Nass unter sich, die leichte Brise, die über sein spärliches Haar weht und die wärmende Sonne, als wäre all dies Alles und mehr noch, was sich ein Mensch nur wünschen konnte.


    Minuten verstrichen, da hob der alte Mann die Hand und bedeutete dem Jungen, das es gut sei. „Sieh nur, hier ist es voll von Fischen, ganze Schwärme tummeln sich unter uns“, und währenddessen strich er mit den Fingern beinahe zärtlich über das Wasser. Neugierig beugte sich der Junge über den Rand. Er sah nicht einen Fisch, nichts außer tiefblauem Wasser, welches seinem forschenden Blick nichts von seinen Geheimnissen preisgab. Wie so oft dachte er bei sich, dass sein Großvater, so wie alle Erwachsenen, vielleicht schärfere Augen hatte, mit denen man Dinge erschauen konnte, die den Kindern verborgen blieben.


    „Liebes Kind, schaffst du es von hier bis zum Ufer zu schwimmen?“
    Nicht wenig verwundert spähte dieser zum Ufer, das nurmehr ein schmaler Strich in der Ferne war. Ein guter Schwimmer war er zwar, nur bereitete ihm eine solche Frage Sorgen. „Aber willst du denn die Fische ganz alleine fangen?“ Großvater nickte bejahend. „Und wirst du rechtzeitig zum Mittagessen zurück sein?“ Der Alte schwieg. „Was wird Vater sagen?“, hakte der Junge nach. „Ich habe ihm von den Fischen erzählt, er wird es verstehen.“


    „Und - und Mutter?“ In den sonst so toten Augen des Alten erglomm ein seltener Glanz. „Vielleicht wird mir deine liebe Mutter böse sein“, antwortete er lächelnd. „Umso wichtiger ist es, das du rechtzeitig und unversehrt zurückkehrst. Beeile dich nur, dann ist es gut.“ Als er sah, das der Junge sich zum Abschied nähern wollte, hob und schüttelte er abwehrend die Hände, als wolle er ihn gleich einem starken Wind über das Wasser zurück in die Arme seiner Eltern treiben. Trotzdem drückte der Junge dem Großvater noch ängstlich die Hände, ehe er rasch, so wie er war, ins Wasser sprang.


    Unterwegs tauchte er mehrmals unter, und hielt nach Fischen Ausschau. Endlich, da das Ufer fast erreicht war, spähte er ein letztes mal zum Boot zurück. Es war seiner Sicht schon entschwunden, und alles was sich ihm als Bild noch bot, war der tröstliche Anblick einer ruhigen See.

  • "Am Fenster"
    Thema: Zenit
    Autor: churchill
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    Er schaut auf die Massen, die sich da unten bewegen. Andere sagen, er lässt seinen Blick schweifen. Das passt normalerweise nicht zu seinem Blick, den sie in der Regel nicht als schweifend sondern vielmehr als fixierend erleben. Wie dem auch sei, heute lässt er ihn schweifen und genießt. Der optische Genuss verbindet sich mit dem akustischen. Es hat etwas Erotisches, dieses anschwellende Grollen, diese ekstatischen Schreie. Seinetwegen.


    Genau hingeschaut hat er immer schon. Deshalb kamen auch die hervorragenden Bilder zustande. Er ist von Anfang an ein Künstler gewesen. Mit all den Erfahrungen, die echte Künstler machen müssen. Er ist verkannt worden. Und ausgenutzt. Und betrogen. Von Kreaturen, die ihm in keiner Weise das Wasser reichen können. Minderwertigen Gestalten. Die Kunst kann sie nicht überzeugen. Intelligenz auch nicht. Er will sie auch nicht überzeugen. Nicht mehr. Er wird es ihnen jetzt zeigen. Anders.


    Dreiundvierzig Jahre und neun Monate dauert sein Leben schon. Er ist von unten gekommen. Von ganz unten. Und jetzt steht er hier oben am Fenster und sieht und hört und genießt. Heute abend wird er genießen, ab morgen wird keine Zeit mehr dafür sein. Neun Jahre und zwei Monate sind vorbei, seitdem er es zuerst versucht hat. Damals war die Zeit noch nicht reif. Die Zwischenzeit hat er genutzt. Der bildende Künstler hat sich literarisch betätigt. Die Bilder haben sie nicht verstanden. Das Buch werden sie lesen. Sie werden das Buch lesen wollen. Sie werden das Buch lesen müssen. Alle werden es lesen. Und dann werden sie alle verstehen.


    Der Alte hat es verhindern wollen, dass es zu diesem Tag kommt. Erst hat er ihn nicht ernst genommen. Der Alte hat es nicht verhindern können. Die Methoden haben sich geändert, die Mittel wurden variiert, Akzente verschoben. Und das alles ganz legal. Heute fressen sie ihm aus der Hand. Der Alte auch. Sollen sie doch glauben, dass sie die Kontrolle haben. Sollen sie doch glauben, dass sie ihn füttern. Dass sie ihn einrahmen. Dass sie ihn lenken. Er weiß es besser. Und sie werden es auch bald besser wissen.


    Das Licht der Fackeln fasziniert ihn. Ja, das ist der Tag, auf den er so lange hingearbeitet hat. Der ersehnte Tag ist da. Und dieser Tag wird keine kleine Episode sein sondern der Beginn einer neuen Zeitrechnung. Er ist verfolgt worden, die Bewegung aufgelöst und verboten. Heute sind sie, heute ist er stärker als je zuvor. Er ist bereit zum Kampf. Am Ende des Kampfes wird der Sieg stehen. Sein Sieg.


    Schaut genau hin, ich werde alles neu machen. Ich bin wie das Licht, das da flackert. Lebendiges Licht. Ich werde euch wärmen, euch den Weg zeigen. Aber wer mir zu nahe kommt, wird brennen. Ich bin das Ende und der Anfang.


    Er reißt sich vom Anblick der ihm zujubelnden Massen los und wendet sich in Richtung Zimmer. „Goebbels, Göring zu mir!“ Die Zukunft hat soeben begonnen.

  • "Dschungelleben"
    Thema: Tierisch
    Autor: churchill
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    Es sprach der Löwe: „Diese ganzen
    Sorgen um die Tierfinanzen
    würde ich echt locker klären,
    wenn nur nicht die Bären wären,
    die da auf den Kohlen hocken.“
    Mehr ließ er sich nicht entlocken.
    Warum er sich in Schweigen hüllt?
    Er sieht doof aus, wenn er nur brüllt.


    Der Bär aus Bayern bleibt gelassen.
    Der Löwe darf ihn gerne hassen,
    denn er, der Bär, ist eben schlauer.
    Da wird der Löwe richtig sauer,
    er ist zum Retter auserkoren
    und hat schon vor dem Start verloren:
    Blau-gelber Pfau und schwarzer Bär,
    die machen ihm das Leben schwer.


    Es nähern sich zum Glück ganz viele
    große grüne Krokodile,
    die wollen mit dem Löwen tanzen
    und schließlich auch die Tierfinanzen
    gemeinsam fein konsolidieren:
    „Ein dreifach Hoch den kleinen Tieren,
    wir retten sie aus ihrer Not!“
    Da kommt der Krebs, ganz dunkelrot.


    Man merkt ihm an, dass er schon kochte …
    Er, den der Löwe nicht mehr mochte,
    sieht seine Stunde nun gekommen,
    der Löwe sieht’s und merkt beklommen:
    Nur mit dem Krebs und Krokodilen
    kann ich die Mehrheit hier erzielen.
    Das wissen aber ganz genau
    auch schwarzer Bär und Pfau gelb-blau.


    Ob Bären, Pfaue, ob die Löwen,
    ob Krokodile, Krebse, Möwen,
    ob Tauben, Tiger, Geier, Affen,
    ob Elefanten, ob Giraffen,
    sie alle sehnen sich, zu spüren:
    „Da ist ein Tier, das kann uns führen!“
    Nun spricht der Bär: „Das gibt’s ja schon:
    Uns führt doch das Chamäleon


    und sei es nur (es ist nicht dumm)
    an unserm Nasenring herum.
    Es wechselt seine Farben ständig,
    ist stets flexibel und sehr wendig,
    man kriegt’s so gut wie nie zu fassen,
    ihm fällt’s ganz leicht, sich anzupassen
    in kniffligster Situation.
    Es lebe das Chamäleon!“


    Man kann es zwar nie richtig sehen,
    nur selten ist es zu verstehen,
    am wohlsten fühlt es sich im Dunkeln,
    man hört so manche Tiere munkeln,
    es sei ganz schrecklich anzuschauen,
    ja, wirklich niemand würd’ sich trauen,
    zu rebellieren. Wer’s riskiert,
    wird kaltgemacht und abserviert.


    So was soll’s echt im Dschungel geben.
    Dort kann man lange schon erleben,
    wie Löwen laut und schleimend lachen,
    wie Bären brav ihr Männchen machen,
    wie Krokodile Tränen heucheln,
    wie Krebse alte Freunde meucheln.
    Und auch der Pfau schlägt feig sein Rad,
    weil er Angst vorm Chamäleon hat.


    Und die Moral von der Geschicht:
    Vergesst nur das Chamäleon nicht!
    Denn solltet ihr es unterschätzen,
    wird es euch hinterrücks verletzen
    mit Tücke und besond’rer List,
    wenn das Chamäleon weiblich ist...

  • "Primetime Heroes"
    Thema: Medien
    Autor: Bildersturm
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    Die Kugel schrammte hart an seiner Stirn vorbei und riss beim Einschlag kleine Bröckchen aus der Wand hinter ihm. Kramer warf sich in Deckung. Scheiße, er hat mich gesehen. Ein zweiter Schuss ging irgendwo ins Leere. Kramer überlegte fieberhaft. Wenn der Schütze (es musste Hartmann sein) den Gang herunterkam, lag sein Arsch hier denkbar ungünstig auf dem Präsentierteller. Er zögerte. Wieder ein Schuss. Jetzt! Er sprang auf und hetzte über die freie Fläche. Beinahe hätte er sich verkalkuliert, aber er erreichte die Tür, bevor Hartmann erneut reagieren konnte. Zusammen mit einer Zierpalme stürzte Kramer ächzend in die Sicherheit des angrenzenden Zimmers. Die Teeküche! Von draußen erklang der enttäuschte Wutschrei des Abteilungsleiters.
    Kramer rappelte sich auf. Vor ihm stand der alte Matuschek aus der Buchhaltung, die Augen schreckgeweitet hinter der großen Brille im kalkweißen Gesicht. Seine Hände zitterten, als er den Lauf des großkalibrigen Jagdgewehrs senkte, aber er machte einen Schritt vorwärts.
    „B-b-bleib stehen!“
    Kramer sah zwei Füße unterm Küchentisch hervorragen. Die weißen Pumps kamen ihm bekannt vor. Claudia Brock, Chefsekretärin. Bewegungslos. Auf ihren Schuhspitzen kontrastierte ein feines Netz rostroter Blutflecken mit der kalbsledernen Eleganz der sündteuren Manolos. Er blickte überrascht zu Matuschek. Der wurde noch bleicher.
    „S-s-sie hat zuerst geschossen.“
    Kramer kehrte die Handflächen nach außen.
    „Ich bin unbewaffnet.“
    „T-t-tut mir leid, a-a-aber ...“
    Matuschek umfasste das Gewehr fester und sah jetzt irgendwie entschlossener aus.
    „...das sind die Regeln.“
    Instinktiv hatte Kramer den Schuss vorausgeahnt. Er ließ sich zur Seite fallen, als der Buchhalter den Abzug betätigte. Krawumm! Ein absurd lauter Knall. Der Rückstoß warf Matuschek gegen die Spüle. Die Kugel traf den Türrahmen und sirrte als Querschläger in die Kaffeemaschine. Kramer sprang auf und riss dem Alten die Waffe aus der Hand. Es war beinahe zu leicht. Hinter der Brille füllten sich Matuscheks Augen mit Tränen. Kramer schüttelte den Kopf.
    „Mensch, Matuschek, du bist so ein verdammter Idiot.“
    „I-i-ich w-w-wollte ...“
    Matuscheks bebrilltes Gesicht explodierte in einer Wolke aus Blut und Gewebe. Kramer fuhr herum. Hartmann stand in der Tür, aus dem Lauf seiner Pumpgun kräuselte sich ein dünner Rauchfaden. Er grinste wie ein Kind im Spielzeugladen.
    „Game over, Kramer.“
    Ich hätte im November kündigen sollen. Kramer musste beinahe lachen, als ihm der Gedanke durch den Kopf schoss. Egal. Das Unvermeidliche war ohnehin nicht mehr aufzuhalten.
    Klack.
    Kramer brauchte ein paar Sekunden, bis er registrierte, dass Hartmanns Waffe blockierte. Er dachte nicht einmal nach. Reflexartig hob er Matuscheks Gewehr und drückte ab. Wieder das laute Krawumm, aber diesmal war Kramer auf den Knall gefasst. Hartmanns Blick erstarrte in grenzenlosem Erstaunen. Ein Blutfleck erschien auf seinem blütenweißen Hemd, als er an der Wand entlang nach unten rutschte. Dann lag er still.
    Kramer keuchte vor Anspannung.
    „Wow,“ sagte der Kameramann aus seiner Ecke neben dem Kühlschrank. „Drei Millionen Euro.“
    Kramer streckte den Mittelfinger in Richtung des Objektivs.


    Im Sendezentrum spielten sie in diesem Moment schon das triumphierende Sieger-Jingle ein. Am nächsten Tag verkündeten die Zeitungen einen Einschaltquoten-Rekord. Das Live-Finale der dritten Staffel von Büroduell hatte alle Erwartungen übertroffen.

  • "Scheideweg"
    Thema: Schienen
    Autor: Bildersturm
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    Hier draußen war nichts. Gar nichts. Einöde. Eine Blumenwiese, dahinter Laubwald. Mertens seufzte entnervt, als er von der letzten Stufe des Waggons ins Gras sprang. Er schaute sich nach seinen Mitreisenden um, aber die meisten waren teilnahmslos sitzen geblieben, als der Zug auf freier Strecke langsam zum Halten gekommen war. Nach ihm kletterte lediglich eine ältere Dame mit weißem Hut aus dem Wagen. Sie zwinkerte ihm zu.


    Auf der Wiese stand schon ein Mann im Anzug und sah unschlüssig aus. Neben ihm hockte ein junges Mädchen in einer abgewetzten Jeansjacke im Gras. Sie zündete sich eine Zigarette an und musterte Mertens kurz, bevor sie den Rauch ausatmete und lässig den Kopf in den Nacken legte.


    „Wann geht’s weiter?“
    Das kam von der älteren Dame, und Mertens hatte schon eine sarkastische Bemerkung auf der Zunge, als er erkannte, dass die Frage nicht ihm gegolten hatte. Der Lokführer war ausgestiegen und kam zu ihnen herüber.
    „Ja, wann geht’s weiter?“
    Mertens hielt den Mann im Anzug für einen ausgemachten Idioten, ließ sich aber nichts anmerken.
    „Ich weiß es nicht,“ sagte der Lokführer. Er machte mit dem Kopf eine Bewegung in Richtung der Lok. „Schauen Sie sich’s an!“
    Sie folgten ihm.


    „Und?“
    Mertens blickte verständnislos auf die Weiche. Vor ihnen teilte sich der Schienenstrang, und die beiden neuen Strecken bogen in einem eleganten Schwung nach rechts und links, wo sich ihr weiterer Verlauf in der Ferne verlor.
    „Hier dürfte keine Weiche sein.“
    „Spielt das eine Rolle?“
    „Verstehen Sie nicht?“ Der Lokführer klang verzweifelt. „Es gibt hier keine Abzweigung. Hat es auch nie gegeben. Immer geradeaus. Immer geradeaus.“ Seine Augen flackerten.
    Mertens befürchtete, dass der Mann den Verstand verloren hatte. Er versuchte, die Situation aufzulockern.
    „Werfen Sie ’ne Münze.“
    Niemand lachte.
    Der Mann im Anzug ließ sein Handy sinken. „Kein Empfang,“ erklärte er auf Mertens’ fragenden Blick. Das Mädchen schnippte den Zigarettenstummel auf die Schienen. „Mist!“
    „Lassen Sie sich was einfallen,“ sagte Mertens zum Lokführer. „Egal, welche Richtung.“
    „Ich fahr’ links,“ entgegnete der Lokführer und ging zum Führerstand zurück. „Steigen Sie ein!“ Mertens drehte sich um. Der Mann im Anzug, das Mädchen und die ältere Dame standen nicht mehr hinter ihm. Er sah sie weiter hinten langsam auf den Wald zulaufen.
    „Hey!“
    Keine Reaktion. Er machte ein paar Schritte in ihre Richtung. Hinter ihm ertönte metallisches Quietschen, als sich die Waggons wieder in Bewegung setzten. Mertens fuhr herum.
    „Warten Sie!“
    Er rannte los, aber er war zu langsam. Der Zug gewann an Fahrt und verschwand alsbald um die linke Biegung. Mertens blieb entgeistert stehen.


    Fast eine Stunde wartete Mertens in der unnatürlichen Stille der Blumenwiese. Dann warf er seine Jacke über die Schulter und lief in den Wald hinein. Immer tiefer.


    Als die Rettungskräfte am Regionalexpress 5241 eintrafen, der in einen umgestürzten Baum gerast war, kam für vier Menschen im ersten Waggon jede Hilfe zu spät. Der schwerverletzte Lokführer überlebte wie durch ein Wunder. Als er aus dem Koma erwachte, weinte er wie ein kleines Kind. „Links war richtig,“ schluchzte er. „Links war richtig.“

  • "Ein paar Fragen"
    Thema: Nachbarn
    Autor: churchill
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    Ich hätte nicht dran gehen sollen. Manchmal scheint im Klingeln des Telefons ein unangenehmes Geräusch enthalten zu sein, ein Warnton, eine Alarmsignal. Geh nicht dran – rrrrrrrring – bleib im Sessel sitzen – rrrrrrrrrring.


    Ich bin ein neugieriger Mensch. So neumodisches Zeug wie Anruferkennung aktiviere ich nicht. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, wie ich das aktivieren könnte. Ich ging dran und murmelte meinen Namen, von dem ich vermutete, dass er der Anruferin, so sie denn eine sei, bereits vorher bekannt gewesen sein dürfte. „Guten Tag, mein Name ist Kristin Engel, spreche ich mit Herrn Stephan Guth?“


    Ich hätte auflegen sollen. Sofort. Unverzüglich. Schließlich kenne ich keine Kristin und keinen Engel. Aber ich war nach wie vor neugierig. Auf mein genuscheltes „Ja, mit mir höchstpersönlich“ erklang in professioneller Fröhlichkeit des Engels glockenhelles Stimmchen. „Haben Sie einige Minuten Zeit für eine Umfrage zum Thema ’Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt’?“


    Eigentlich hatte ich Zeit. Nur keine Lust. Aber der Engel ließ sich nicht abwimmeln. „Es geht ganz schnell, die Fragen sind ganz einfach.“ Traute Kristin mir nicht zu, auch schwierigere Fragen zu beantworten? Mein Ehrgeiz war geweckt, die Eitelkeit angekratzt. „Schießen Sie los!“


    Sie schoss. „Frage Nummer eins: Wie kommen Sie grundsätzlich mit Ihren Nachbarn aus? Verwenden Sie bitte eine Notenskala von eins bis sechs.“ „Eins“ lautete meine unverzügliche Wertung. Stille bei Kristin. „Sind Sie noch da?“, fragte ich vorsichtig. „Ja“, antwortete sie, um nach weiterem Zögern zu erläutern: „Eins ist in dem Fall die beste und sechs die schlechteste Wertung!“ Ich bemerkte, dass mir das durchaus bewusst sei. Offensichtlich war Kristins Erwartungshaltung eine andere.


    „Frage Nummer zwei: Nennen Sie spontan drei Dinge, die Ihnen an ihren Nachbarn gefallen.“
    „Toleranz, Ruhe, Naturverbundenheit“
    Pause. Notierte sie? Oder staunte sie nur?


    „Ach ja. Gut. Dann Frage Nummer drei: Nennen Sie spontan drei Dinge, die Sie an Ihren Nachbarn nerven.“
    „Da gibt es nichts.“
    „Wenn Sie Zeit brauchen, können Sie gerne kurz nachdenken. Ich bräuchte drei Dinge.“
    „Nein, da gibt es nichts. Absolut nichts.“
    „Gar nichts? Keine Sträucher, die in Ihren Garten ragen? Rasenmäher zur Unzeit? Schlagzeug spielende Teenager? Auf den Gehweg scheißende Hunde? Neugierige Nachbarsfrauen am Fenster, die genau wissen, wann Sie Damenbesuch hatten, als Ihre Frau gerade zur Kur war?“
    „Nein, mich nervt an meinen Nachbarn wirklich nichts.“


    Sie schien nun etwas irritiert zu sein. Und mir machte das Interview langsam aber sicher Spaß. Nach einer weiteren Atem- oder Gedankenpause verließ Kristin Engel den ausgelatschten Pfad vorurteilsbehafteter vorformulierter Fragen. „Herr Guth, ich glaube, Sie sind da die große Ausnahme im Rahmen meiner Umfrage. Alle bisher Interviewten hatten jede Menge Punkte, die sie an ihren Nachbarn kritisierten. Nur Sie nicht.“


    „Das ist ja schön, liebe Frau Engel. Kann ich Ihnen sonst noch irgendwie weiterhelfen?“„Nein. Eher nicht. Sie passen doch nicht ins Profil. Entschuldigen Sie die Störung.“


    Kristin legte auf. Ich auch. Und schaute aus dem Fenster meines kleinen feinen Häuschens. Links Bäume. Rechts auch. Überall. Der nächste Ort Kilometer entfernt. Das Leben ist schön.

  • "Verkappt"
    Thema: Rot
    Autor: Quetzalcoatlus
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    Es begab sich zu einer Zeit, als in den großen finsteren Wäldern noch allerlei biestige Kreaturen hausten. Dies lag hauptsächlich daran, dass es überhaupt noch große finstere Wälder gab. Und biestige Kreaturen. Jene hausten in den besagten Wäldern. Aber das hatten wir ja schon.


    Es begab sich also, dass ein junges Mädchen mit einer roten Kappe und einem Korb voller Lebensmittel durch den Wald spazierte.
    Dem Wolf, der das Mädchen aus der dichten Vegetation heraus beobachtete, kam solch grundlose Unbeschwertheit ja schon ein wenig seltsam vor. Aber er war sehr hungrig, denn er war zurzeit völlig allein und konnte nicht mit seinem Rudel jagen gehen.
    Und da es aus dem Korb so verführerisch duftete, sprang der Wolf auf den Weg, um einen Bissen zu ergattern.
    „Oh nein!“, kreischte das Mädchen entsetzt. „Ein gar furchtbar dreinblickender Wolf bedroht mich! Nun werde ich meiner Großmutter nicht die restlichen Zutaten für ihre köstlichen Fleischpasteten bringen können. Und dabei hätte ich doch nur noch einen Kilometer geradeaus gehen müssen bis zur Ankunft an ihrem Haus. Welch ein Unglück!“
    Jammernd warf sie den Korb von sich und eilte in die Richtung davon, aus der sie gekommen war.
    Der Wolf fand dieses Verhalten einigermaßen befremdlich, leistete sich jedoch nicht den Luxus, lange darüber nachzudenken. Stattdessen fiel er über den Korb her und verschlang das Hackfleisch, welches darin lag.
    Satt war er anschließend noch immer nicht, und so machte er sich zu dem erwähnten Haus der Großmutter auf den Weg. Zwar hatte er noch nie von einer in diesem Wald wohnenden Großmutter gehört und in dieser Gegend auch noch nie Fleischpasteten gerochen, doch als hungriger Wolf ist man bisweilen bereit, über solche Kleinigkeiten hinwegzusehen.
    Und tatsächlich – nach kurzer Strecke erblickte er ein Häuschen. Das Gartentor stand offen, was dem Wolf ein wenig verdächtig vorkam. Aber ging hindurch, denn schließlich hatte er noch Hunger. Die Haustür stand ebenfalls offen, was dem Wolf noch ein wenig verdächtiger vorkam. Aber ging hindurch, denn schließlich hatte er immer noch Hunger.
    Eine Großmutter konnte er im Haus nicht entdecken. Stattdessen erblickte er über der Kellertreppe ein großes Schild mit der Aufschrift „Köstliche Fleischpasteten!“ und einem Pfeil in die Tiefe. Das kam dem Wolf nun wirklich und endgültig auf saumäßige Weise verdächtig vor.
    Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Haus. Doch als er vor die Tür trat, sah sich der arme Wolf zahlreichen Gewehrläufen gegenüber. Für einen Moment glaubte er, dahinter in weiter Ferne ein kleines Mädchen erkennen zu können, das ihm eine lange Nase drehte.
    Dann vernahm er ein vielstimmiges Klicken. „Ach du Scheiße!“, war alles, was der Wolf noch dachte, bevor das Schrot aus allen Himmelsrichtungen auf ihn niederprasselte.


    Und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er wohl noch heute. Dies scheint allerdings angesichts der Tatsache, dass er keinen kugelsicheren Pelz trug, eine relativ unwahrscheinliche Möglichkeit zu sein. Also hängt er wahrscheinlich im Jagdhaus an der Wand. Neben dem Rest des Rudels.

  • "Wie die Katze den Krieg beendete"
    Thema: Ende
    Autor: Bildersturm
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    „Heute ist ein guter Tag zum Sterben.“ Es klang ein bisschen gekünstelt.
    „Hm“, machte ich abwesend und kickte einen Dreckklumpen ins Gurkenbeet.
    „Nein, ernsthaft.“
    „Okay.“
    Die Katze und ich saßen auf der flachen Steinmauer, die das Laubengrundstück von den anderen Parzellen trennte. Die Sonne war vor einer Stunde hinter den Hügeln aufgetaucht und hatte die laue Luft dieses Sommermorgens bereits in behäbige Wärme verwandelt. In der Ferne, irgendwo hinter den Ligusterhecken am Ende des Feldweges, war das gedämpfte Rattern eines vorbeifahrenden Güterzuges zu hören und aus einem anderen Garten wehte ein altes Kofferradio Shakin’ Stevens herüber. And when I'm looking in those big blue eyes, I start a'floating round in paradise, you drive me cra-a-azy. Die Katze wiegte versonnen ihren Kopf im Takt der Melodie, während sie dem Nachklang ihrer Worte lauschte. Dann leckte sie ihre Pfote und begann hinter dem linken Ohr mit ihrer Morgenwäsche.
    „Moment mal“, sagte ich.
    „Was ist?“ Die Katze hielt mitten in der Bewegung inne. Es sah umwerfend komisch aus.
    „Du wirst doch keinen Blödsinn machen?“, fragte ich besorgt.
    „Nee“, sagte die Katze.
    „Gut“, erwiderte ich. „Das Leben ist viel zu kostbar, um es wegzuwerfen.“
    „Phrasendrescher“, entgegnete die Katze. „Ich will mich nicht umbringen. Wär’ auch ’ne Menge Arbeit, mit neun Leben und so. Nein, ich meine die da.“
    Sie deutete mit der Pfote auf einen Holunderbusch. Es raschelte geschäftig, und ein paar Zweige wackelten. Ich kniff angestrengt die Augen zusammen, aber ich sah nichts.
    „Die da“, wiederholte die Katze ungeduldig. „Die Graufelle halt. Ratten.“
    Aus dem Busch war aufgeregtes Geflüster zu hören. Ich schaute die Katze ungläubig an.
    „Du und welche Armee?“
    Die Katze grinste und machte einen vielsagenden Kopfschlenker nach hinten. Mein Blick folgte ihrer Geste. Am gegenüberliegenden Wegesrand schob sich etwa ein Dutzend zerstrubbelter Katzenköpfe nach oben. Ich pfiff anerkennend.
    „Die sehen aber mies gelaunt aus.“
    „Und motiviert“, ergänzte die Katze. „Durch nichts aufzuhalten.“
    „Aha.“
    Die Katze musterte mich enttäuscht. „Sonderlich enthusiastisch klingt das aber nicht.“
    „Entschuldige, wenn ich nicht zum Adjutanten eines geborenen Kriegsherrn tauge.“
    „Nun überdramatisiere mal nicht.“ Die Katze sprang von der Mauer und drehte sich zu mir um. „Es geht hier um unser Revier. Wir verteidigen nur unser Eigentum.“
    „Du weißt schon, dass das mein Garten ist, oder? Ich kann mich nicht erinnern, dich hier schon mal mit ’ner Gießkanne am Gurkenbeet gesehen zu haben. Und deine Kumpels auch nicht.“
    Die Katze winkte ab. „Du wirst unsachlich. Das Ergebnis zählt. Das, was am Ende dabei rauskommt. Ich muss zur Lagebesprechung.“ Sie reckte sich wichtig und spazierte davon.
    Ich stand ebenfalls auf. „Viel Spaß. Ich geh frühstücken.“
    Die Katze blieb so plötzlich stehen, dass ich beinahe über sie gefallen wäre. „Oh.“
    „Ja?“
    „Weißt du, so wichtig sind die Graufelle auch nicht.“ Sie richtete sich auf und stieß einen Pfiff aus. Drüben kamen wieder die Köpfe nach oben.
    „Jungs, Krieg ist heute abgesagt,“ brüllte die Katze hinüber. Ein enttäuschtes Miauen ertönte als Antwort. Sie drehte sich wieder zu mir. „Gehen wir frühstücken?“