David Foster Wallace: Unendlicher Spaß - Infinite Jest

  • (Ich wähle aus der Not heraus "Belletristik" - "Zeitgenössisches" und "Klassiker" würden nämlich auch passen.)


    Barfuß auf den Mount Everest


    Es gibt Bücher, die hat man einfach im gut sortierten Regal, dazu gehören z.B. der (meiner Meinung nach - auch in der gefeierten Wollenschläger-Übersetzung - so gut wie ungenießbare) "Ulysses" oder Musils gewaltiges, aber ebenso schwergängiges Fragment "Der Mann ohne Eigenschaften". Romane von monströsem Umfang, die einhellig als Meisterwerke bezeichnet und meines Erachtens nur von den wenigsten Besitzern, die keine hauptamtlichen Literaturkritiker sind, auch wirklich gelesen werden. Zuweilen versucht man es, vielleicht zum x-ten Mal, etwa an einem verregneten Herbstwochenende, und irgendwo gegen Ende des ersten Drittels fragt man sich dann, warum man sich das antut. Also zurück mit der Schwarte, aber an eine Stelle im Regal, die jeder Besucher sofort sieht.


    Ulrich Blumenbachs sechsjähriger Übersetzungsarbeit ist es zu verdanken, dass da jetzt noch so ein Ziegel steht: "Unendlicher Spaß" suggeriert der Titel. Gleich vorweg sei angemerkt, dass es wirklich (jedenfalls meistens) ein großer Spaß ist, dieses Buch zu lesen. Und die fast vier Wochen, die ich dafür gebraucht habe, kamen mir auch nahezu unendlich vor. Die Frage, welches Buch ich zuvor gelesen habe, hätte ich nach spätestens zwei Wochen nicht mehr beantworten können. Es kam mir vor, als würde ich mich irgendwie schon immer durch Wallaces Opus Magnum fressen.


    Tausendsechshundert Seiten, davon über zweihundert "Anmerkungen und Errata", die man sich übrigens durchaus antun sollte. Dünn bedrucktes Papier, hochwertige Ausstattung - ein zumindest äußerlich gefälliges Buch.


    Nun, der Himalaya ist auch ein schönes Gebirge, wenn man es sich im Fernsehen anschaut oder mit dem Hubschrauber drumherum fliegt. Einen der Achttausender dann auch zu besteigen, das ist eine ganz andere Angelegenheit. Barfuß und ohne Sauerstoffgerät - das wäre ein passender Vergleich zur "Unendlicher Spaß"-Lektüre.
    Schon der Einstieg macht es nicht leicht. Da sitzt ein offenbar hochintelligenter, aber anscheinend sprachgestörter Junge vor dem Aufnahmeausschuss einer Universität. Wir schreiben das "Jahr des Glad-Müllbeutels". Später, während der Haupthandlung, die im "Jahr der Inkontinenz-Unterwäsche" spielt, erfahren wir, dass die Jahreszahlen inzwischen als Werbeplätze an Firmen vergeben werden, weil es Fernsehen im herkömmlichen Sinn und also auch Fernsehwerbung nicht mehr gibt. Das Geld wird dafür genutzt, die inzwischen als gewaltige Müllhalden umfunktionierten Neu-England-Staaten zu finanzieren, um die herum riesige Gebläse aufgestellt wurden, damit es im Rest des Landes nicht stinkt. Aber das ist nur ein Randaspekt.
    Danach erlebt man mit, wie jemand auf eine Frau wartet, die ihm Drogen bringen soll - in einer erzählerischen Akribie, die ich so noch nie erlebt habe. Die ersten vierzig, fünfzig Seiten zeigen allerdings, was auf den Leser zukommen wird. Schwer, das in wenige Worte zu fassen. Fantastische Satzbauten, Unmengen von Fremdwörtern und Neologismen, schräge Abkürzungen, bildhafte, dichte, aber ausufernde Sprache, und all das immer verbunden mit dem Gefühl: So dürfte man eigentlich nicht erzählen, aber, heiliger Pfeffer, besser kann man es vermutlich nicht machen.


    Im Zentrum der Handlung stehen eine Tennisakademie namens E.T.A. und ein in unmittelbarer Nähe liegendes Haus für Drogensüchtige auf Entzug. Der junge Hal, Spross des E.T.A-Gründers und Filmemachers James Incandenza, der sich selbst getötet hat, indem er seinen Kopf in einen umgebauten Mikrowellenherd steckte, gehört zu den Ausnahmetalenten an der "Enfield Tennis Academy", und wie die meisten Tennistalente holt er sich das bisschen Wohlgefühl in der wenigen trainingsfreien Zeit über Drogen. Sein großer Bruder Orin, der wie Hal kaum zu Emotionen fähig ist, spielt als Punter für eine Baseballmannschaft. Der mittlere Bruder, den Hal "Troll" nennt, lebt als Faktotum an der Akademie. Mario ist schwer behindert und kann nur mit Hilfe eines Polizeischlosses stehen. Er hat quasi das Erbe des legendären Vaters angetreten, denn er läuft ständig mit einer "Bolex"-Filmkamera auf dem Schädel herum.
    Ein anderes Erbe dieses Vaters ist ein Film mit dem Titel "Unendlicher Spaß". Von diesem sagenumwobenen Streifen gibt es zwar einige Kopien, aber viele Leute sind auf der Suche nach der Master-Patrone, darunter die A.F.R., eine kanadische Terroristenorganisation, deren Mitglieder allesamt an den Rollstuhl gefesselt sind. Wer diesen Film sieht, will nichts anderes mehr tun. Er versetzt den Zuschauer in einen Zustand, der alle Lebenserhaltungsreflexe abschaltet, bis man schließlich daran stirbt. Eine ideale Waffe also, zum Beispiel im Krieg gegen O.N.A.N., die Organisation, die aus den U.S.A. und Kanada hervorging.


    Der Versuch, die gewaltige Schar an Figuren, Schauplätzen, Handlungssträngen und Entwicklungen zusammenzufassen, muss scheitern, deshalb stoppe ich an dieser Stelle. Wenn es in diesem Buch um "etwas" geht, dann um Drogen im weitesten Sinne (und eben nicht nur chemische), Lust und Selbstverwirklichung. Das Gros des Personals ist entstellt, schlicht verrückt oder hat irgendein anderes Päckchen zu tragen. Wenigstens das, mit dem Leben klarzukommen.


    Wenn man etwas an diesem unfassbaren Werk kritisieren wollen würde, dann höchstens die Tatsache, dass Wallace im Jahr 1996 eine Zukunft geschildert hat, die von unserer Gegenwart längst überholt wurde, was die technischen Aspekte anbetrifft. Es gibt bei ihm zwar hochauflösende "Teleputer", aber einige andere seiner Zukunftsskizzen technischer Art sind von Internet und DSL bereits dahingerafft oder übertroffen worden. Das gilt auch für die - leider nicht ganz unwesentlichen - "Unterhaltungspatronen", auf denen in "Unendlicher Spaß" Filme und Serien per Postversand zum Zuschauer kommen. Die Dystopie scheitert hieran jedoch nicht.


    So, ich bin oben angekommen, die Füße sind blau und ich kriege kaum Luft, aber für diese Aussicht hat es sich gelohnt. Ein Buch wie dieses habe ich noch nie gelesen und werde es wahrscheinlich auch nie wieder tun, und zwar nicht aus einer Verweigerungshaltung heraus, sondern weil ich kaum glaube, dass dieser Wurf von irgendwem wiederholt werden kann. Manchmal schwergängig, häufig noch schwerer zu verstehen, zuweilen kryptisch, nicht selten herausfordernd, meistens hochintelligent, manchmal auch weit mehr als das, hin und wieder spröde, teilweise sogar abstoßend, grundsätzlich vielschichtig, jederzeit abwechslungsreich, oft sperrig, aber immer präzise und vollständig unvergleichbar. Ein Buch wie kein anderes, und zwar in jeder Hinsicht. Wahrhaft schön, und das gilt für jedes einzelne verdammte Wort.


    Vielleicht komme ich nächstes Jahr wieder.

  • Ich bin noch nicht sehr weit gekommen, obwohl das Buch absolut faszinierend ist, brauche ich immer wieder Pausen vom Lesen, weil es erschöpft und gefangen nimmt, zum Nachdenken anregt und durch seine wunderbare wenn auch teilweise anspruchsvolle Sprache mir manchmal eher das Gefühl gibt, mich durcharbeiten zu müssen. Es ist kein Buch, das man nebenbei liest und das sich einem "einfach so" erschließt - man muss sich den "unendlichen Spaß" schon etwas erarbeiten, aber es ist eine Arbeit, die sich lohnt...


    Ich hatte bis jetzt das Gefühl, man könne kaum den Kern des Ganzen auf den Punkt bringen und rezensieren. Es ist dir super gelungen Tom. Gratulation zu dieser Rezi. :wave

  • Wenn das Buch ein Berg ist, dann campiere ich schon ziemlich lange im Tal..


    Ich hab das Buch seit geraumer Zeit hier liegen.
    Ich werde es lesen, aber der richtige Zeitpunkt ist noch nicht gekommen.
    Ich freu mich drauf, nach dieser fantastischen Rezi noch mehr.

  • Auch ich finde, daß Tom eine grossartige Rezension geschrieben hat und ich glaube, dies beurteilen zu können, obwohl ich das Buch noch gar nicht gelesen habe. Was treibt mich zu dieser EInsicht? Nun, es gibt in der ZDF Mediathek ein schlicht sprachlos machendes Interview mit eben diesem David Foster Wallace, sage und schreibe 90 Minuten lang.
    Nach Genuß desselben wird mir wohl jeder zustimmen, daß wir es hier mit einem der faszinierendsten Schriftsteller zu tun haben, die die Welt je gesehen hat. Man beachte seine kaum in Worte zu fassende Präsenz, wenn er die ihm gestellten Fragen beantwortet.
    Der Mann ist - war - atemberaubend.
    Was für ein intellektueller (und auch menschlicher) Verlust...


    Interview mit David Foster Wallace

  • Eine wirklich tolle Rezensinon!


    Auch ich habe diesen Gipfel erklommen und stelle wieder einmal fest, dass ich kein Bergsteiger bin.
    So bleibt mir am Ende des "unendlichen Spasses" vor allem ein Gefühl der Leere und die Frage, was das nun alles sollte.


    Sicherlich ein großartiges Buch, ein begnadeter Autor, eine spannende Gesellschaftskritik.


    Doch hätte ich mir schon wenigsten einen normalen Menschen auf diesen vielen Seiten gewünscht
    Irgendeine Schilderung, die mich nicht deprimiert zurück lässt.


    Ich vermisse dieses Buch nicht, ich fühle mich eher von einer Last befreit.

    :liegestuhl Zeit ist keine Schnellstraße zwischen Wiege und Grab, sondern ein Platz zum Parken in der Sonne (Phil Bosmans) :lesend

  • Ich bin sicher, dass mir das Buch zur Zeit einfach zu hoch wäre :rolleyes


    Aber so in 5-10 Jahren möchte ich es auch gelesen haben :-]

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  • Ich hab auch nicht gesagt, dass es dir zu hoch wäre...sondern mir :grin
    Abgesehen davon hab ich im Moment nicht mal den Kopf und die Nerven für eine Zeitschrift :rolleyes


    Edit: Damit wir uns richtig verstehen - dass es mir (meiner Meinung nach) zu hoch wäre, hat nichts mit der DA zu tun. Das käme zwar hinzu, aber "zur Zeit" bezog sich dieses Mal einfach auf meine bisherige Leseerfahrung. Ich denke einfach, dass mir das Buch jetzt noch nicht das geben kann, was es mir in paar Jahren geben könnte. Ich hab ja doch einiges versäumt durch die lesefreie Zeit der letzten Jahre.

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    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Gummibärchen ()

  • Man muss sich auf das Buch einlassen, und man muss sich auf dieses Buch einlassen können. Es eignet sich nicht zur Nebenbeilektüre, und wahrscheinlich auch nicht als Urlaubsbuch (dafür ist es - auch - zu deprimierend).

  • Zitat

    Original von Vulkan
    Ich fand es sehr eindrucksvoll, auch wenn ich nicht weiß, ob ich den Interviewer so toll finde.


    Ich finde auch, man hätte entweder einen kompetenteren Gesprächspartner (wohl auch mit besserem und flüssigerem Englisch) finden können oder vielleicht sogar David Foster Wallace einen Monolog abhalten lassen sollen. Das diese Dame a) in ihrer Abschlussarbeit über Thomas Bernhard reflektiert hat, interessiert mich genauso wenig wie die Tatsache, daß sie vieles hier in Deutschland auch nicht so toll findet und sich daher lieber in den Staaten aufhält. Der berühmte umgefallene Sack Reis :grin

  • @ Überbücher
    Es beruhigt mich, dass ich nicht ganz allein mit meinem Eindruck bin...


    @ Gummi
    Ich bezweifle, dass man durch die Niederungen muss, um Hügel zu erklimmen, aber für die Berge vereinfacht vielleicht ein wenig Höhentraining den Aufstieg - um in Toms Bild zu bleiben. :-)
    Hast Du's mal mit Märchen versucht? In extremen Stressphasen ist das für mich noch die heilsamste Form des Lesens - neben Stifter und Sophokles. :grin Je nachdem, wie weit mein Kopf gerade mitspielt in der Kinder- oder der Erwachsenenfassung.

  • Hört sich alles sehr interessant und auch buchverlockend an - aber wahrscheinlich bin ich für dieses Buch wohl eher zu simpel strukturiert. Vielleicht lese ich es einfach mal in einem anderen Leben..... :grin

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Zitat

    Original von Voltaire
    Hört sich alles sehr interessant und auch buchverlockend an - aber wahrscheinlich bin ich für dieses Buch wohl eher zu simpel strukturiert. Vielleicht lese ich es einfach mal in einem anderen Leben..... :grin


    Angeber :lache


    Vulkan : Nee, hab ich nicht versucht. Mach ich jetzt auch nicht. Ich hab mich damit abgefunden, kann ja nicht mehr so lange dauern.

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  • Danke für die wunderbare Beschreibung des Buches, das würde ich auch gerne lesen. Allerdings schreckt mich der Preis und so werfe ich einfach mal die Frage in den Raum ob es jemand verkaufen, loswerden möchte?


    Ich wäre ein dankbarer Abnehmer und geteiltes Leid, ist halbes Leid.


    Falls also jemand weiter oder aushelfen kann, bitte einfach melden, vielen Dank.

  • Zitat

    Original von Mercymelli
    Danke für die wunderbare Beschreibung des Buches, das würde ich auch gerne lesen. Allerdings schreckt mich der Preis und so werfe ich einfach mal die Frage in den Raum ob es jemand verkaufen, loswerden möchte?


    Ich wäre ein dankbarer Abnehmer und geteiltes Leid, ist halbes Leid.


    Falls also jemand weiter oder aushelfen kann, bitte einfach melden, vielen Dank.


    Das Buch gibt es mittlerweile recht günstig auch als Taschenbuch, vielleicht ist das ja finanzierbar für dich ... :wave