So 'n Gedicht ...

  • Hier einer meiner Lieblinge, immer noch:



    Vereinsamt

    Die Krähen schrein
    und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
    bald wird es schnein, -
    wohl dem, der jetzt noch - Heimat hat!

    Nun stehst du starr,
    schaust rückwärts, ach! wie lange schon!
    Was bist du Narr
    vor Winters in die Welt entflohn?

    Die Welt - ein Tor
    zu tausend Wüsten stumm und kalt!
    Wer das verlor,
    was du verlorst, macht nirgends Halt.

    Nun stehst du bleich,
    zur Winter-Wanderschaft verflucht,
    dem Rauche gleich,
    der stets nach kältern Himmeln sucht.

    Flieg, Vogel, schnarr
    dein Lied im Wüstenvogel-Ton! -
    Versteck, du Narr,
    dein blutend Herz in Eis und Hohn!

    Die Krähen schrein
    und ziehen schwirren Flugs zur Stadt:
    bald wird es schnein, -
    weh dem, der keine Heimat hat!

    Friedrich Nietzsche

  • Lichter gehen jetzt die Tage

    In der sanften Abendröte

    Und die Hecken sind gelichtet

    Drin der Städte Türme stecken

    Und die buntbedachten Häuser.


    Und der Mond ist eingeschlafen

    Mit dem großen weißen Kopfe

    Hinter einer großen Wolke

    Und die Straßen gehen bleicher

    Durch die Häuser und die Gärten.


    Die Gehängten aber schwanken

    Freundlich oben auf den Bergen

    In der schwarzen Silhouette,

    Drum die Henker liegen schlafend,

    Unterm Arm die feuchten Beile.


    ASIN/ISBN: 1482579464

  • Der See hat eine Haut bekommen,

    so dass man fast drauf gehen kann,

    und kommt ein großer Fisch geschwommen,

    so stößt er mit der Nase an.

    Und nimmst du einen Kieselstein

    und wirfst ihn drauf, so macht es klirr

    und titscher - titscher - titscher - dirr...

    Heißa, du lustiger Kieselstein!

    Er zwitschert wie ein Vögelein

    und tut als wie ein Schwäblein fliegen -

    doch endlich bleibt mein Kieselstein

    ganz weit, ganz weit auf dem See draußen liegen.

    Da kommen die Fische haufenweis

    und schaun durch das klare Fenster von Eis

    und denken, der Stein wäre etwas zum Essen;

    doch sosehr sie die Nase ans Eis auch pressen,

    das Eis ist zu dick, das Eis ist zu alt,

    sie machen sich nur die Nasen kalt.

    Aber bald, aber bald,

    werden wir selbst, auf eignen Sohlen

    hinausgehen können und den Stein wiederholen.


    ( Christian Morgenstern )

  • Der Himmel, groß,

    voll herrlicher Verhaltung,

    ein Vorrat Raum,

    ein Übermaß von Welt.

    Und wir, zu ferne für die Angestaltung,

    zu nahe für die Abkehr hingestellt.


    Da fällt ein Stern! Und unser Wunsch an ihn,

    bestürzten Aufblicks, dringend angeschlossen:

    Was ist begonnen, und was ist verflossen?

    Was ist verschuldet? Und was ist verziehn?


    (Rainer Maria Rilke)

  • In der Neujahrsnacht 1839/1840


    Fahr wohl, fahr hin, o Jahr! nimm fort mit dir im Scheiden

    All deine Lust, nur laß nicht liegen mir die Leiden!


    O könnt ich hinter dir die Pforte schließen, – hören,

    Wie deine Tritte sich in stiller Nacht verlören!


    Jetzt nah und schon so fern, wie auf der Flucht ein Reiter,

    Daß mein Gedächtnis, müd, nicht folgen könnte weiter,


    Wie einem Reitersmann des Weges noch ein Stücke

    Nachbellend folgt der Hund, und still dann kehrt zurücke!


    Doch ist dies eitler Wahn, des Weges nimmer müde,

    Folgt deinen Spuren nach, wohl bis er stirbt, mein Rüde.


    Fahr hin, unholdes Jahr! mir warst du von den schlimmen;

    Es mögen andre dir ein Liedlein Dankes stimmen.


    Die andern?! – strafend will die Scham mich überkommen,

    Daß ich, was andern frommt, nicht mir auch ließe frommen.


    Was gilt mein Körnlein Schmerz, was gilt mein Lüftchen Klage,

    O scheidend Jahr, wenn ich den letzten Gruß dir sage?


    Doch läßt mein Herz auch nur vom Weltgeschick sich führen,

    Kann mich dein Scheiden nicht zu Dankestränen rühren.[490]


    Zwar hieß dein wahres Wort manch Lügenbild erblassen,

    Doch war dein Lieben matt, doch war zu kühl dein Hassen.


    Zwar hast du unserm Heil den Weg gebahnt von Eisen;

    Doch eisern mochte nicht dein Wille sich erweisen.


    Noch fährt der Nachtgeist fort zu siegen und zu schrecken,

    Auf neuen Feldern stets sein Lager abzustecken.


    Eins sei gebeten, Jahr: was du getan, gesonnen,

    Verlaufe nicht im Sand wie Wein zerschlagner Tonnen.


    Wenn die Ablöse kommt, das neue Jahr von Osten,

    Und nimmt an deiner Statt den Erdenwacheposten,


    So murmle nicht zu dumpf die geltende Parole

    In den bereiften Bart, daß sie der Wind nicht hole;


    Damit dein Nachmann fein einhellig sich gebare,

    In deinem Segensspruch nicht fluchend weiter fahre,


    Und nicht, wo du geflucht, ins Knie anbetend sinke,

    Und nicht, was du verscheucht, zurück liebkosend winke;


    Und wo du Funken warfst, die glücklich schon gezündet,

    Wo schon der Rauch für bald den Flammenschlag verkündet,


    Da soll das neue Jahr nicht schrecken vor dem Rauche,

    Nicht löschen feig stupid mit seinem Wasserschlauche!


    Nikolaus Lenau

  • Kannte ich nicht. Lief selbst nicht in einem Lyrikfaden, in dem ich jahrelang aktiv war. Und wo stößt man jetzt auf Emily Dickinson? Auf einer Internetseite "Wie historische Persönlichkeiten tatsächlich aussahen", die ihrem Anspruch nicht gerecht wird, wie sollte sie es auch?! In ihrem Falle aber offenbart sich ein anmutiges Antlitz.

    Hoffnung ist das gefiedert Ding

    Gedicht von Emily Elizabeth Dickinson

    Hoffnung ist das gefiedert Ding,

    das in der Seel' sich regt,

    und Lieder ohne Worte singt

    aufs Neue unentwegt.


    Im Sturm klingt's uns am liebsten drein;

    und schlimm muss wehn der Wind,

    in dem verstummt das Vöglein klein,

    bei dem man Wärme findt.


    Ich hört's in bitterkaltem Land,

    auf unbekanntem Meer;

    doch auch, wenn sich's in Not befand,

    hat's nie ein Korn begehrt.


    © Bertram Kottmann,

    Aus dem Amerikanischen:



    Hope is the thing with feathers

    That perches in the soul,

    And sings the tune without the words,

    And never stops at all,


    And sweetest in the gale is heard;

    And sore must be the storm

    That could abash the little bird

    That kept so many warm.


    I've heard it in the chillest land,

    And on the strangest sea;

    Yet, never, in extremity,

    It asked a crumb of me.

    Emily Elizabeth Dickinson

  • Mensch! Gib acht!

    Was spricht die tiefe Mitternacht?

    ,,Ich schlief, ich schlief -,

    Aus tiefem Traum bin ich erwacht: -

    Die Welt ist tief,

    Und tiefer als der Tag gedacht.

    Tief ist ihr Weh -,

    Lust, tiefer noch als Herzeleid:

    Weh spricht: Vergeh!

    Doch alle Lust will Ewigkeit -,

    - Will tiefe, tiefe Ewigkeit!"


    ( Friedrich Nietzsche - Also sprach Zarathustra)

  • Eben bei "Spreewaldkrimi": Eine Journalistik-Studentin zitiert die ersten Zeilen folgenden Gedichtes von Rilke, ein Kommissar unterbricht die erstaunte Studentin, übernimmt, rezitiert das Gedicht weiter, da kommt noch ein anderer Polizist um die Ecke, unterbricht und bringt das Gedicht gekonnt zu Ende. Das gibt es nur in einem deutschen Fernsehkrimi, nirgends sonst. :lache


    Die Einsamkeit ist wie ein Regen.

    Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;

    von Ebenen, die fern sind und entlegen,

    geht sie zum Himmel, der sie immer hat.

    Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.



    Regnet hernieder in den Zwitterstunden,

    wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen

    und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,

    enttäuscht und traurig von einander lassen;

    und wenn die Menschen, die einander hassen,

    in einem Bett zusammen schlafen müssen:

    dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen...

    Rilke

  • Der Sternanzünder



    Geht die Abendsonne schlafen

    Kommt der Sternanzündemann.

    Und der steckt die vielen Sterne

    Hoch am dunklen Himmel an.

    Einer nach dem anderen flammt. Silberhell auf blauem Samt.

    Und inmitten all der Sterne. Knipst er an die Mondlaterne.


    Horch, die Abendglocken läuten

    Tagwind spricht zum Abendwind:

    Freund, das Stündlein hat geschlagen,

    Da dein Abenddienst beginnt.

    Lebe wohl, ich kann jetzt gehn.

    Fange du jetzt an zu wehn!

    Und der Sternanzündemann

    Zieht daheim den Schlafrock an.



    Mascha Kaleko

  • Der Altmeister in Hochform. Muss man zuweilen lesen. Es ist nicht nur ein Aufruf, es strotzt auch vor Kraft:


    Feiger Gedanken

    Bängliches Schwanken,

    Weibisches Zagen,

    Ängstliches Klagen

    Wendet kein Elend,

    Macht dich nicht frei.


    Allen Gewalten

    Zum Trutz sich erhalten,

    Nimmer sich beugen,

    Kräftig sich zeigen,

    Rufet die Arme

    Der Götter herbei!


    Goethe

  • Der arme Kaspar


    Ich geh - wohin?

    Ich kam - woher?

    Bin außen und inn,

    Bin voll und leer.

    Geboren - wo?

    Erkoren - wann?

    Ich schlief im Stroh,

    Bin Weib und Mann.

    Ich liebe dich,

    Und liebst du mich?

    Ich trübe dich,

    Betrübst du mich?

    Ich steh und fall,

    Und werde sein.

    Ich bin ein All

    Und bin allein.

    Ich war. Ich bin.

    Viel leicht. Viel schwer.

    Ich geh - wohin?

    Ich kam - woher?



    Alfred Georg Hermann Henschke, genannt Klabund , 1890 - 1928