So 'n Gedicht ...
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Gilt es denn als Neuveröffentlichung, wenn gemeinfreie Gedichte auf einer Webside gesammelt, neu nach Themen geordnet und für jeden frei zugänglich sind?
Da bin ich überfragt. Nach meiner ganz persönlichen Meinung und gesundem Menschenverstand nicht (, aber Jura und gesunder Menschenverstand sind einander so fremd wie Feuer und Wasser). Da müßte man wohl einen Fachjuristen fragen.
Die von mir genannten 70 Jahre gelten, wenn ich das richtig im Kopf habe, auch nur für Bücher bzw. geschriebene Texte. Wie das bei Fotos, Filmen oder Liedern ist, entzieht sich meiner Kenntnis, da ich das bisher noch nicht gebraucht habe, ich meine - ohne Gewähr! - da gelten teilweise andere Fristen.
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Sommerfrische
Zupf dir ein Wölkchen aus dem Wolkenweiß,
Das durch den sonnigen Himmel schreitet.
Und schmücke den Hut, der dich begleitet,
Mit einem grünen Reis.
Verstecke dich faul in der Fülle der Gräser.
Weil`s wohltut, weil`s frommt.
Und bist du ein Mundharmonikabläser
Und hast eine bei dir, dann spiel, was dir kommt.
Und lass deine Melodien lenken
Von dem freigegebenen Wolkengezupf.
Vergiss dich. Es soll dein Denken
Nicht weiter reichen als ein Grashüpferhupf.
Joachim Ringelnatz (1883-1934)
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Und noch ein Gedicht zu seinem heutigen Geburtstag:
Chor der Nixen
Ihr glücklichen Kinder
Schlürft das Vergnügen;
Bald wird es versiegen;
Ein langer Winter
Rafft es dahin.
Euer Sinn
Schaut nicht vorwärts,
Schaut nicht zurück.
Vergängliches küßt ihr,
Sorglos genießt ihr
Den Augenblick.
Wir können nicht lieben;
Von Wind und Wellen
Umhergetrieben,
Bis wir zerschellen,
Ward uns als Leben
Nicht mehr gegeben
Als euch im Traum.
Wunschlos entstehen wir,
Wunschlos vergehen wir
Wieder zu Schaum.
Frank Wedekind (1864 - 1918)
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Auch wenn ich hier den Alleinunterhalter gebe, ist es Zeit für ein Septembergedicht.
Der Verlag Zweitausendeins legt seinen Newsletters gerne ein Gedicht bei, dieser Tage war es das hier:
Die kleine Passion
Der sonnige Duft, Semptemberluft,
sie wehten ein Mücklein mir aufs Buch.
Das suchte sich die Ruhegruft
und fern vom Wald sein Leichentuch.
Vier Flügelein von Seiden fein
trug's auf dem Rücken zart,
drin man im Regenbogenschein
spielendes Licht gewahrt!
Hellgrün das schlanke Leibchen war,
hellgrün der Füßchen dreifach Paar,
und auf dem Köpfchen wundersam
saß ein Federbüschchen stramm;
die Äuglein wie ein goldnes Erz
glänzten mir in das tiefste Herz.
Dies zierliche und manierliche Wesen
hatt' sich zu Gruft und Leichentuch
das glänzende Papier erlesen,
darin ich las, ein dichterliches Buch;
so ließ den Band ich aufgeschlagen
und sah erstaunt dem Sterben zu,
wie langsam, langsam ohne Klagen
das Tierlein kam zu seiner Ruh.
Drei Tage ging es müd und matt
umher auf dem Papiere;
die Flügelein von Seide fein,
sie glänzten alle viere.
Am vierten Tage stand es still
gerade auf dem Wörtlein "will"!
Gar tapfer stand's auf selbem Raum,
hob je ein Füßchen wie im Traum;
am fünften Tage legt' es sich,
doch noch am sechsten regt' es sich;
am siebten endlich siegt' der Tod,
da war zu Ende seine Not.
Nun ruht im Buch sein leicht Gebein,
mög' uns sein Frieden eigen sein!
Gottfried Keller (1819-1890)
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Neujahr bei Pastors
Mama schöpft aus dem Punschgefäße,
Der Vater lüftet das Gesäße
Und spricht: »Jetzt sind es vier Minuten
Nur mehr bis zwölfe, meine Guten.
Ich weiß, dass ihr mit mir empfindet,
Wie dieses alte Jahr entschwindet,
Und dass ihr Gott in seinen Werken
– Mama, den Punsch noch was verstärken! –
Und dass ihr Gott von Herzen danket,
Auch in der Liebe nimmer wanket,
Weil alles, was uns widerfahren
– Mama, nicht mit dem Arrak sparen! –
Weil, was geschah, und was geschehen,
Ob wir es freilich nicht verstehen,
Doch weise war, durch seine Gnade
– Mama, er schmeckt noch immer fade! –
In diesem Sinne meine Guten,
Es sind jetzt bloß mehr zwei Minuten,
In diesem gläubig frommen Sinne
– Gieß noch mal Rum in die Terrine! –
Wir bitten Gott, dass er uns helfe
Auch ferner – Wie? Es schlägt schon zwölfe?
Dann prosit! Prost an allen Tischen!
– Ich will den Punsch mal selber mischen.«
Ludwig Thoma
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In der Neujahrsnacht 1839/1840
Fahr wohl, fahr hin, o Jahr! nimm fort mit dir im Scheiden
All deine Lust, nur laß nicht liegen mir die Leiden!
O könnt ich hinter dir die Pforte schließen, – hören,
Wie deine Tritte sich in stiller Nacht verlören!
Jetzt nah und schon so fern, wie auf der Flucht ein Reiter,
Daß mein Gedächtnis, müd, nicht folgen könnte weiter,
Wie einem Reitersmann des Weges noch ein Stücke
Nachbellend folgt der Hund, und still dann kehrt zurücke!
Doch ist dies eitler Wahn, des Weges nimmer müde,
Folgt deinen Spuren nach, wohl bis er stirbt, mein Rüde.
Fahr hin, unholdes Jahr! mir warst du von den schlimmen;
Es mögen andre dir ein Liedlein Dankes stimmen.
Die andern?! – strafend will die Scham mich überkommen,
Daß ich, was andern frommt, nicht mir auch ließe frommen.
Was gilt mein Körnlein Schmerz, was gilt mein Lüftchen Klage,
O scheidend Jahr, wenn ich den letzten Gruß dir sage?
Doch läßt mein Herz auch nur vom Weltgeschick sich führen,
Kann mich dein Scheiden nicht zu Dankestränen rühren.
Zwar hieß dein wahres Wort manch Lügenbild erblassen,
Doch war dein Lieben matt, doch war zu kühl dein Hassen.
Zwar hast du unserm Heil den Weg gebahnt von Eisen;
Doch eisern mochte nicht dein Wille sich erweisen.
Noch fährt der Nachtgeist fort zu siegen und zu schrecken,
Auf neuen Feldern stets sein Lager abzustecken.
Eins sei gebeten, Jahr: was du getan, gesonnen,
Verlaufe nicht im Sand wie Wein zerschlagner Tonnen.
Wenn die Ablöse kommt, das neue Jahr von Osten,
Und nimmt an deiner Statt den Erdenwacheposten,
So murmle nicht zu dumpf die geltende Parole
In den bereiften Bart, daß sie der Wind nicht hole;
Damit dein Nachmann fein einhellig sich gebare,
In deinem Segensspruch nicht fluchend weiter fahre,
Und nicht, wo du geflucht, ins Knie anbetend sinke,
Und nicht, was du verscheucht, zurück liebkosend winke;
Und wo du Funken warfst, die glücklich schon gezündet,
Wo schon der Rauch für bald den Flammenschlag verkündet,
Da soll das neue Jahr nicht schrecken vor dem Rauche,
Nicht löschen feig stupid mit seinem Wasserschlauche!
Nikolaus Lenau
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Danach
Es wird nach einem happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.
Man sieht bloß noch in ihre Lippen
den Helden seinen Schnurrbart stippen –
da hat sie nu den Schentelmen.
Na, un denn –?
Denn jehn die beeden brav ins Bett.
Na ja ... diß is ja auch janz nett.
A manchmal möcht man doch jern wissn:
Wat tun se, wenn se sich nich kissn?
Die könn ja doch nich imma penn ... !
Na, un denn –?
Denn säuselt im Kamin der Wind.
Denn kricht det junge Paar 'n Kind.
Denn kocht sie Milch. Die Milch looft üba.
Denn macht er Krach. Denn weent sie drüba.
Denn wolln sich beede jänzlich trenn ...
Na, un denn –?
Denn is det Kind nich uffn Damm.
Denn bleihm die beeden doch zesamm.
Denn quäln se sich noch manche Jahre.
Er will noch wat mit blonde Haare:
vorn doof und hinten minorenn ...
Na, un denn –?
Denn sind se alt.
Der Sohn haut ab.
Der Olle macht nu ooch bald schlapp.
Vajessen Kuß und Schnurrbartzeit –
Ach, Menschenskind, wie liecht det weit!
Wie der noch scharf uff Muttern war,
det is schon beinah nich mehr wahr!
Der olle Mann denkt so zurück:
wat hat er nu von seinen Jlück?
Die Ehe war zum jrößten Teile
vabrühte Milch un Langeweile.
Und darum wird beim happy end
im Film jewöhnlich abjeblendt.
Kurt Tucholsky
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Was könnte mit "minorenn" gemeint sein?
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Bei Rechten gilt, wie hier schon gesagt: 70 Jahre nach dem Tod des Autors. Daran würde ich mich unbedingt halten und keine unnötigen Risiken wegens eines Internetforums eingehen.
Wir sind in einem Lyrikfaden (Amazon) tatsächlich in die Situation gekommen, dass sich plötzlich ein Autor meldete - der Faden hieß eigentlich "Klub der toten Dichter" - und wüst und nahezu impertinent auf die Dame losging, die die Chuzpe besessen und ihn nicht vorher gefragt hatte.
Ein weitgehend unbekannter Poet, den zumindest von uns niemand kannte und der auch kaum zu gockeln war. Man sollte meinen, er hätte froh sein sollen, dass sein Gedicht dort in dem Forum eine Form von Wertschätzung und Werbung erfuhr, aber ok, es ist sein gutes Recht ... Sein deplaciertes, eitles Gehabe deutete daraufhin: Hätte er einen modernen Wegelagerer in Form eines Abmahnanwalts zur Seite gehabt, dann wäre ihr das möglicherweise teuer zu stehen gekommen. Er wusste vielleicht nicht, wie einfach das zu bewerkstelligen ist ...
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Kurt Tucholsky ist definitiv über 70 Jahre tot . . . aber danke für Deine Erinnerung an die Rechtslage.
Ich erinnere mich noch ganz gut an diverse Streitigkeiten in den Kundenforen von Amazon. Besonders an einen modernen Dichter, der sich nicht davon abhalten lassen wollte, seine kruden Machwerke ungewünscht immer weiter zu posten und so verschiedenen Gedichteliebhabern auf die Nerven ging.
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Kurt Tucholsky ist definitiv über 70 Jahre tot . . . aber danke für Deine Erinnerung an die Rechtslage.
Ich erinnere mich noch ganz gut an diverse Streitigkeiten in den Kundenforen von Amazon. Besonders an einen modernen Dichter, der sich nicht davon abhalten lassen wollte, seine kruden Machwerke ungewünscht immer weiter zu posten und so verschiedenen Gedichteliebhabern auf die Nerven ging.
Ich weiß, wen du meinst. Offizier a. D., der sich selbst ganz ernsthaft als legitimen Nachfolger Wilhelm Buschs sah und seine eigenen Werke bei den "Kurzen und Knappen" postete ohne Ende. Er hat auch einiges über BoD rausgebracht Nun, seine Begabung war zweifellos bescheiden , gleichwohl fand ich diese üble Schlammschlacht, die sich über Monate hinzog, bei einem so edlen Thema wie LYRIK überhaupt nicht lustig.
Wie hieß der noch?
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Ich glaube, er hieß Wick oder so ähnlich.
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Das kommt dabei raus, wenn Landeier aus der Schweiz Gedichte über das Meer verfassen:
SeemärchenUnd als die Nixe den Fischer gefasst,
Da machte sie sich abseiten;
Sie schwamm hinaus mit lüsterner Hast,
Hinaus in die nächtlichen Weiten.
Sie schwamm in gewaltigen Kreisen herum,
Bald oben, bald tief am Grunde,
Sie wälzt mit dem Armen sich um und um
Und küsst ihm das Rot vom Munde.
Drei Tage hatte sie Zeitvertreib
Mit ihm in den Meeresweiten,
Am vierten ließ sie den toten Leib
Aus ihren Armen gleiten.
Da schoss sie empor an das sonnige Licht
Und schaute hinüber zum Lande;
Sie schminkte mit Purpur das weiße Gesicht
Und nahte sich singend dem Strande.
Gottfried Keller
Zwei Segel erhellend
Die tiefblaue Bucht!
Zwei Segel sich schwellend
Zu ruhiger Flucht!
Wie eins in den Winden
Sich wölbt und bewegt,
Wird auch das Empfinden
Des andern erregt.
Begehrt eins zu hasten,
Das andre geht schnell,
Verlangt eins zu rasten,
Ruht auch sein Gesell.
CF Meyer
Möwenflug
Möwen sah um einen Felsen kreisen
Ich in unermüdlich gleichen Gleisen,
Auf gespannter Schwinge schweben bleibend,
Eine schimmernd weiße Bahn beschreibend,
Und zugleich im grünen Meeresspiegel
Sah ich um dieselben Felsenspitzen
Eine helle Jagd gestreckter Flügel
Unermüdlich durch die Tiefe blitzen.
Und der Spiegel hatte solche Klarheit,
Daß sich anders nicht die Flügel hoben
Tief im Meer, als hoch in Lüften oben,
Daß sich völlig glichen Trug und Wahrheit.
Allgemach beschlich es mich wie Grauen,
Schein und Wesen so verwandt zu schauen,
Und ich fragte mich, am Strand verharrend,
Ins gespenstische Geflatter starrend:
Und du selber? Bist du echt beflügelt?
Oder nur gemalt und abgespiegelt?
Gaukelst du im Kreis mit Fabeldingen?
Oder hast du Blut in deinen Schwingen?
CF Meyer
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Mal wieder ein Busch, eine Empfehlung zur leichten Abendlektüre:
Empfehlung
Du bist nervös. Drum lies doch mal
Das Buch, das man dir anempfahl.
Es ist beinah wie eine Reise
Im alten wohlbekannten Gleise.
Der Weg ist grad und flach das Land,
Rechts, links und unten nichts wie Sand.
Kein Räderlärm verbittert dich,
Kein harter Stoß erschüttert dich,
Und bald umfängt dich sanft und kühl
Ein Kaumvorhandenseinsgefühl.
Du bist behaglich eingenickt.
Dann, wenn du angenehm erquickt,
Kehrst du beim »stillen Wirte« ein.
Da gibt es weder Bier noch Wein.
Du schlürfst ein wenig Apfelmost,
Ißt eine leichte Löffelkost
Mit wenig Fett und vieler Grütze,
Gehst früh zu Bett in spitzer Mütze
Und trinkst zuletzt ein Gläschen Wasser.
Schlaf wohl und segne den Verfasser!
Wilhelm Busch
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Und noch einen Busch:
TEUFELSWURST
Das Pfäfflein saß beim Frühstückschmaus.
Er schaut und zieht die Stirne kraus.
Wer, fragt er, hat die Wurst gebracht?
Die Köchin sprach: Es war die Liese,
Die Alte von der Gänsewiese.
Drum, rief er, sah ich in letzter Nacht,
Wie durch die Luft in feurigem Bogen
Der Böse in ihren Schlot geflogen.
Verdammte Hex,
Ich riech, ich schmeck’s,
Der Teufel hat die Wurst gemacht.
Spitz, da geh her! – Der Hund, nicht faul,
Verzehrt die Wurst und leckt das Maul.
Er nimmt das Gute, ohne zu fragen,
Ob’s Beelzebub unter dem Schwanz getragen.
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Wiglaf Droste ist gestern verstorben. Er war vielseitig, ein großartiger Sprachkünstler und ein Mann von Charakter und Format.
Hier nahm er sich Ratzinger, damals noch Kardinal, vor:
Ratzinger will Jesus werden / nicht erst im Himmel, nein: auf Erden. / Wer aber war der Lattenjupp? / Die Nummer eins im Gottesclub? / War Jesus Gottes elfter Finger / weil sich das reimt auf Ratzinger? / War er der Botschaft ihr Verbreiter / als Gottes Steh- und Samenleiter? / War der Mann nun Gottes Sohn / oder seine Erektion? / Die mit Metaphern um sich warf / denn schöne Sprache macht uns scharf? / War Jesus auch ein Freund der Qual / wie heute Joseph Kardinal? / Der Übelfinger ratzt durchs Land: / Euer bißchen Restverstand / sollt ihr in die Tonne treten / Ihr sollt nicht denken, ihr sollt beten! / Doch ich sage nur: Wohlan – / Ratzinger, geh du voran! / Willst du sein wie Jesus Christus / Nimm den Hammer, und dann bist du's! / Vergiß die langen Nägel nicht / denn du bist kein Leichtgewicht. / Schön zu sehn für alt und jung / ist die Eigenkreuzigung / Schon in drei Tagen bist du schlaff
Bis dahin grüßt dich
Drostes Wiglaf