Die dritte Wahrheit - Leonid Borodin

  • Das Leben ist kein stilles Wasser, sondern meistens eine Sturmflut, in der man leben und überleben muß. (Seite 11)


    192 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
    Originaltitel: Tretja Prawda
    Aus dem Russischen von Lorenzo Amberg
    Verlag: Verlag Herder, Freiburg/Br. 1989
    ISBN-10: 3-451-21194-7
    ISBN-13: 978-3-451-21194-2



    Kurzinhalt (Quelle: Klappentext)


    Rußland zu Beginn der neuen Ära. Eine abenteuerliche Geschichte aus der Tajga, dem kleinen Dorf Rjabinowka im Osten Sibiriens: die Geschichte der Freundschaft zwischen dem Wildhüter Rjabinin und dem Wilderer Seliwanow. Der eine, Rjabinin, erleidet ein typisches Schicksal der Zeit des Stalinismus:

    und muß dafür mit 25jährigem Arbeitslager büßen. Seliwanow dagegen ist ein schlauer, gerissener Wilddieb, der sich trotz sozialer und physischer Schwäche stets zu behaupten vermag, und sei es mit illegalen Mitteln, bis hin zum Mord. Hitzig und leidenschaftlich sind ihre Gespräche über Gott und die Welt, über den Sinn des Leidens in der Welt, über Anpassung oder Widerstand gegen die Staatsgewalt. Trotz aller Unterschiede verbindet sie die Abneigung gegen Ideologien, die „rote“ ebenso wie die antisowjetische „weiße“ der Emigranten. Die dritte Wahrheit, jenseits von Ideologien , ist die Wahrheit der Natur, die Wahrheit der einfachen Menschen.


    Ein großer Roman, der danach fragt, wie man leben kann, wenn die Seele bedroht und die Natur zerstört wird. Eine abenteuerliche Geschichte voll Poesie, in der geistigen Tradition der russischen Literatur. Ein Dichter, der aus eigener Erfahrung die Wahrheit jenseits der Ideologien beschwört, die Wahrheit der Tajga und der einfachen Menschen.



    Über den Autor (Quelle: Buch und engl. Wikipedia)


    Leonid Iwanowitsch Borodin wurde 1938 in Irkutsk geboren. Die Jahreszahlen über seine Internierung variieren etwas zwischen der Angabe im Buch - 1968 - und etwa im englischen Wikipedia, wo von 1967 die Rede ist. Er ist ein Journalist und christlich geprägter Schriftsteller. 1973 wurde er aus der Haft entlassen, seine Bücher in der Folge aus der Sowjetunion herausgeschmuggelt und im Westen veröffentlicht. Wegen des Buches „Eine Geschichte aus sonderbarer Zeit“ wurde er 1982 erneut verhaftet. Im Zuge der Perestroika kam er 1987 frei; er durfte in der Folge mit seiner Frau den Westen besuchen. 2002 erhielt der den Solschenizyn-Preis. Er ist jetzt Chefredakteur der populär-literarischen Zeitschrift Moskwa.


    - < Klick >: der Eintrag im englischen Wikipedia
    - < Klick >: Ein Interview aus dem Jahre 2002 mit dem Autor (in englischer Sprache) auf pravoslawie.ru
    - < Klick >: Gulaghistory.org; nach unten scrollen (dritter Block von unten) zu einem Bild mit kurzer Biographie (in englischer Sprache)



    Meine Meinung


    Die meisten Menschen, die Bücher sammeln, haben in ihren Beständen vermutlich das eine oder andere ganz besondere Exemplar. Ein Buch, mit dem eine Erinnerung verbunden ist, das beim ersten Lesen ein besonderes Aha-Erlebnis beschert hat, das man auf besondere Weise erworben hat. Bücher mit einer für den Besitzer besonderen Geschichte. Das hier ist so ein für mich besonderes Buch aus meiner Sammlung.


    Ich erinnere mich noch an den Frühsommer 1989. Es war die Zeit, als man jeden Tag in den Nachrichten Begriffe wie Perestroika oder Glasnost hörte, als über Menschen wie Länder der Wind of Change wehte, zu einem Orkan anschwoll und schließlich den Ostblock wegfegte. Es war die Zeit, als der Star, der Hoffnungsträger, nicht der amerikanische Präsident, sondern Michail Sergejewitsch Gorbatschow war. An einem Tag im Frühsommer stand ich in einer Buchhandlung und mußte auf meinen Gesprächspartner warten. Um die Zeit zu vertreiben, ging ich ans Neuerscheinungsregal, zog scheinbar wahllos genau dieses Buch heraus, begann zu lesen und hätte am liebsten nicht mehr aufgehört. Es war sehr störend, nach einiger Zeit zum normalen Tagewerk zurückkehren zu müssen. Nach dem Gespräch erwarb ich das Buch, und las es abends im Gasthof durch.


    Nur 192 Seiten, und dennoch steckt ein ganzes Menschenleben in all seinen wenigen schönen und vielen tragischen Momenten darin.


    “Bleib schön sitzen, und schau ihn dir an! Und ich erzähle dir jetzt von deinem Vater, deiner Mutter, deinem Großvater und vom Leben, das du bisher nicht zu kennen brauchtest.“ (Seite 139) Doch was muß nicht alles passieren, bis Andrian Nikanorytsch Seliwanow diesen Satz sagen kann! Übrigens braucht einem nicht wegen der russischen Namen bange zu sein: in dieser vollen Länge kommen sie nur selten vor.


    Seliwanow ist auf dem Weg zu einem seit fünfundzwanzig Jahren vernagelten und unbewohnten Haus, in das plötzlich wieder Leben eingezogen ist. Es ist ein schwerer Gang, denn sein Freund Rjabinin ist nach so langer Zeit zurückgekehrt. Immer wieder hält Seliwanow inne und sinnt über die Vergangenheit nach. So erfahren wir von den ersten Begegnungen der beiden, vom Schuß des Seliwanow auf Rjabinin, wie er ihn anschließend gesund gepflegt hat und so die Freundschaft zwischen den beiden ungleichen Männern entstand. Eine Freundschaft, die bis ans Ende halten soll. Auch wenn dazwischen ein Loch von fünfundzwanzig Jahren ist.


    Rjabinin hat es Seliwanow zu verdanken, daß er seine Frau kennen lernte. Eine junge Frau von adliger Abkunft, die dennoch den einfachen Wildhüter heiratet. Aber hat sie andererseits eine Wahl, nachdem der Vater an Schwindsucht gestorben ist und inzwischen die Sowjetmacht herrscht, von der sie nichts zu erwarten hat; nichts außer Lager und Tod? Es ist eine glückliche Zeit, die die beiden haben; zwei Kinder werden das Licht der Welt erblicken. Doch noch vor Geburt des zweiten wird Rjabinin abgeholt und seine Spur verliert sich in den Weiten Sibiriens.



    Als dann schließlich die Geschichte des Iwan Michajlowitsch Rjabinin berichtet wird, verändert sich - ohne daß ich es genau festmachen könnte - der Stil der Erzählung. Da schreibt nicht mehr einer, der ein Thema gründlich recherchiert hat. Da schreibt einer, der das, was er beschreibt, selbst erlebt und erlitten hat. Aus den wenigen Zeilen springt das Grauen förmlich hervor, quillt aus den Buchseiten heraus, ohne daß der Autor viele Details preis geben müßte. Andeutungen können schlimmer sein als genaue Schilderungen. Ich hatte das beklemmende Gefühl, daß schon diese weh taten, Erinnerungen an schlimme Jahre hervorriefen.


    Fünfundzwanzig Jahre auf ein paar Seiten. Ein ganzes Menschenleben.


    Immer wieder tauchen Fragen nach dem Sinn des Ganzen, des Lebens auf.
    “Man soll nicht verzweifeln“, sagte der Priester. „Das Leben ist uns von Gott geschenkt, und Er weiß, wozu...“
    „Er weiß es, aber Er sagte es nicht! Selbst dir sagt Er es nicht! Und mir um so weniger!“
    (Seite 178)
    Oder noch zugespitzter:
    “Der eine sündigt sein ganzes Leben lang und hat nicht mal einen Holzsplitter im Finger, der andere hat sein Lebtag keiner Fliege etwas zuleid getan, und dem fällt alles Unglück aufs Dach, das sich euer Gott nur ausdenken kann...“
    Der Priester schwieg.
    (Seite 172)


    Was aus den beiden Kindern des Rjabinin geworden ist, wie und ob sie sich begegnen, will ich hier nicht erwähnen. Das steht alles im Buch und würde zu weit führen und auch dem Ende vorgreifen.


    Das Buch ist eine bisweilen fröhliche, meistens melancholische und zuweilen tragische, aber immer tiefsinnige Geschichte. Eine Geschichte die, wie der Verlag treffend formuliert, „danach fragt, wie man leben kann, wenn die Seele bedroht und die Natur zerstört wird.“ Eine Geschichte, in der ich mich mit Seliwanow und Rjabinin gefreut und gelacht, aber auch mit ihnen gelitten und geweint habe. Eine Geschichte, die erschreckenderweise in manchem immer noch so aktuell ist wie damals, als die geschrieben wurde.


    Am Ende blieb ich verunsichert mit der bitteren Frage, ob nicht Iwan Michajlowitsch Rjabinin letztlich doch das bessere Leben gehabt hat, zurück. Und ob es nicht doch noch eine weitere, eine vierte Wahrheit gibt. Eine Wahrheit, die die anderen drei einschließt und höher, allumfassender ist als diese. Aber das wird sich nicht beantworten lassen. Jedenfalls nicht in diesem Leben.


    Der Mensch kann nicht den Schmerz segnen, wenn er mit dem Messer eine eiternde Wunde aufschneidet, um nicht zu sterben. (Seite 133)


    Kurzfassung:


    Die Geschichte des Wildhüters Rjabinin und seines Freundes, des Wilderers Seliwanow. Der eine kommt 25 Jahre ins Lager, der andere schlägt sich mit Schläue durch. Zwei ergreifende Schicksale aus der Zeit des Stalinismus. Denn „nicht mal sterben kann man, wenn man will.“



    Edit hat noch das Coverbild meiner Ausgabe angehängt, da Amazon kein Bild hat.