Tagebuch eines ungelebten Lebens - Jeremy Page

  • Mare Verlag, August 2009
    gebunden, 416 Seiten
    OT: The Wake
    übersetzt von Andreas Gressmann


    Kurzbeschreibung
    Nach dem Unfalltod seiner vierjährigen Tochter Freya und der Trennung von seiner Frau Judy sieht sich Guy mit einem Leben konfrontiert, das allen Sinn verloren zu haben scheint. Um den Bemühungen Anteil nehmender Freunde auszuweichen, zieht er sich von jeglicher Gesellschaft zurück auf sein Boot in die Abgeschiedenheit der rauen See vor der Küste Norfolks. Guy hat nicht vor, sein Schicksal anzunehmen. Jeden Abend trifft er Freya und Judy wieder in seinem Tagebuch, in dem er das Leben seiner Familie beschreibt, wie es hätte sein können. In dieser erträumten Welt reist er mit der nun zehnjährigen Freya durch den Süden der USA, um Judy bei ihrer beginnenden Karriere als Sängerin zu unterstützen. Doch die Realität holt Guy ein: Zwei Frauen, Mutter und Tochter, ankern mit ihrem Boot in seiner Nähe und üben eine seltsame Anziehungskraft auf ihn aus. Diese Begegnung stellt Guy vor eine schwere Entscheidung. Denn während er sich, inspiriert von Marta und Rhona, vorsichtig dem wirklichen Leben annähert, entgleitet ihm Stück für Stück die gelebte Welt seines Tagebuchs . . .


    Über den Autor
    Jeremy Page, 1969 in Cambridge geboren, aufgewachsen an der Küste von North Norfolk, studierte Literatur- und Filmwissenschaften an der Warwick University und Creative Writing an der University of East Anglia. Heute lebt er mit seiner Familie in London, wo er als Autor sowie als freier Journalist und Script Editor tätig ist, u.a. für die BBC, Channel Four und The Times. Tagebuch eines ungelebten Lebens ist sein zweiter Roman; sein erster, von der Presse viel beachteter Roman Salt erschien 2007 in England und den USA. Andreas Gressmann, geboren 1955 in Hamburg, aufgewachsen in Brüssel, studierte Geschichte und Romanistik. Heute lebt er als Übersetzer in München.


    Meine Meinung
    Nachdem seine Familie durch den Unfalltod seiner 4-jährigen Tochter Freya zerbrach, lebt Guy nun seit 5 Jahren auf einem Hausboot, einem holländischen Küstenfrachtschiff aus dem Jahr 1926.
    Tagsüber vertäut an einem Kai in einem verlassenen Teil des Blackwater-Mündungsgebiets in Essex, lässt Guy seine „Flood“ nachts Richtung Meer treiben.
    Der Einsamkeit und Trostlosigkeit seiner Tage entflieht er dann in die Traumwelt seines Tagebuchs. Dort lebt seine Familie, Judy, seine inzwischen fast 10-jährige Tochter Feya und er, weiter zusammen. Schreibend entwirft Guy eine Welt, in der sich seine Familie auf eine Reise nach Nashville begibt. Judy, die Sängerin ist, soll dort als Backgroundsängerin Studioaufnahmen machen. Das nächtliche Schreiben vermittelt Guy ein Gefühl von Aussichten und Möglichkeiten.


    Guy wird aus seinem Tagesablauf gerissen, als sich Marta und Rhona, Mutter und Tochter, in sein Leben „drängen“, die auf ihrem Schiff in seiner Nähe ankern. Guy fühlt sich zu beiden hingezogen, zu der 10 Jahre älteren Marta, vom Schicksal selbst hart getroffen, die so etwas wie Geborgenheit ausstrahlt und zu der 15 Jahre jüngeren ihn provozierenden Rhona. Wo wird Guy leben können, weiter mit Judy und Freya oder wird ein Leben mit Marta und Rhona für ihn möglich werden?


    Jeremy Page nimmt sich viel Zeit beim Aufbau seines Romans und seines Hauptprotagonisten Guy. Ohne die Ich-Perspektive zu verwenden, sieht man die Welt (fast) ausschließlich mit Guys Augen, den Trauer und Hoffnungslosigkeit umgeben. Auf dem Wasser Ruhe suchend, sich nach Schutz sehnend, gleitet Guy immer mehr in seine Traumwelt ab.
    Durch Marta und Rhona kommt er an die Grenzen seiner selbst erschlafften „Realität“ und sein Tagebuch fängt an, ein Eigenleben zu entwickeln. Die Geschichte schreibt sich von ihm fort, die heile Welt bekommt Risse.


    Durch die sehr bildhafte und berührende Sprache gelingt Jeremy Page eine melancholische Stimmung, man spürt die Trauer Guys, man riecht die See, aber man verharrt auch etwas in dieser schier ausweglosen Situation.
    Der Autor lässt den Leser tief in dieses beeindruckende, aber auch bedrückende Schicksals Guys eintauchen.


    Kritikpunkt:
    Angenehmer zu lesen wäre es sicher gewesen, wenn deutlicher markiert wäre, wann Guy Tagebuch führt und wann reale Erinnerungen beschrieben werden.


    8/10 Punkten

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

    alles zurück - Anfang

    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

  • Vielen Dank für die ausführliche Rezi. Auf meiner Merk/Wunschliste steht es ja schon :wave

    Herzlichst, FrauWilli
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    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Zum Inhalt:
    Auf Marta wirkte der Mann auf dem alten holländischen Küstenfrachter als sei er auf der Flucht. Guy ist seit fünf Jahren allein mit der "Flood" in den Flussmündungen der englischen Ostküste unterwegs. Die Flussmündungen haben in Guys Leben bereits mehrfach eine Rolle gespielt. In East Anglia war seine Frau Judy in den ersten Jahren ihrer Beziehung mit ihrer Band unterwegs gewesen. In Sichtweite der "Flood" liegen auch Marta und ihre erwachsene Tochter Rhona am Anleger mit ihrem Boot. Nach dem Tod ihres Mannes Howard sind Mutter und Tochter ein letztes Mal mit dem Boot unterwegs, das Marta jahrelang als die zweite Frau ihres Mannes betrachtet hat.


    Warum Guy seit fünf Jahren allein auf einem Boot lebt, erschließt sich erst allmählich aus seinen Tagebucheintragungen. Das Alleinleben hat Guy merklich verändert. Im Alter von vier Jahren war Guys und Judys kleine Tochter Freya verunglückt. Seitdem schreibt Guy in Tagebucheinträgen das Leben seiner Fantasie-Familie fort. Im Tagebuch erfüllt er seinen und Judys Traum, durch die USA zu reisen und Judy an legendären Orten auftreten zu lassen. Das Tagebuch ermöglicht Guy, seine Tochter aufwachsen zu sehen und in Gedanken mit seinem Rivalen Phil abzurechnen. Ein einsamer Mann erschreibt für sich und seine Familie hier eine Zukunft und versucht, mit dem Schreiben Verlorenes wiederzuerwecken. Guys Einträge sind von einem Atlas inspiriert, Karten nutzt er täglich auf dem Boot und auch seine Traumfamillie kartiert er. Guy weiß, dass er sich in Gesellschaft anderer "nicht auf sich verlassen kann" und noch immer mit den Tränen kämpft, wenn die Sprache auf seine Familie kommt.
    Freyas Tod hat er noch lange nicht verarbeitet. Das Zusammentreffen mit Marta bringt eine entscheidende Wende in Guys Leben. Marta macht Guy deutlich, dass sein Tagebuchschreiben ihn fern der Realität bisher an der Auseinandersetzung mit dem Tod seiner Tochter gehindert hat.


    Fazit:
    Mit seiner Beschreibung eines Wassertropfens, der eine Miniatursonne eingefangen und in sich eingeschlossen hat, zieht Jeremy Page seine Leser bereits auf der ersten Seite in eine fesselnde wie beunruhigende Geschichte. Guy wird von den Gedanken an Frau und Tochter so stark in Anspruch genommen, dass er sich nur schwer auf Navigation und Gezeitentabelle konzentrieren kann. Immer, wenn er aus einem geschützten Flussarm auf die offene Nordsee steuert, besteht die Gefahr, dass Guy dort mit dem Boot verunglückt. Die Unkonzentriertheit ihres Kapitäns lässt sich aus den Positionsbestimmungen der "Flood" ablesen, die die einzelnen Kapitel einleiten. Von der Mitte der Handlung ab schätzt Guy seine Position nur noch, die Angaben werden immer vager. Was genau nach Freyas Tod passierte und was eigentlich aus Judy wurde, erfährt man erst zum Ende der Handlung und fühlt sich mit der Ungewissheit etwas allein gelassen. Diese Wirkung mag genauso vom Autor beabsichtigt sein.


    Wer sich vom traurigen Ausgangspunkt der Geschichte nicht abschrecken lässt, wird durch einen außergewöhnlich poetisch erzählten maritimen Roman überrascht. Handwerk und Sprache der Seefahrt dienen der Hauptfigur zur Bewältigung ihrer Trauer. Von Pages liebevoller Beschreibung des alten Holzschiffs, des Meeres und der Gezeiten, wie auch seinen wunderschönen Landschaftsbildern habe ich mich gern verzaubern lassen. Neben der atmosphärischen Wirkung des Meeres hat mich das Vorantreiben der Handlung und die Auflösung der Rätsel um Guys Vergangenheit mithilfe der Tagebücher stark beeindruckt.


    9 von 10 Punkten

  • @ Sigrid2110 und Buchdoktor:


    Danke für Eure Rezis - durch Euch bin ich auf dieses besondere, kunstvoll und sorgfältig gebaute und wunderbar geschriebene Buch aufmerksam geworden. Leseempfehlung für alle, die das Meer und den Wind im Gesicht lieben und gerne in ausführlichen Naturbeschreibungen schwelgen!