Zerbrechlich (Handle With Care) - Jodi Picoult

  • Das Buch ist bisher nicht auf Deutsch erschienen, habe die englische Fassung gelesen und gehört.


    Zur Autorin (von Amazon):
    Jodi Picoult, geboren 1967 auf Long Island, veröffentlichte 1992 ihren ersten Roman, der sofort zu einem großen Erfolg wurde. 2003 wurde sie mit dem New England Book Award ausgezeichnet. Sie lebt zusammen mit ihrem Mann und drei Kindern in Hanover, New Hampshire. Mit dem Roman »Beim Leben meiner Schwester«, der wochenlang auf den Bestsellerlisten stand, gelang ihr der Durchbruch in den USA. Sie gehört inzwischen zu den erfolgreichsten amerikanischen Erzählerinnen weltweit und wurde 2007 in England zur Autorin des Jahres gewählt.


    Meine Meinung:
    Die Inhaltsangabe zu Jodi Picoults neustem Buch „Handle with Care“ übte auf mich eine gleichermaßen abstoßende und faszinierende Wirkung aus. Wieder ein brisantes Thema, das so nur in den USA umgesetzt werden kann, allerdings diesmal eines, das moralisch ganz besonders fragwürdig ist: „widerrechtliche Geburt“ (wrongful birth). Die Figuren und das Szenario erinnern an eine Mischung aus „Beim Leben meiner Schwester“ und „Das Herz ihrer Tochter“:


    Die besorgte Vollzeit-Mutter: Charlotte O’Keefe, die nach der Geburt von Willow nicht in ihren Beruf als Konditorin zurückkehrte, sondern sich Vollzeit um ihre kranke Tochter kümmert.
    Der besorgte Vater, Polizist: Sean O’Keefe, der seine Familie liebt, dessen Gehalt nicht reicht um die hohen Ausgaben zu decken.
    Charlottes gesunde Tochter: Amelia, mitten in der Pubertät, bekommt kaum Aufmerksamkeit von ihrer Mutter, liebt ihre Schwester, kommt mit der belastenden Situation der Familie nicht klar.
    Charlottes und Sean kranke Tochter: Willow, 5, geboren mit der Glasknochenkrankheit (Osteogenesis Imperfecta, Stufe 3), die schon vor der Geburt bei einer Ultraschalluntersuchung auffiel, durch mehrere gebrochene Knochen. Hochbegabt, körperlich stark eingeschränkt.
    Piper Reese, Charlottes Gynäkologin und beste Freundin, sowie die Mutter von Amelias bester Freundin, Emma.
    Marin Gates, Anwältin, die widerwillig Charlottes Fall betreut, Adoptivkind und intensiv auf der Suche nach ihren unbekannten Eltern.


    Außer Willow kommen alle oben genannten zu Wort und erzählen über den Fall und ihr Leben, meist direkt an Willow gerichtet.


    Das Thema ist in den USA so aktuell wie brisant: Dürfen Menschen darüber entscheiden, ob ein (vermutlich) stark behinderter Fötus abgetrieben wird? Wenn ja, aus welchem Grund? Charlotte O’Keefe entscheidet sich, ihre Gynäkologin und beste Freundin zu verklagen, weil sie verzweifelt ist. Verzweifelt weil sie ihrer schwerkranken Tochter nicht die Behandlung und das Leben bieten kann, das sie ihr gerne ermöglichen würde. Verzweifelt, weil sie selbst seit der Geburt Willows kaum noch Privatleben hat, ihrem geliebten Beruf nicht mehr nachgehen kann. Verzweifelt, weil sie nicht ertragen kann, wie ihr Mann Sean sich abrackert, während der Schuldenberg der Familie ständig wächst. Zerfressen von Schuldgefühlen, weil sie es nicht allen Recht machen kann. Sie klagt nicht, weil sie sich jetzt wünscht, Willow wäre nicht zur Welt gekommen, sondern um Geld von einer Versicherung zu bekommen, das ihrer Familie ein besseres Leben ermöglichen würde. Aber die einzige Möglichkeit scheint eine Klage zu sein, bei der sie genau das behaupten muss: Dass sie Willow abgetrieben hätte, wenn sie beim ersten Ultraschall von ihrer Krankheit erfahren hätte.


    Die Geschichte um die Suche nach den Adoptiveltern der Anwältin und die Probleme der älteren Schwester Amelia bilden interessante Nebenhandlungen.


    Der Roman ist gewohnt gut konstruiert, sehr flüssig geschrieben mit der gewohnten Portion Melodramatik. Die Krankheit von Willow und die Ursachen und Auswirkungen der psychischen Probleme einiger Figuren scheinen sehr gut recherchiert. Die Figuren sind an sich dreidimensional gezeichnet, wirken aber schablonenhaft, wenn man schon andere Romane von Jodi Picoult gelesen hat. „Handle with Care“ bietet nichts wirklich Neues, wie die Liste der beteiligten Figuren schon zeigt und auch die Handlung wirkte auf mich nicht gerade originell.


    Es ist das erste Buch, das ich als Hörbuch begann und zum (Bücherei-)Buch griff, um schneller fertig zu werden – immer in der Hoffnung, dass es doch noch besser würde. Für Leser, die weder „Beim Leben meiner Schwester“ und „Das Herz ihrer Tochter“ gelesen haben, ist „Handle with Care“ vermutlich interessant und spannend.


    Edit: Ich habe den deutschen Titel ergänzt und die ISBN ausgetauscht, so dass die deutsche Ausgabe im Rezensionsindex erscheint. LG Wolke

    "It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities." Albus Dumbledore
    ("Vielmehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.")


    "An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die Schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern."

    Erich Kästner.

  • Ich denke schon, aber vermutlich erst für den Herbst nächstes Jahr, weil ihr vorletztes Buch "Das Herz ihrer Tochter" gerade als gebundene Ausgabe erschienen ist.

    "It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities." Albus Dumbledore
    ("Vielmehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.")


    "An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die Schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern."

    Erich Kästner.

  • Ich lese es auch gerade auf Englisch, da ich auf Deutsch jetzt alle kenne und es mir doch zu lange dauert.


    Ich bin noch nicht allzu weit gekommen, da ich noch zwei Bücher nebenbei lese, aber es ist bisher mal wieder super. Ich denke, die Meinung werde ich auch nicht noch ändern :)

  • Hier die englische Ausgabe, die ich gelesen hatte.

    "It is our choices, Harry, that show what we truly are, far more than our abilities." Albus Dumbledore
    ("Vielmehr als unsere Fähigkeiten sind es unsere Entscheidungen, die zeigen, wer wir wirklich sind.")


    "An allem Unfug, der passiert, sind nicht etwa nur die Schuld, die ihn tun, sondern auch die, die ihn nicht verhindern."

    Erich Kästner.

  • Jodi Picoult ist meine Lieblingsautorin. Ich liebe es einfach, dass man alles aus Sicht von mehreren Personen erzählt bekommt und auch oft auf vergangene Ereignisse eingegangen wird.


    Auch dieses Buch von ihr hat mich wieder begeistert. Gut recherchiert, tolle Charaktere. Man fühlt wirklich mit. Besonders Amelia, Willows Schwester, hat mir sehr Leid getan.


    Ich weiß nur nicht so genau, was ich über das Ende denken soll.


    Aber das soll nicht heißen, dass ich das Buch nicht sofort weiterempfehlen würde. :-)

  • Zitat

    Original von Minerva1978


    aber das ist doch nicht die deutsche übersetzung zu "handle with care"...


    dennoch finde ich das buch interessant...


    Das hier müßte sie sein, kommt im August.


    Willow, ihr lang ersehntes Kind, ist perfekt. Das ist das Erste, was Charlotte O Keefe hört, als sie ihr Baby auf dem Ultraschallbild sieht. Ja, es ist perfekt. Daran ändert auch Willows Krankheit nichts. Charlotte liebt ihr Kind abgöttisch
    und will nur eins: es beschützen. Denn Willow braucht allen Schutz der Welt. Beim kleinsten Stoß brechen ihre Knochen. Jedoch auch ihr Herz kann brechen. Genau das scheint Charlotte zu vergessen, als sie vor Gericht das Geld für die
    richtige Behandlung erkämpfen will. Sie verklagt ihre Frauenärztin. Die Krankheit hätte schon zu Beginn der Schwangerschaft erkannt und die Eltern gewarnt werden können. Charlotte muss jedoch behaupten, ihr geliebtes Kind sei besser nie
    geboren worden ...Erschütternd, tief bewegend und sensibel führt dieser Roman mitten ins Herz einer Familie, die durch die Kraft einer bedingungslosen Liebe verbunden ist.

  • Zerbrechlich
    Originaltitel: Handle with care
    Jody Picoult
    Übersetzer: Rainer Schumacher
    ISBN: 978-3431038286
    Bastei Lübbe GmbH & Co.KG
    621 Seiten, 19,99 Euro


    Über die Autorin: Jodi Picoult, geboren 1967 auf Long Island, studierte in Princeton Creative Writing und in Harvard Erziehungswissenschaften. Seit 1992 schreibt sie mit großem Erfolg Romane. Die wurde für ihre werke vielfach ausgezeichnet, beispielsweise mit dem New England Bookseller Award. Ihre Romane erscheinen in 35 Ländern. Sie gehört zu den erfolgreichsten und beliebtesten amerikanischen Erzählerinnen weltweit. Sie lebt zusammen mit ihrem Mann und ihren drei Kindern in Hanover, New Hampshire.


    Klappentext: Willow, ihr lang ersehntes Kind, ist perfekt. Das ist das Erste, was Charlotte O´Keefe hört, als sie ihr Baby auf dem Ultraschallbild sieht. Ja, es ist perfekt. Daran ändert auch Willows Krankheit nichts. Charlotte liebt ihr Kind abgöttisch und will nur eins: es beschützen. Denn Willow braucht allen Schutz der Welt. Beim kleinsten Stoß brechen ihre Knochen. Jedoch auch ihr Herz kann brechen. Genau das scheint Charlotte zu vergessen, als sie vor Gericht das Geld für die richtige Behandlung erkämpfen will. Sie verklagt ihre Frauenärztin. Die Krankheit hätte schon zu Beginn der Schwangerschaft erkannt und die Eltern gewarnt werden können. Charlotte muss jedoch behaupten, ihr geliebtes Kind sei besser nie geboren worden…


    Meine Meinung: Dieses Buch habe ich im wahrsten Sinne des Wortes mit gemischten Gefühlen gelesen. Wütend, ärgerlich, erstaunt, interessiert und unwillkürlich fasziniert von der Geschichte um die Familie O´Keefe. Zunächst hatte ich nach 50 Seiten schon fast genug und legte das Buch wütend aus der Hand, denn die Erzählperspektive der Autorin wirkte schon zu Beginn wie ein einziger bewusster Druck auf die Tränendrüse – sie lässt alle Personen, die mit Willow zu tun haben, an sie gerichtet erzählen. „…Und dann hast du geschrien, obwohl sie dich so behutsam hochhoben, als wärst du aus Zuckerwatte. Du hast geschrien, doch nicht so, wie die normalen Neugeborenen. Du hast geschrien, als würden sie dich zerreißen. „Vorsichtig“ ermahnte Dr. Del Sol die OP-Schwester. „Sie müssen das ganze…“ Es gab ein Knacken, ein Geräusch wie beim Platzen einer Luftblase und du hast noch lauter geschrien, was ich nicht für möglich gehalten hätte…“
    Es ist nicht leicht weiterzulesen, wenn man von Anfang an die Erzählperspektive ablehnt, doch die Handlung war dann so interessant, dass ich bis zum Schluss durchgehalten habe.


    Picoult hat nach gründlicher Recherche den Alltag einer Familie, in der ein Kind mit OI (Osteogenesis imperfecta/Glasknochenkrankheit) lebt, nachgestellt. Sie zeigt gut und bedrückend auf, was diese Erkrankung für alle Mitglieder einer Familie bedeuten kann. Familie O´Keefe lebt in ständiger Sorge um Willow, die schon mit sieben Knochenbrüchen geboren wurde. Jeder Tag ist geprägt von der Angst, sie könne sich erneut verletzen, denn zu den Schmerzen kommen noch die enormen Kosten für Behandlung, Operationen, sowie Rollstühle, Prothesen, Krankengymnastik, die in den USA nicht selbstverständlich von der Krankenversicherung übernommen werden.
    Um diese Kosten erstattet zu bekommen, und so ihrem Kind eine finanziell abgesicherte Zukunft zu bieten, verklagt Charlotte, die Mutter, ihre Gynäkologin und gleichzeitig beste Freundin auf „ungewollte Geburt“ – Ihrer Meinung nach hätte sie als Ärztin schon auf dem Ultraschallbild erkennen müssen, dass die Erkrankung vorlag und ihr somit die Wahl bieten können, abzutreiben. Diese Klage, spaltet die gesamte Familie, verletzt das eigene Kind schwer, das sich von nun an nicht mehr gewollt fühlt und Charlotte verliert zudem ihre beste Freundin. Als sie vor Gericht zieht, erregt der Prozess Aufmerksamkeit im ganzen Land…


    Es sind die Fragen, die sich letztlich aus der Handlung ergeben, die das Buch für mich interessant gemacht haben. Auf „ungewollte Geburt“ zu klagen hat einen üblen Beigeschmack, geht das schon in Richtung Designer-Babys? Wird in Zukunft nur noch perfekten Babys die Geburt zugestanden? Diese Aspekte werden vor Gericht gründlich beleuchtet und machen sehr nachdenklich.
    Bei den Gerichtsszenen nimmt die Autorin leider aber auch jedes Klischee mit, das auf dem Weg liegt, und so muss man an die vielen amerikanischen Filme denken, bei denen am Ende immer der Gute ein so betroffen machendes Plädoyer hält, (untermalt von dramatischer Musik, oder leisen Tönen in Moll) dass sämtliche Geschworenen zu Antidepressiva greifen lässt und dem Zuschauer das Wissen gibt, seine Tränen haben sich gelohnt, und die Gerechtigkeit wird siegen…
    Der Schluss dann wieder ein echter Picoult, der mich trotz der interessanten Handlung dann endgültig ärgerlich das Buch hat zuschlagen lassen. Ich weiß, es gibt viele Picoult-Fans, die genau diese Geschichte mit „sensibel geschrieben, zart und empfindsam erzählt“ bezeichnen werden - genau das war ja auch die (für mich zu offensichtliche Absicht) der Autorin, doch ich merke immer wieder, dass ich mit solch einer bewusst erzeugten Betroffenheitspredigt nichts anfangen kann. Insgesamt waren es mir zu viele egoistisch klingende Jammertiraden und auch versteckte Vorwürfe an Willow, die dann auch noch durch die persönliche Ansprache (die erst später so ungefähr einen Sinn ergibt), dazu führen würden, dass solch ein erkranktes Kind sich wirklich ungewollt und ungeliebt fühlt.



    Mein persönliches Fazit: Ein interessantes Thema, das zum Nachdenken anregt, doch das bei jedem Satz die Intention der Autorin Betroffenheit zu erzeugen, spüren lässt. Die Frage, wie Familien darüber denken, die sich tatsächlich im Alltag mit dieser Erkrankung auseinander setzen müssen, stellt sich ebenfalls.

  • Die Frage, wie eine Familie, die sich im Alltag mit dieser Krankheit auseinandersetzen muß, über dieses Buch denkt, kann ich dann berichten, wenn ich das Buch gelesen habe. Wir haben einen kleinen 2-jährigen Sohn mit Glasknochen. Und ich bin schon sehr sehr neugierig auf dieses Buch...
    Liebe Grüße
    Andrea

  • Hallo Andrea,


    deine Meinung würde mich wirklich interessieren, denn ich habe mich beim Lesen öfter gefragt, ob man sich als betroffene Familie vorgeführt fühlt, oder ob es so ist, dass man das Ganze eher positiv sieht, weil das Buch ja auch auf jeden Fall einen Einblick in den Alltag mit der Erkrankung gibt und auf sie aufmerksam macht. Und ob dieser Alltag richtig geschildert ist...
    :wave

  • Erschütternd – Erschütternd und unvorstellbar ist das neueste Buch von Jodi Picoult. In ihrer bekannt mitreißenden Art scheut sie sich wieder nicht vor hochbrisanten Themen. Zupackend beleuchtet sie schwierige Fälle, über die sonst der Mantel des Stillschweigens gelegt würde, von allen Seiten, ohne zu verurteilen. Denn es gibt sie immer – die zweite Seite, die auf den ersten Blick zum Stirnrunzeln verleitet, oder dazu, eine Person zu verdammen und sie gefühllos wirken lässt. Aber blickt man einmal hinter die scheinbare Gefühllosigkeit, findet man verzweifelte Charaktere, die das Beste aus einer Situation machen wollen und einfach zu besonders drastischen Maßnahmen greifen müssen. Was nicht nötig wäre, wenn Versicherungen für schwerstbehinderte Kinder alles Notwendige zahlen würden. Was nicht nötig wäre, wenn die Spezialanfertigungen nicht so teuer wären. Was nicht nötig wäre, wenn nicht nur ein Elternteil arbeiten gehen könnte und das andere Elternteil sich aufreibt in der Betreuung des behinderten Kindes. Wie ein Zahnrad greift eins ins andere und treibt Menschen zu Verzweiflungstaten – auch dazu, zu gestehen, ein geliebtes Kind ungewollt geboren zu haben, wenn man früher von der verheerenden Krankheit gewusst hätte. Was ist gerecht? Dem Kind jegliche Chance auf ein Leben zu nehmen, oder ihm ein Leben zu ermöglichen, mit allen schwierigen Konsequenzen.


    Zerbrechlich – die Glasknochen, genauso zerbrechlich wie das Leben. Ein falscher Schritt, eine falsche Drehung – und alles kann schon wieder ganz anders sein. Unvorstellbar die Schmerzen, die ein Kind mit dieser Krankheit sein ganzes Leben lang erdulden muss. Ein Kind, was bereits im Mutterleib schon sieben Knochenbrüche hat und bei der Geburt zwei weitere bekommt. Ein Kind, was sich alleine schon beim Niesen eine Rippe bricht. Ein Kind, was niemals toben darf, nie rennen oder springen – es könnte sich beim Aufkommen den Fuß brechen. Ein Kind, was niemals mit seiner großen Schwester auf das Eis gehen darf. Ein Kind, dessen Augen sich blau färben, wenn es sich wieder einmal etwas gebrochen hat. Und das passiert häufig, alleine mit fünf Jahren hat Willow schon 57 Knochenbrüche hinter sich. Selbst das Schulterblatt, was fast unmöglich ist, hat sie sich gebrochen, nur weil sie aus dem Affekt etwas aufhalten wollte. Trotz alldem hat Willow ein erfülltes Leben, denn sie ist ein kleines Genie. Sie ist hochintelligent und geistig auf einem weit höheren Niveau, als ihr biologisches Alter. Sie redet wie ein Erwachsener und saugt Informationen jeglicher Art förmlich in sich auf. Ihr bleibt auch nichts anderes übrig – unbeweglich, wie sie ist. Ihre Eltern lieben sie, sie sind immer für sie da, Willows Bedürfnisse haben Vorrang vor allem anderen.


    Und doch begehen sie eine sträfliche Vernachlässigung eines Kindes – nämlich ihrer älteren Tochter Amelia. Sie ist Charlottes Tochter, ihr Vater spielt keine Rolle in dieser Geschichte, Sean sieht sie als seine Tochter an. Sie ist ein Mitglied dieser Familie, darauf legt Sean großen Wert. Nur warum behandeln sie sie dann nicht auch so? Amelia muss immer zurückstecken, was Willow nicht kann, wird auch nicht gemacht. Unbegreiflich, warum nicht ein Elternteil auch mal etwas mit ihr alleine unternimmt, darüber wird noch nicht einmal nachgedacht. Entweder alle – oder keiner. Amelia wird dann schon mal vergessen, wenn Willow wegen eines Knochenbruches in die Notaufnahme muss, ihr wird suggeriert, dass das natürlich wesentlich wichtiger ist. Ihr Aufbegehren wird ignoriert, ihre stummen Hilfeschreie überhört. Amelia wird immer unsichtbarer und zieht sich in sich zurück – und keinem fällt es auf. Erst als Außenstehende die Familie darauf hinweisen, wird Amelias Leid offensichtlich. Leider ist dieses Verhalten häufig in einer Familie mit einem behinderten Kind. Dessen Bedürfnisse, die ja weitaus größer sind als die eines normalen Kindes, werden gestillt, das andere Kind muss sehen, wo es bleibt. Diesem Balanceakt gerecht zu werden ist wie ein Tanz auf dem Drahtseil, bei der kleinsten Unsicherheit rutscht man ab und das Desaster nimmt seinen Lauf.


    War die Anklage wirklich gerechtfertigt? Was es das wert, eine Freundschaft zu zerstören, der besten Freundin sozusagen einen Dolch in den Rücken zu stoßen? Wie bringt man einem Kind bei, dass seine Geburt ungewollt war? Hätte Charlotte nicht irgendeinen anderen Ausweg nehmen können? Für Charlotte ist es die einzige Möglichkeit, ein Versuch, Willows Leben abzusichern und es in ertragbare Bahnen zu lenken. Wenn nur Geld genug da ist, um einen neuen Van zu kaufen, anstatt den alten nur notdürftig reparieren zu lassen. Einen neuen Rollstuhl zu kaufen, wenn der alte nicht mehr passt und nicht erst fünf Jahre warten zu müssen, bis die Versicherung die Kosten trägt. Geld für die Wartung des Rollstuhls, für behindertengerechte Einrichtung der Wohnung, für eine Rollstuhlrampe, für Therapien, für Sommercamps speziell für Kinder mit der Glasknochenkrankheit. Was passiert, wenn Willows Eltern einmal etwas passiert und sie nicht mehr für sie sorgen können? Der Druck ist groß, die Möglichkeit einmalig. Was danach passiert, liegt nicht mehr wirklich in Charlottes Hand. Sie wird als das Monster angefeindet, die ihre Tochter nicht wollte, nur weil sie behindert ist. Wer entscheidet überhaupt, ob ein Kind das Recht hat, geboren zu werden? Der Elefant stürmt los – und hinterher liegt alles in Scherben, zerbrechlich wie das Leben. Einer gewinnt im Gericht – aber ist es wirklich ein Sieg?


    Jodi Picoult wäre nicht Jodi Picoult, wenn sie nicht eine weitere, genauso faszinierende Nebenhandlung in ihre Story eingebaut hätte. Marin Gates, Charlottes Anwältin, ist adoptiert und auf der Suche nach ihrer leiblichen Mutter. Viele Informationen hat sie nicht, denn Adoptionsakten liegen unter Verschluss und sind auch Anwälten schwer zugänglich. Picoult beschreibt einfühlsam Marins Gefühle, die nicht wirklich einordnen kann, ob sie sich minderwertig fühlen soll, da ihre Mutter sie nicht wollte, oder froh und glücklich sein soll, in eine liebende Familie gekommen zu sein. Realistisch hinterfragt die Autorin beide Seiten, ob es wirklich besser ist für eine Mutter, ihr Kind gegen alle Widrigkeiten bei sich zu behalten oder ihrem Kind das Beste zu wünschen und es in eine heile Familie zu geben. Für viele Frauen ist es der einzige Weg, ein eigenes Kind zu bekommen, sie lieben es genauso, wie ihr eigenes. Was macht eine Mutter wirklich aus, das Kind geboren zu haben oder es aufgezogen zu haben. Wird die Stelle der leiblichen Mutter vielleicht überbewertet? Möglicherweise entstammt das Kind einer Vergewaltigung, ist es da nicht verständlich, wenn die leibliche Mutter nicht jeden Tag an ihre Qualen erinnert werden will? Die Gründe, ein Kind wegzugeben sind vielfältig, Marin sollte nicht ihr Leben vor lauter Grübeln aus den Augen verlieren und die Tatsache akzeptieren, dass ihre Mutter ihre Gründe hatte – welche auch immer. Den Grund zu wissen, erleichtert möglicherweise ihr Leben, dazu muss er aber auch akzeptiert werden.


    Die Geschichte wird aus verschiedenen Perspektiven erzählt, die sich auch optisch durch andere Schriftarten unterscheiden. Durch diese ständigen Wechsel bekommt man Einblicke in die verschiedenen Sichtweisen der handelnden Personen, sie wird nachvollziehbar und rechtfertigt das Handeln des Einzelnen. Geschrieben ist es in einer Art Brief an Willow, jeder erzählt, wie er empfand und wie er Willow erlebt hat, ihre Gefühle und Äußerungen kommen nur durch die anderen Personen ans Tageslicht. Durch diese Perspektivwechsel bleibt es aber durchgehend spannend, nie weiß man, wer als nächstes erzählt, ob in der Gegenwart oder in der Vergangenheit. Erwartungsvoll wird Seite um Seite umgeblättert, wie wird das Gerichtsurteil wohl ausfallen und wie wird es in aller Leben eingreifen. Denn unberührt bleibt keiner von dem Urteil und der Verhandlung, zerbrochen wurde dadurch vieles. Wie viel wird wohl wieder zusammengesetzt werden können?


    Das Ende wiederum macht wütend. Wütend auf ein Kind, was es eigentlich besser wissen sollte. Wütend auf Handlungen, die unnötig waren. Typisch Jodi Picoult und typisch Tränendrüsen drückend. Über der ganzen Geschichte und der Darstellung Willows darf man aber eines nicht vergessen – Willow ist erst ein Kind von sieben Jahren mit einer ungewöhnlichen und nicht heilbaren Krankheit, ein Kind, was gelernt hat, mit Schmerzen umzugehen, ein Kind, was sich anhören musste, dass es nicht gewollt war. Dass es bei dem Prozess gar nicht um die Geburt an sich ging, sondern lediglich um die Wahl, die die Eltern nicht hatten, ist dabei nebensächlich. Solange in Amerika über alles geklagt werden kann.


    Fazit


    Ist Charlotte O’Keefe wirklich ein Monster? Hat sie nicht nur etwas ausgesprochen, was manche andere denken, es aber nie sagen würden? Oder ist es einfach nur eine Verzweiflungstat einer verzweifelten Frau, die das Beste für ihr Kind möchte? Jodi Picoult hat hierfür bestimmt kein Patentrezept oder eine endgültige Meinung, sie durchleuchtet lediglich alle Seiten einer vertrackten Situation, ohne zu verurteilen oder zu rechtfertigen. Sie gibt dem Leser genügend Raum für seine eigene Meinung und bittet lediglich zu bedenken, dass Schwarz nicht immer Schwarz und Weiß nicht immer Weiß sein muß. In ihrer unnachahmlichen Art hat sie wieder mal ein Buch der Nachhaltigkeit geschaffen, über das man noch sehr lange nachdenken wird, ein Buch, was zu Diskussionen anregt, ein Buch, was keine allgemeingültigen Lösungen aufzeigt, sondern viele verschiedene Facetten einer Sichtweise hinterlegt.

  • Klasse Rezi! :danke


    Ich war von diesem Buch auch sehr begeistert. Für mich seit langem mal wieder ein Buch was an "Beim Leben meiner Schwester" rankommt!

    Viele Grüße, Kerstin


    Gib dem Menschen einen Hund und seine Seele wird gesund.
    (Hildegard von Bingen, (1098 - 1179)

  • Hallo Eskalina


    Also ich bin sehr sehr überrascht von diesem Buch. Es spiegelt eigentlich genau das wieder, was eine Familie im wahren Leben mit dieser Krankheit alles mitmacht. Voll auf den Punkt getroffen. Ich habe es noch nicht ganz gelesen, da ich die Zeit einfach nicht habe. Bin jetzt bißl über die Hälfte, aber was ich bis jetzt gelesen habe ist einfach super. Man fühlt sich überhaupt nicht vorgeführt. Es spiegelt wirklich den Alltag mit so einem betroffenen Kind wieder. Auch diese ganzen Kleinigkeiten, die aufgeführt werden. Sei es nur das, dass sie immer das ganze Equipment mit rumschleppen müssen und das sie, wenn das Kind mal nicht bei ihr ist, schon auf Anrufe wartet, dass sie sich was gebrochen hat. Oder das sie ständig zu ihr sagt: sei vorsichtig, tu das nicht, tu dies nicht. Das ist wie bei uns :) Also ich hätte mir das nicht so real vorgestellt. Hatte eigentlich eine riesen Übertreibung erwartet. Aber das ist im wahren Leben genauso mit einem Kind mit OI, wie es hier geschrieben wird.
    Bin gespannt, wie es weiter geht...


    Liebe Grüße
    Andrea

  • Also ich habe mir das Buch letzte Woche besorgt und bin schon sehr gespannt wie es ist.


    Alle Bücher von Jodi Picoult die ich bisher gelesen habe waren sehr gut. Es waren eigentlich immer Themen/Schicksale aus dem Leben die jeden treffen können.


    Aber nach den bis jetzt gelesenen Rezis kann es nur gut sein.


    Viele Grüße :wave

  • "Zerbrechlich" ist die Geschichte von Willow, einem aufgeweckten, kleinen Mädchen, das unter der Glasknochenkrankheit leidet, und die Geschichte ihrer Familie, die versucht, mit den schwerwiegenden Konsequenzen dieses Handicaps zu leben. Ihre Geschichte ist bewegend, setzt auf Emotionen und kann zu Überlegungen in unterschiedlichste Richtungen anregen, nichtsdestotrotz ist sie ausgedacht und kein Tatsachen- bzw. Erfahrungsbericht, ein Fakt, den man sich während des Lesens immer wieder ins Gedächtnis rufen sollte.
    Unbestritten, Jodi Picoult versteht ihr Handwerk. Durch ihre sensible und treffende Wortwahl und ihren anschaulichen Schreibstil, schafft sie es, den Leser zu berühren und miteinzubeziehen.
    Auch ich fühlte anfangs mit, mit Willow, die man aufgrund ihres liebenswerten Wesens einfach gern haben muss, mit ihrer Mutter Charlotte, die sich aufopfert und für ihr Kind nur das Beste will, mit ihrem Vater Sean, der unter dem Druck steht, durch seine Arbeit die entstehenden Kosten für eine optimale Behandlung decken zu können, und mit Willow's Schwester Amalie, die von Schuldgefühlen gepeinigt geradezu nach Aufmerksamkeit schreit und nicht gehört wird. Mit in die Handlung einbezogen werden zudem die Freundin von Charlotte, die gleichzeitig ihre Frauenärztin ist und später wegen eines Kunstfehlers angeklagt wird, und Charlotte's Rechtsanwältin, die nebenbei nach ihrer leiblichen Mutter sucht. Alle Protagonisten richten sich abwechselnd in der Ich-Form direkt an Willow, was die Handlung belebt und abwechslungsreich gestaltet.
    Dennoch, je weiter ich in das Geschehen eingetaucht bin, desto mehr bekam ich den Eindruck, der regelrechten Aufforderung von Jodi Picoult zu Verständnis und Mitleid sowie dem damit verbundenen Druck auf die Tränendrüse nicht mehr standhalten zu können. Der Handlungsverlauf wird vorhersehbar und führt zu dem entscheidenden Prozess hin. In einer ausführlich, sehr amerikanisch dargestellten Gerichtsverhandlung werden die längst bekannten Sorgen, Nöte und Zweifel der Hauptpersonen erneut aufgegriffen. Der Ausgang des Romans ist schließlich und endlich in meinen Augen an Melodramatik kaum zu übertreffen.
    Da ich mich seit Jahren mit der Behindertenproblematik auseinandersetze, wage ich zu behaupten, daß diejenigen, die sich mit der Situation von Behinderten in der Gesellschaft, den Schwierigkeiten der Angehörigen und den sich aus einer Behinderung zwangsläufig ergebenen ethischen Fragen bereits eingehender beschäftigt haben, in diesem Roman nicht viel Neues erfahren werden. Für andere mag die Thematik interessant und aufschlussreich sein. Ob sich allerdings Betroffene bei einer Lektüre gut unterhalten, die das widerspiegelt, was sie alltäglich hautnah erleben, vermag ich nicht zu beurteilen. Trotz der ausgezeichneten Recherche der Autorin hat mich das Buch in seiner Gesamtheit jedenfalls nicht für sich gewinnen können.

  • Andrea - danke, dass du deinen Eindruck geschrieben hast. Es ist natürlich als nicht Betroffener auch schwer nachzuvollziehen. Dann ist dieser Kritikpunkt, dass man sich eventuell vorgeführt fühlen könnte, schon mal nichtig. Bleibt wieder mal meine Kritik an dem Schreibstil, der meiner Meinung nach wieder so bewusst auf die Tränendrüse drücken will, aber das ist einfach mein persönliches Gefühl.
    Es muss unglaublich schwer sein, wenn man ständig bereit sein muss, dass etwas passiert und wenn man dann sein Kind leiden sieht, ohne wirklich helfen zu können. Ich wünsche euch auf jeden Fall ganz viel Kraft. :wave

  • Ich habe hierzu die Leseprobe gelesen und möchte auf jeden Fall wissen wie die Geschichte weitergeht. Ich denke, dass dieses Buch nicht für jeden geeignet ist.
    z.B. meine Schwester (hat im Juli ihr erstes Kind zur Welt gebracht) konnte noch nicht einmal die Leseprobe zu Ende lesen, weil ihr die detailreiche Beschreibung der Geburt zu nahe ging..

    Einige Bücher soll man schmecken, andere verschlucken und einige wenige kauen und verdauen.

  • Eskalina
    Es ist schon so geschrieben, dass es auf die Tränendrüse drückt, das stimmt. Aber im alltäglichen Leben mit so einem betroffenen Kind ist das einfach so. Es ist schwer das stimmt. Sehr schwer sogar. Aber man lebt sich einfach in die Situation hinein und man kennt es dann auch gar nicht anders.
    Vielen Dank für deine lieben Wünsche. Lieb von Dir :) Die Kraft können wir auch gut brauchen :)
    Liebe Grüße
    Andrea