Tokio im Jahr Null von David Peace

  • Tokio im Jahr Null von David Peace


    ISBN: 3935890656


    Verlag: Liebeskind


    Erscheinungsjahr: 2009


    Seitenzahl: 408


    Übersetzer: Peter Torberg


    Über den Autor:
    David Peace, geboren im Jahr 1967, studierte an der Technischen Hochschule in Manchester und lebt nach Jahren in Istanbul nunmehr mit seiner japanischen Ehefrau und zwei Kindern in Tokio.
    Von ihm sind u.a. die Bücher 1974, 1977,1980 und 1983 erschienen.


    Über den Inhalt:
    Tokio im 20.Jahr Showa.
    Der japanische Kaiser Hirohito verkündet im Sommer 1945 die Kapitulation Japans gegenüber den Allierten und damit auch das Ende des Zweiten Weltkrieges für Asien.
    In diesem bewegenden Sommer werden nach und die Leichen junger Frauen gefunden.
    Ihre Mörder zu finden - mit dieser Aufgabe wird Inspektor Minami beauftragt.


    Meine Meinung:
    Tokio im Jahr Null bildet den Auftakt zu einer Trilogie,
    die David Peace im Tokio der Nachkriegsjahre ansiedelt.
    Diese Nachkriegszeit ist es auch, die Peace erfolgreich in den Mittelpunkt seiner Geschichte stellt und den Leser mit auf eine Reise in eines der dunkelsten Kapitel der japanischen Geschichte nimmt. Anhand einzelner Todesfälle versucht der Autor unterschiedliche Schicksale
    der Bevölkerung darzustellen, die durch Not und Elend gekennzeichnet sind.


    Junge Frauen, fast noch Kinder, verkaufen ihren Körper für ein paar Lebensmittel an Männer, die vom Krieg gekennzeichnet sind. Einige dieser Frauen haben kein Glück und werden Opfer eines Gewalttäters, der schnell ausgemacht ist. David Peace geht es in seinem scheinbaren Kriminalroman
    nicht um eine Whodunnit-Story. Sie bildet lediglich den Ausgangspunkt anhand des Protagonisten Minami, vom Leben und der Schuld des Einzelnen am Krieg und dem Überlebenskampf nach Kriegsende zu erzählen.
    Dieser Überlebenskampf schildert nicht nur eindrücklich den Umgang mit Hunger und Obdachlosigkeit, sondern erzählt von den Säuberungsaktionen der Amerikaner und dem von den Allierten geschürten Misstrauen innerhalb der Bevölkerung.


    Dabei bedient sich David Peace einer sehr schlichten und zuweilen experimentellen Erzählweise, die den Leser teilweise minutiös am Geschehen teilhaben und manchmal ob der Wortspiele verzweifeln lässt. So manches Mal muss der Autor beim Schreiben die Verfilmung seines Buches vor Augen gehabt haben, denn die reduzierte und traditionell geprägte Handlung erinnern stark an die Werke des Regisseurs Akira Kurosawa.


    Insgesamt ist Tokio im Jahr Null ein starkes Stück Literatur,
    das dem Leser nicht nur Kenntnisse in japanischer Nachkriegsgeschichte,
    sondern auch Durchhaltevermögen abverlangt und ihn letztlich mit einer außergewöhnlichen Umsetzung eines historisch nicht unbedeutsamen Themas belohnt.

  • Sehr interessante Rezi. :wave
    Wieder ein Buch für die Wunschliste. :-)
    Kannst du die Überschrift bitte noch um den Namen des Autors ergänzen? Danke.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Japan in der Nachkriegszeit - ein scheinbar wirklich vernachlässigtes Thema. Ich wüsste kein Buch das sich mit diesem Thema beschäftigt. Vom Thema wirklich mehr als hochinteressant.

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ich lese ja zur Zeit mit wachsender Begeisterung die Red Riding-Saga von David Peace und wenn diese Reihe ähnlich komplex gestrickt ist, werde ich sie mir mal vormerken, allerdings wohl erst kaufen wenn alle Teile erhältlich sind. Ich merke schon an Red Riding, dass ich an den vielen Figuren und Beziehungen untereinander verzweifeln würde, hätte ich die Bücher nicht unmittelbar nacheinander gelesen.

    „Furcht führt zu Wut, Wut führt zu Hass. Hass führt zu unsäglichem Leid.“

    - Meister Yoda

  • Tokio im Jahre Null: ich wundere mich gerade über die frappierenden Ähnlichkeiten mit z.B. Dresden im Jahre Null :wow Das Tokio ähnlich zerbombt wurde wie viele deutsche Städte, wusste ich gar nicht. Und dann ist dort doch alles ganz anders.
    Ich stecke zwar noch mittendrin, bin aber absolut fasziniert!

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Hoppla! Ich bin gerade erst durch DDs Posting auf diese Rezi gestoßen. Danke, Salonlöwin, das klingt hochinteressant für mich. Ich setze es schon mal auf die WL und quetsche dich bei unserem nächsten persönlichen Treffen noch etwas dazu aus. :grin


    LG harimau :wave

    "Lieber losrennen und sich verirren. Lieber verglühen, lieber tausend Mal Angst haben, als sterben müssen nach einem aufgeräumten, lauwarmen Leben"

    Andreas Altmann

  • Das ist zwar etwas offtopic, aber da sich in diesem Thread der eine oder andere Ostasien/Japan-Kenner tummelt, will ich hier mal eine Frage loswerden:
    Ich habe zwar mitgekriegt, dass Hierarchien in Japan sehr wichtig sind, musste aber durch das Fukushima-Debakel auch feststellen, dass dort eine ausgeprägte Konsenskultur mit einer nahezu beängstigenden Selbstbeherrschung herrscht.


    Nun ist der Ton in diesem Buch keineswegs freundlich, im Gegenteil. Die Vorgesetzten brüllen ihre Untergebenen permanent an, schlagen sie gar auf den Kopf und befehlen ihnen ständig, sich zu verbeugen. Andererseits sind eben jene Vorgesetzten ihren Chefs gegenüber extrem devot, entschuldigen sich andauernd für nix oder bedanken sich gar, wenn sie einen völlig ungerechtfertigten Rüffel kriegen.


    Ist das irgendwie realistisch oder entspringt das den Vorstellungen eines Europäers, der zwar lange in Japan gelebt hat, aber diese Kultur eben doch von außen betrachtet? Irgendwie passen seine Darstellungen so gar nicht zum Bild des immer freundlichen Japaners, das in meinem Kopf rumgeistert :gruebel

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Hallo DraperDoyle,


    als offtopic würde ich Deine Fragen nicht betrachten, da sie in konkretem Zusammenhang mit dem Roman gestellt werden.
    Als Japan-Kennerin würde ich mich auch nur bedingt sehen, aber da meine Neugier mich extrem treibt und mich nach der Lektüre die gleichen Beobachtungen wie Dich bewegt haben, habe ich die Chance genutzt nachzufragen.


    Nehmen wir das Beispiel der Schläge:
    Es ist erst wenige Jahrzehnte her, dass sich die grundsätzliche japanische Unternehmenskultur dahin geändert, dass Untergebene nicht mehr Prügel beziehen. Gleiches gilt übrigens auch für den Umgang von Lehrern mit Schülern.


    Was den devoten Umgang und die permanenten Entschuldigungen von Angestellten gegenüber ihren Vorgesetzten betrifft, hat sich meines Erachtens nicht viel geändert.
    Verbeugungen mit entsprechender Tiefe sind die Regel und was besonders interessant ist, ist der Umstand, dass auch Hochschulabsolventen vor ihrem Eintritt in ein Unternehmen nochmals auf die Höflichkeitssprache getrimmt werden. Eine gute Erziehung im Elternhaus und in der Schule sowie ein Abschluss einer Eliteuniversität sind kein Garant für einen gepflegten Umgangston gegenüber Höherrangigen.
    Hierzu vielleicht noch ein Wort. Was mir als Europäerin auffällt ist die enorme Lautstärke der Japaner, die in extremem Gegensatz zur sonstigen Zurückhaltung steht und die ich als mehr als anstrengend empfinde.
    Entschuldigungen sind übrigens etwas, was die Japaner mit der Muttermilch aufsaugen. Es wird sich für alles und nichts entschuldigt, aus europäischer Sicht wirkt dieser inflationäre Gebrauch nur noch wie eine Floskel.


    Was die Konsenskultur anbelangt, so wirkt diese eben nur nach außen.
    Im Innenverhältnis ist zwar alles auf Harmonie ausgerichtet, aber es wird diskutiert und gestritten, um am Ende ein Ergebnis zu präsentieren, das angeblich allen gerecht wird.
    Aber wie das bei einem Konsens grundsätzlich ist werden nie alle Beteiligten zufrieden sein, was letztlich zu großer Frustration und auch Depressionen führt.


    Vielleicht sollte in diesem Zusammenhang auch das Stichwort Distanz aufgegriffen werden. Man erlebt Japaner immer als freundlich, beherrscht und vor allem zurückhaltend. Meine Beobachtungen, die im übrigen auch von meinen deutschen Freunden geteilt werden, gehen dahin, dass Japaner bei näherer Bekanntschaft untereinander als auch mit Ausländern relativ schnell distanzlos werden. Wenn sie (die Japaner) durch eine Bemerkung schockiert werden bekommt man schon einmal einen Schlag in den Nacken (Frauen werden in den Arm geknufft), Bitten werden schonungslos an einen gerichtet, andererseits bekommt man zweihundertprozentig die Vorteile eines überragenden Netzwerkes zu spüren und man wird in den japanischen Klatsch und Tratsch voll integriert, um anschließend wieder ein Tabu vor den Latz geknallt zu bekommen, weil etwas doch nicht für Ausländerohren bestimmt ist.
    Nach mehr als fünf Jahren intensivem Umgang mit Japanern komme ich immer noch nicht aus dem Staunen heraus und das wird sich wohl auch nie ändern.


    Noch ein Wort zum Roman: Achte bitte auf die Anspielungen zu General MacArthur. Vielleicht diskutieren wir darüber, sofern Du Lust hast, nach Beendigung Deiner Lektüre.

  • Vielen Dank für deine ausführliche Antwort! Ich finde es etwas schwierig, bei diesem sehr speziellen Buch zu beurteilen, ob diese grausliche Stimmung in der japanischen Gesellschaft, oder doch eher dieser Ausnahmesituation nach dem Krieg geschuldet ist.
    Wenn man aber bedenkt, dass Deutschland 1945 in einer sehr ähnlichen Situation war, sind die Unterschiede doch bemerkenswert.


    MacArthur werde ich im Auge behalten :wave

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Eigentlich ist ein Thriller über einen Serienmörder, erst recht einen historisch verbürgten, für mich absolutes Nogo, sind die doch literarisch oftmals unter aller Kanone.
    Das ist aber in diesem Roman ganz anders, im Gegenteil, sprachlich als auch inhaltlich war das Buch für mich streckenweise eine echte Herausforderung.


    Da ist zunächst einmal diese Kulisse: Eine Gesellschaft, gedemütigt durch die Niederlage im Krieg, von der amerikanischen Besatzung bevormundet, die völlig fremde Moralvorstellungen hat, hungrig, aber vor allem ohne jeden sozialen Zusammenhalt. Hier ist jeder Mensch dem Menschen ein Wolf. In diesem Roman gibt es keinen einzigen „Guten“, selbst der Ich-Erzähler, ein Inspektor bei der Tokioter Polizei, der mit der Aufklärung der Frauenmorde beauftragt wird, ist eigentlich ein Antiheld (auch wenn sich am Ende des Buches so einiges relativiert). Dabei ist der gar kein echter Bösewicht, sondern scheint mir eher die japanische Gesellschaft nach Ende des Krieges zu versinnbildlichen.: fast vollständig frei vom Eingebundensein in irgendwelche soziale Strukturen, treibt er durch das zerstörte Tokio, tritt nach unten und buckelt nach oben, ist korrupt, indem er für ein paar Yen mit der Unterwelt zusammenarbeitet und lässt seine Wut schon mal an einer jugendlichen Nutte aus.
    Auch sprachlich liest sich dieser Thriller nicht so einfach weg: Kurze Sätze, viel Sprünge, Andeutungen erfordern volle Konzentration. Oft verschwimmen die Grenzen zwischen Schein und Sein und manchmal wusste ich nicht, auf welcher Seite dieser Grenze ich nun stand. Außerdem wimmelt es von Protagonisten, deren Namen für mich eine eher willkürliche Aneinanderreihung von Buchstaben waren und die ich mir nur schwer merken konnte. Oft flog ich aus der Kurve, weil ich vergessen hatte, ob gerade von einem Opfer, einem Polizisten oder gar von irgendeiner Provinz die Rede war. Aber das lässt sich wohl in einem Roman, der in Japan spielt, nur schwer vermeiden.


    Trotzdem: dies ist ein großartiger Roman, auch wenn die Lektüre wegen seiner düsteren Stimmung nicht wirklich ein Vergnügen ist.

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)