Durch den Fall Caster Semenya bin ich mal wieder auf eines meiner alten und gern beackerten Themen, nämlich die sex/gender-Differenz gekommen. Was macht uns eigentlich so sicher, dass es zwei Geschlechter gibt und dass man die so wahnsinnig trennscharf auseinander bekommen kann? Ein spannendes Thema, dem sich die Naturwissenschaft bis auf wenige Ausnahmen entzieht. Eine rühmliche Ausnahme bildet die Biologin Anne Fausto-Sterling (Brown University), die sich immer wieder kritisch mit ihren Fachkollegen in Bezug auf dieses Thema auseinandergesetzt hat, zuerst in ihrer Monographie „Myths of Gender“, die bereits im Jahr 1985 das erste Mal erschienen ist, mit dem Aufkommen neuer Erkenntnisse in der Hirnforschung allerdings 1992 noch einmal überarbeitet und ergänzt wurde.
Im Grunde beschäftigt sich Fausto-Sterling mit der naturwissenschaftlichen Unterfütterung bestehender Geschlechterklischees. Sie durchforstet ältere und jüngere empirische Forschungsliteratur nach Beweisen für oder gegen eine angeborene Geschlechteridentität.
Auffällig ist dabei mehreres: Zum ersten gibt es als Fakten hingenommene Stereotype, die sich naturwissenschaftlich nicht belegen lassen, über die aber auch nicht geforscht wird. Wenn geforscht wird, ist auffällig, dass aufgrund lächerlich kleiner Datengrundlagen ziemlich weitreichende Annahmen gemacht werden. So ist etwa in der naturwissenschaftlichen Forschung kein Hinweis darauf zu finden, dass Testosteron Aggressivität fördert. Das Prämenstruale Syndrom (PMS) ist zwar eine weitverbreitete Erfahrung von Frauen, unter wissenschaftlichen Bedingungen lässt sich aber kein (und zwar gar kein) Zusammenhang zwischen Hormonzyklen und Stimmungsschwankungen herstellen. Anstatt nach anderen Gründen für die erfahrenen Beschwerden zu suchen, werden gewisse Untersuchungsergebnisse einfach missachtet oder uminterpretiert.
Zum zweiten gibt Fausto-Sterling einen wirklich amüsanten Überblick über die Geschichte der zweigeschlechtlichen Hirnforschung, in deren Geschichte immer wieder neue Versuche gemacht wurden, die Überlegenheit des männlichen Gehirns im Allgemeinen und seine bessere Eignung für bestimmte Denkprozesse im Speziellen (Mathematik, logisches Denken) zu untermauern. Das treibt die seltsamsten Blüten, so dass z.B. beobachtet werden kann, wie sich die Beschreibung des männlichen Gehirns im Laufe der Erkenntnisse über die Zuständigkeiten gewisser Hirnareale für bestimmte sensorische Fähigkeiten verändert. Areale, die man zu einem früheren Zeitpunkt für zuständig für gewisse männliche konnotierte Fähigkeiten hielt und von denen daher galt, dass sie im männlichen Gehirn selbstverständlich durchschnittlich größer seien, schrumpfen auf wundersame Weise, sobald das männliche Denken sich in andere Hirnareale verlagert.
Die Obsession der naturwissenschaftlichen Forschung, Beweise für einen angeborenen Geschlechtsdimorphismus zu finden, schlägt sich, so kann man verallgemeinernd sagen, nicht in einer erhöhten Sorgfalt bei der Erhebung der Daten und ihrer Interpretation, sondern eher im Gegenteil nieder. Meist kann man nur den Eindruck gewinnen, dass die Daten komme, was da wolle, an eine These angepasst werden müssen – und werden.
Als Einstieg in das Thema sehr hilfreich, leider sind mir keine weiteren Biolog/innen bekannt, die sich ähnlich differenziert mit dem Gender-Thema auseinandergesetzt haben. Ich weiß auch nicht, wie Fausto-Sterling in ihrer Wissenschaft rezipiert wird, in den transdisziplinären Gender Studies ist sie eine Klassikerin. Das liegt sicherlich auch daran, dass sie an keiner Stelle ausschließt, dass die Biologie eine Rolle bei bestimmten Verhaltensweisen spielen könnte, sondern dass sie nur die völlig überzogenen Rückschlüsse ihrer Fachkolleg/innen empirisch und logisch hinterfragt.
Auf deutsch ist das Buch nur noch antiquarisch zu haben.
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