Ihr kennt ja schon das Spiel: Alles, was näher auf den Inhalt eingeht, verstecke ich mittels Spoilerfunktion.
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Tom Liehr: Pauschaltourist, Berlin 2009, Aufbau Verlag, ISBN 978-3-7466-2533-1, 335 Seiten, Softcover, 11,5 x 19 x 2,2 cm, EUR 8,96 (D), EUR 9,20 (A)
„Ich bin achtunddreißig, lebe mit einer Frau und zwei Katzen zusammen, habe Publizistik studiert und im Nebenfach Literaturgeschichte, arbeite als Hiwi für ein Reisemagazin und hocke in einem gefängnisartige Touristen-Lager, das sich auf einer Insel befindet, die wie ein Atomwaffentestgebiet aussieht. Dazu trinke ich mit Erdöl verschnittenen Wodka und Bier, das vermutlich als Abfallprodukt bei der Kunststoffherstellung gewonnen wird.“ (S. 45)
Nikolas Sender, 38, reißt in der Redaktionskonferenz die Klappe ein bisschen zu weit auf und hat plötzlich einen sechswöchigen Höllenjob an der Backe. Aus dem Mund seines Chefredakteurs hört sich das so an: „Wir könnten jemanden losschicken, der sich nur Pauschalangebote anschaut, vier, vielleicht sogar drei Sterne und weniger. Anonym. Und darüber berichtet. Jeweils eine Woche, mit allem Drum und Dran.“ (S. 21)
Nicks Partnerin auf diesem Horrortrip ist ausgerechnet Nina Blume, die trinkfeste Chefin des Ressorts Weltreisen, die unter Flugangst leidet, eine Vorliebe für geschmacklos-enge Kleidung hat und stets ihren Pudel Bimbo mitschleppt. Na, Mahlzeit, das kann ja heiter werden! Wird es auch, zumindest für den Leser, wenn Nick und Nina samt Pudel mehrere Wochen lang durch die Pauschaltouristen-Hölle gehen.
Gran Canaria: Abgezockt und ausgeknockt
Ihre erste Station ist Gran Canaria. Dort treffen die beiden auf ein merkwürdiges Ritual, das sie fortan begleiten wird: das Reservieren der Hotelliegen am Pool mittels Badetüchern – morgens um halb fünf.
Nach einer Nacht mit einer elfengleichen Schönheit sind Nicks gesamte Wertsachen weg. Dafür hat er nun Filzläuse. Die Ersatzbeschaffung von Laptop und Kamera endet im Fiasko, weil Nick sein Helfersyndrom nicht im Griff hat.
Was ihre Mitmenschen beißt, für den Aufenthalt in so einer Touristen-Massenabfertigungsanlage einen Haufen Geld zu bezahlen und das ganze auch noch toll zu finden, erschließt sich weder Nick noch Nina. Ihr erster Artikel über dieses Reisefiasko schlägt ein wie eine Bombe. Privat läuft’s eher bescheiden: Nicks langjährige Lebensgefährtin Silke schickt ihn telefonisch in die Wüste, weil sie einen anderen hat. Sie räumt die gemeinsame Wohnung aus und verschwindet.
Marokko: Fischnudeln und Reptilienschnitzel
Nick und Nina begegnen einer Freundesclique aus Rostock und zwei, äh, Filmproduzenten. Bei einem peinlichen Showauftritt trifft Nick das Komikzentrum des Publikums, beim Bogenschießen trifft er etwas, worauf er gar nicht gezielt hat. Und bei einem Ausflug trifft er auf einen Reiseleiter, der mit missliebigen Gästen kurzen Prozess macht.
Auch der zweite Artikel kommt hervorragend an. „Auf diesem Niveau muss es weitergehen“, befiehlt Chefredakteur Heino Sitz (S. 172), drückt Nick und Nina etwas Schmerzensgeld in die Hand und schickt sie weiter nach Mallorca.
Mallorca: Die Mütter-Mafia schlägt zu
Auf Mallorca gibt es Ärger mit einer wild gewordenen Mütterhorde, die kollektiv auf einen vermeintlichen Kinderschänder losgeht. Mit Nick geht wieder der gute Samariter durch, und Oliver von Papening, das Müttermobbingopfer, erweist sich als dankbar, wohlhabend und gut vernetzt. Er kennt sogar Nicks und Ninas Chef. „Mutterschutz“ heißt der Artikel, den die beiden über Mallorca abliefern. Und schon sitzen sie im Flugzeug nach Portugal.
Portugal: Angeschmiert und abgeführt
Ein junges niederländisches Ehepaar entpuppt sich ebenfalls als nette Bekanntschaft. Weniger erfreulich hingegen verläuft Nicks zufälliges Zusammentreffen mit einer Dame des horizontalen Gewerbes und ihrem Beschützer. Selbst das filmreife Eingreifen des beherzten Niederländers kann da nichts mehr retten: Nick landet im portugiesischen Knast.
Durch Zufall erfährt unser Redakteur nun auch noch, wer ihm Lebensgefährtin Silke ausgespannt hat –und ist wie vom Donner gerührt. Wenigstens Nina ist glücklich. Ihr Lover hat versprochen, sich scheiden zu lassen.
Ägypten: Hühnchen rupfen im Nobelrestaurant
Ägypten ist die letzte Station dieser Touri-Ochsentour. Diese Etappe der Reise beginnt mit einer erfreulichen Begegnung beim Abflug und geht damit weiter, dass jemand gleich nach der Landung Ninas Koffer klaut. Ferner stellt sich die Frage, ob man eine naive Verkäuferin vor einem Heiratsschwindler warnen sollte oder nicht. Die Reise endet mit einem geschickt eingefädelten Showdown, bei dem in einem Nobelrestaurant diverse Personen zusammentreffen, die noch ein Hühnchen miteinander zu rupfen haben. Das hat Konsequenzen ...
Kaputte Typen, kaputte Träume
Zart besaitet sollte man für diese Lektüre nicht sein. Hier fallen schon mal deutliche bis derbe Worte. Wer das abkann, wird sich köstlich amüsieren und nicht umhin können, bei der einen oder anderen Szene laut loszulachen.
Manchmal bekommt man direkt Mitleid mit den schonungslos durch den Kakao gezogenen Urlaubszielen. Nein, möchte man am liebsten ausrufen, so öde und schrecklich ist es dort wirklich nicht! Und gar so kaputt und bescheuert wie im Buch sind die Leute in Wahrheit auch nicht. Oder doch ...? Es kommt einem erschreckend vieles bekannt vor. Das Körnchen Wahrheit in den Geschichten hat schon Felsbrockengröße.
Doch das Buch ist mehr als eine saukomische Ballermann-Satire. Die Personen in dem Roman machen sich Gedanken über das Leben, über Ziele, Pläne und Träume. Ihre eigenen, und die der anderen. Freundschaften, Liebes- und Geschäftsbeziehungen werden hinterfragt, in Frage gestellt, beendet oder begonnen. Und am Schluss ist nichts mehr wie es war.
Was aus den Personen (werden) wird, denen Nick und Nina auf ihrem Horrortrip begegnet sind, das erzählt uns der Autor im Epilog. Diese höchst vergnüglichen Ausblicke setzen den abgefahrenen Geschichten in dem Buch noch die Krone auf. Manch einem gönnt man sein Schicksal von Herzen. Bielefeld-Barbara, zum Beispiel. Und auch Emad, dem ägyptischen Hallodri.
Der PAUSCHALTOURIST bietet tierisch komische Unterhaltung mit Sinn und Verstand – und fernab jeder political correctness. Vielleicht sollte man das Buch im Urlaub lesen. Egal, was einem dort dann widerfährt: Es wird einem halb so schlimm vorkommen ...