Atemschaukel - Herta Müller

  • Hanser, 2009
    Gebundene Ausgabe: 304 Seiten


    Kurzbeschreibung:
    Rumänien 1945: Der Zweite Weltkrieg ist zu Ende. Die deutsche Bevölkerung lebt in Angst. "Es war 3 Uhr in der Nacht zum 15. Januar 1945, als die Patrouille mich holte. Die Kälte zog an, es waren -15° C." So beginnt ein junger Mann den Bericht über seine Deportation in ein Lager nach Russland. Anhand seines Lebens erzählt Herta Müller von dem Schicksal der deutschen Bevölkerung in Siebenbürgen. In Gesprächen mit dem Lyriker Oskar Pastior und anderen Überlebenden hat sie den Stoff gesammelt, den sie nun zu einem großen neuen Roman geformt hat. Ihr gelingt es, die Verfolgung Rumäniendeutscher unter Stalin in einer zutiefst individuellen Geschichte sichtbar zu machen.


    Über die Autorin:
    Herta Müller, 1953 in Nitzkydorf/Rumänien geboren, lebt seit 1987 als Schriftstellerin in Berlin. Für ihre Werke wurde sie mit zahlreichen deutschen und internationalen Preisen ausgezeichnet.


    Meine Meinung:
    Herta Müllers Roman über deutschstämmige Rumänen, die nach dem zweiten Weltkrieg in Arbeitslager in die Sowjetunion deportiert wurden, ist ein sprachlich funkelnder Diamant, hart und blitzend. Konsequent werden durch den jungen Ich-Erzähler aus Siebenbürgen sehr genaue Details beschrieben, die Auskunft über die schlimmen Lebenszustände im Lager geben. Unbarmherzige harte Arbeit und Schikanen, Kälte, großer Hunger. Hunger verdeutlicht durch das Bildnis eines Hungerengels, der den Protagonisten stets begleitet wie auch die übrigen Gefangenen.
    In vielen kurzen Kapiteln werden verschiedene Stationen des Lagerlebens behandelt. Oft ist es so genau beschrieben, dass das weiter lesen nicht einfach fällt. Ein Stoff, den der Leser erst einmal aushalten muss. Andererseits sind diese Informationen des Romans auch so verblüffend und der Erzählstil so suggestiv, dass man sich kaum von dem Buch für lange lösen kann.


    Wichtig ist zu wissen, dass Herta Müllers Mutter dieses Schicksal teilte, auch sie wurde für 5 Jahre in ein Arbeitslager deportiert. Doch sie hat nie darüber gesprochen. Das war ein Tabuthema in kommunistischem Rumänien. Gespräche führte Herta Müller dagegen mit Oskar Pastior, dem Lyriker aus Siebenbürgen, der ebenfalls die Deportation in die Sowjetunion durchmachte. Sein Leben stimmt wahrscheinlich ziemlich genau mit dem des homosexuellen Romanprotagonisten Leopold überein. Gemeinsam reisten Herta Müller und Oskar Pastior sogar an die Originalschauplätze in die Ukraine.
    Die meisten der genauen Details stammen von ihm und wurden von Herta Müller teilweise wortgenau übernommen.
    Wäre Oskar Pastior 2006 nicht überraschend gestorben, wäre er vermutlich als Koautor genannt worden. So musste Herta Müller ihren Roman alleine fertig stellen. Sie wandelte den Stoff in ein überzeugendes Romankonzept und fügte eine wortgewaltige, symbolische Sprache hinzu.


    Es würde mich nicht überraschen, wenn Herta Müller mit diesem Roman den Deutschen Buchpreis gewinnt, obwohl wohl nicht jedes Jurymitglied die Bewunderung für dieses Buch teilt.
    So oder so bleibt ein bedeutendes Stück Literatur über ein sicher nicht einfaches Thema.

  • Vielen Dank Herr Palomar für die ausführliche Rezi.
    Das Buch liegt auf meinem SuB ganz weit oben und kommt ziemlich bald an die Reihe. Auf jeden Fall bin ich schon sehr gespannt.

    Herzlichst, FrauWilli
    ___________________________________________________
    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Vielen Dank für die sehr ausführliche Rezension, Herr Palomar :-)


    Das Buch werde ich mir auf jeden Fall sehr bald zulegen und hoffe ebenfalls auf rege Diskussion.


    Ich bin auch sehr gespannt, wer in diesem Jahr den Deutschen Buchpreis erhält.
    Auf der shortlist steht "Atemschaukel" ja schon mal.


    :wave

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Ich habe gestern das Buch ausgelesen und kann mich in meiner Einschätzung eigentlich nur noch Herrn Palomars Rezension anschließen. "Atemschaukel" hat mich tief beeindruckt und sehr gut gefallen. Dabei steht für mich vor allem die poetische Sprache im Vordergrund, die in der Tat einen so starken Sog ausübt, dass man sich ihr kaum entziehen kann. Während des Buches gibt es immer wieder Sätze, die ich mehrmals lesen musste, weil sie mir so gut gefallen haben.


    Ich trage stilles Gepäck. Ich habe mich so tief und so lang ins Schweigen gepackt, ich kann mich in Worten nie auspacken. Ich packe mich nur anders ein, wenn ich rede.


    Daneben wird in "Atemschaukel" aber auch eine beeindruckende Geschichte erzählt - die Geschichte von Leopold, dem Lagerinsassen.


    Ein insgesamt sehr beeindruckendes Buch, dem ich viele Leser wünschen würde. Auch denke ich, dass Herta Müller mit diesem Werk auf jeden Fall den Deutschen Buchpreis verdient hätte.

  • Was für einen sprachgewaltigen Roman Herta Müller da zu Papier gebracht hat ist unbeschreiblich.
    Mich hat die Geschichte von Leo, dem Lagerinsassen, der mit 17 Jahren nach Russland deportiert wurde und nach 5 Jahren fremd wieder nach Hause kam, zutiefst beeindruckt.


    "Meine Heimkehr ist ein verkrüppeltes, ständig dankbares Glück, ein Überlebenskreisel, der sich wegen jedem Dreck zu drehen beginnt. Er hat mich in der Hand wie alle meine Schätze, die ich weder ausstehen noch loslassen kann."

    Herzlichst, FrauWilli
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    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Ich habe mich zwar nur durch die erste Hälfte des Romans gewühlt, hoffe aber, dass ich trotzdem meine Meinung äußern darf. Durch die zweite Hälfte treibt es mich nämlich nicht mehr. ;-)


    Ich bin nach wie vor der Meinung, dass Herta Müller im Umgang und in der Kreation mit Begriffen eine Meisterin ist. Es ist sicher auch ein ehrgeiziges, aber begrüßenswertes Projekt, dieses Thema, mit dem sich vielleicht noch nicht allzuviel Leser beschäftigt haben, anzupacken.


    Die poetische Sprache hat mich allerdings daran gehindert, mich wirklich von der Geschichte gefangen nehmen zu lassen. Ich habe Leo, der hier als Erzähler und Hauptperson fungiert, diese Sprache, die Wahrnehmung nicht abgenommen. Die Sprache hat für mich die Angst, Kälte, Lebensbedrohung regelrecht unter eine warme Decke gekehrt. Die Sprünge Leos zwischen Beschreibung des Lagerlebens und seiner Banater Vergangenheit waren teilweise für mich unmotiviert und haben die Atmosphäre, die hin und wieder mühsam aufgebaut wurde, zerstört. Diese persönlichen Eindrücke von mir sind nun nicht Herta Müller anzulasten, sondern beruhen sicher zum großen Teil auf meinen Leseerfahrungen, aber diese Verbindung von blumiger Sprache und Zeitsprüngen hat für mich das durchaus ehrgeizige Ansinnen dieses Romans kaputt gemacht.


    Ich hatte im Vorfeld Radischs Kritik gelesen und konnte mir nicht vorstellen, dass ich Ihren Vorwurf, der Roman wäre "parfümiert" und "kulissenhaft", teilen würde. Ich halte es auch prinzipiell für Unsinn, dass ein guter Schriftsteller alles selbst erleben muss, um überzeugend darüber schreiben zu können. Aber obwohl ich mit Radisch gerade im Bereich der schriftstellerischen Verarbeitung von Gulag-Erfahrungen (Schalamow vs. Solschenizyn) überhaupt nicht übereinstimme, verstehe ich ihre Kritik jetzt sehr gut, auch wenn ich das Problem nicht im "Secondhand-Betrieb" sehe.


    Dass Herta Müllers Roman dermaßen gefeiert wird als Anklage totalitärer Regime und schonungslose Beschreibung des sowjetischen Gulags verwundert mich angesichts der Arbeiten Schalamows und Solschenizyns, die meines Erachtens Beides wesentlich eindrücklicher geschafft haben und nebenbei noch den Kampf um Menschenwürde und Hoffnung besser vermitteln konnten (dies v. a. bei Solschenizyn).


    Edit: Mich hätte sehr interessiert, wie dieses Gemeinschaftsprojekt mit Oskar Pastior zu seinen Lebzeiten ausgegangen wäre. Schade, dass es dazu nicht mehr gekommen ist.

  • Eigentlich hatte ich dieses Buch schon länger auf dem Schirm, aber in den diversen Interviews, die ich in letzter Zeit gehört habe, ging mir die Frau derartig auf die Nerven, dass ich gar keine Lust mehr darauf habe.
    Wenn sich dieser Ningelton, mit dem sie spricht, auch durchs Buch zieht, und sei die Sprache auch noch so poetisch, dann geht das gar nicht. :wow

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Ich habe ja die gesamte Biographie von MRR als Hörbuch gelesen - weil ich ständig die Stimme im Kopf hatte. :grin Herta Müllers Stimme habe ich noch nicht oft gehört, daher blieb mir das erspart. Die Sprache ist schon etwas Besonderes, irgendetwas von ihr solltest Du Dir vielleicht doch zu Gemüte führen.

  • Das Buch habe ich mir ja vor kurzem zugelegt und es wird auch bald gelesen. :-)

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Naja, es ist eigentlich weniger die Stimme selbst, sondern dieser Tonfall, als würde sie jeden Augenblick losheulen oder als wolle sie einem Kleinkind erklären, dass sein Hamster gestorben ist :rolleyes

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Mir ist Herta Müller in keinem der Interviews, die ich in den letzten Wochen gesehen habe, negativ aufgefallen. Vielleicht habe ich aber auch mehr auf den Inhalt, als auf ihre Stimmfarbe geachtet. Ihr Buch ist wirklich empfehlenswert und mir persönlich hat ihr Zugang zu diesem wichtigen Thema gut gefallen, deshalb denke ich, dass das Buch auch möglichst viele Leser verdient hätte.

  • @ Buzz
    Mich würde ja irgendwie interessieren, was Du zu Schalamows und Solschenizyns Bearbeitungen der Themen Stalinismus und Arbeitslager sagen würdest... :-)


    Zur Stimme - manche Menschen (wie ich) reagieren darauf sensibel, andere nehmen das nicht wahr. Herta Müller hat eine eigene Sprachfärbung, allein schon durch ihren Dialekt/Akzent (Ich weiß nicht, welches Wort hier politisch und linguistisch korrekt ist.), der ja nicht so häufig zu hören ist. Ich achte dafür kaum auf Habitus, Kleidung, etc. - da tendiert mein Erinnerungsvermögen gegen Null.


    Edit: Ich habe noch ein paar Buchstaben eingefügt. :rolleyes

  • Zitat

    Original von Vulkan
    @ Buzz
    Mich würde ja irgendwie interessieren, was Du zu Schalamows und Solschenizyns Bearbeitungen der Themen Stalinismus und Arbeitslager sagen würdest... :-)


    Da ich beide (noch) nicht gelesen habe, kann ich wenig dazu sagen, Vulkan. ;-) Vielleicht bin ich auch sehr unbefangen und "anspruchslos" an den Roman und die Thematik gegangen, auch die Kritik von Raddisch war mir vorher nicht bekannt, aber mir hat die poetische Sprache und auch die Schilderung von Leos Leben einfach sehr gut gefallen.

  • Zitat

    Original von buzzaldrinDa ich beide (noch) nicht gelesen habe, kann ich wenig dazu sagen, Vulkan. ;-) Vielleicht bin ich auch sehr unbefangen und "anspruchslos" an den Roman und die Thematik gegangen, auch die Kritik von Raddisch war mir vorher nicht bekannt, aber mir hat die poetische Sprache und auch die Schilderung von Leos Leben einfach sehr gut gefallen.


    Das hatte ich so verstanden, ich wollte trotzdem mein Interesse an Deiner Meinung bekunden, sobald Du einen der beiden gelesen hast - in näherer oder fernerer Zukunft - gerade weil es so ein völlig anderer Ansatz ist. :-)