Schreibwettbewerb Oktober 2009 - Thema: "Rot"

  • Thema Oktober 2009:


    "Rot"


    Vom 01. bis 20. Oktober 2009 könnt Ihr uns Eure Beiträge für den Schreibwettbewerb Oktober 2009 zu o.g. Thema per Email an webmistress@buechereule.de zukommen lassen. Euer Beitrag wird von uns dann anonym eingestellt.


    Den Ablauf und die Regeln könnt Ihr hier noch einmal nachlesen.


    Bitte achtet darauf, nicht mehr als 500 Wörter zu verwenden. Jeder Beitrag mit mehr als 500 Wörtern wird nicht zum Wettbewerb zugelassen!

  • von Ramona



    „Schatz?“
    „Was ist?“
    „Was soll ich bloß anziehen?“
    Unruhige Schritte wanderten im Kleiderschrank hin und her. Hektisch wühlte seine Frau jetzt wahrscheinlich in ihrer nicht gerade kleinen und billigen Abendgarderobe.
    Er seufzte stumm in sich hinein: „Wie wäre es mit dem roten, rückenfreien Kleid? Das habe ich dir doch gerade erst gekauft.“
    „Nein! Rot steht mir gar nicht. Außerdem wirkt das doch viel zu aufdringlich. Da halten die mich doch bestenfalls gleich für eine… eine… eine die nur wegen der Männer auf der Party ist.“
    „Aber ich gehe doch mit dir hin. Da kann doch nichts schief gehen.“
    „Das verstehst du nicht. Das ist doch viel zu… na wie sagt man denn… hilf mir doch mal!“
    Leicht genervt setzte er sich auf.
    „Und wenn du etwas blaues nimmst?“
    „Blau? Wie kommst du auf blau?“, etwas entsetzt kam sie aus dem Kleiderschrank, „Also bitte sag mir, wie kommst du darauf? Gefällt dir jetzt blau besser als rot? Und warum ausgerechnet blau? Hättest du nicht auch grün sagen können?“
    Er wollte schon zu einer Antwort ansetzten, aber sie unterbrach ihn barsch: „Dann hätte ich nämlich sagen können, dass ich nichts blaues habe und hätte mir etwas schönes Rotes rausgesucht, aber nein…!“
    „Aber Schatz, sagtest du nicht eben, rot….“
    „Papperlapapp, rot ist eine schöne Farbe. Auffällig. Ja genau, auffällig und warm.“
    Triumphierend ging sie wieder in den Schrank. Kurz polterte es, dann war ein Rascheln zu hören und kurze Zeit später stand sie strahlend vor ihm.
    „Sehe ich nicht toll aus? War doch eine geniale Idee von mir mit dem roten Kleid, nicht wahr?“

  • von ueberbuecher



    Der Anfang von Irgendetwas, unnennbar eigentlich, unaufdringlich, dennoch manifestiert. Langsam, sich vorschiebend, die Umgebung umwälzend, ein kontinuierlicher Prozess…


    Hier herrscht kein Licht. Stete Bewegung ist allüberall. Nichts ist zu sehen, denn es sind keine Augen da, die diese Funktion übernehmen könnten. Aber dafür besteht auch keinerlei Notwendigkeit. Es ist der ewig alte Kreislauf, die älteste Form von Bewegung seit Menschengedenken. Niemand befindet sich hier und doch so viele, potenzielle. Hier sind Legionen, befindlich im Gleichschritt. So funktionierten Armeen, so sie denn könnten. Ein einmaliger Lernprozess eingeimpft ins innere Selbst und nie vergessen.
    Nie mehr vergessen…


    Stille ist nicht hier. Ein Rauschen stattdessen, die immerewige Begleitung der Legionen, Fluss in Klang gegossen oder (besser): das Fliessen. Ein Konglomerat von Augenblicken, Wünschen, Sehnsüchten, allem Bedeutenden. Und immer wieder das Kontinuum der Fortbewegung. Pulsierendes Sein, anarchische Komplexität, Milliarden von Widersprüchen im großen Ganzen. Es atmet, es pocht. Lebt.


    Poch. Der Taktgeber, unermüdlich, verantwortlich gemacht in seiner naturgemäßen Verantwortungslosigkeit.


    Dann auf einmal: der ewige Kreislauf, unterbrochen. Die Legionen verlieren ihre immergleiche Struktur.


    Der Ausbruch erfolgt.



    Die Haustür steht offen. Der Notruf ist vor circa neun Minuten eingegangen und niemand wird sich später über die schnelle Reaktionszeit beschweren. Als er die Szenerie betritt, ist er fast versucht, seine Tasche abzustellen und einfach im Türrahmen stehenzubleiben, denn hier ist jeder Rettungsversuch sinnlos.
    Dennoch hastet er weiter, die ganze Sauerei im Blick, den durchweichten und völlig ruinierten Teppich, die unfreiwillig neukolorierten Wände. Dann ist er bei ihm, doch schon während er verzweifelt versucht, die rasenden Wunden zu bändigen, kann er allein mit Blicken nur noch den Tod des Junkies feststellen, der sich hier im Drogenrausch die Arme bis fast zum Anschlag durchschnitten hat.
    Er hält in seiner Arbeit inne. Demütig huldigt er dieser immensen Kraft. Die Ruhe, die er empfangen darf, hat etwas Majestätisches an sich.


    Dieses tosende Sprudeln…


    Die Quelle ist versiegt.

  • von churchill



    Er setzt sein bekanntes überheblich-arrogantes Grinsen auf. Sollen sie doch rätseln. Immer, wenn sie ihn am Boden wähnten, konnte er sie überraschen. So auch diesmal. Sie verstehen nicht. Sie werden nie verstehen.


    Eigentlich interessiert sich niemand für dieses kleine Eck zwischen Lothringen, Luxemburg und Deutschland. Honecker war hier geboren. Und eben er. Der Charismatiker. Der Geniale.
    Der das kleine Eck in den Griff bekam und behielt. Und nicht nur dieses kleine Eck.


    Als die vermeintlich Verrückte mit dem Messer zustach, wurde aus dem Regional- ein Universalgenie. Am Boden liegend überwand er seine Begrenztheit, mit dem Blut floss jeglicher Skrupel aus ihm. Er wurde neu geboren, geboren mit dem Auftrag, Deutschland zu erlösen. Von jener Partei, an der sich zuvor einige die Zähne ausgebissen hatten. Auftragsgemäß verlor er die Wahl 1990. Durch den Einsatz einer brutalen Waffe: Gnadenlose Ehrlichkeit im Kampf gegen blühende Landschaftsträume. Das wäre anderen nicht eingefallen.


    Dann folgte ein Coup dem anderen. Erst die Ablösung des Temperamentbündels in der Rolle des Vorsitzenden. Dann die Installation des niedersächsischen Aufsteigers als Kanzler. Wie er jenen zur großen Reform überredete, weiß bis heute niemand. Aber das Großmaul fiel darauf herein und räumte den Sozialstaat in einer Art und Weise ab, wie er es selbst nicht besser hätte machen können. Er ging. Aber seine Mission war noch lange nicht zu Ende.


    Dem Brandenburger etwas ins Essen zu mischen, damit dessen Talent in der Provinz blieb, war die leichteste Übung. Seine Vertraute als Hexe gegen den Sauerländer einzusetzen nur unwesentlich schwieriger. Besonders originell die In- und Exstallierung des dicken bärtigen Pfälzers, anschließend die Krönung eines Leitzordners zum Kanzlerkandidaten.


    Das alles wohlgemerkt nicht aus dem Inneren der alt-merkwürdigen Organisation, sondern aus der Führungsetage einer anderen, etwas dunkleren Ebene, von der aus er als Westbeauftragter missionieren durfte. Selbstverständlich mit überwältigendem Erfolg. Vor allem in jenem kleinen Eck, das von jeher und überall allzu gerne unterschätzt wird, weil es gerade mal die Größe eines Landkreises oder mittleren Regierungsbezirks aufweist.


    Hier geschah es nun vor einigen Wochen, dass die Herausforderungen an das Genie im Rahmen seines Vernichtungsfeldzugs durchaus einmal etwas anspruchsvoller zu werden schienen. Er legte als Westfront der Ostorganisation einen fulminanten Erfolg hin, der es immerhin ermöglichte, dass sein ehemaliger Staatssekretär zum neuen Landesbruder (für einen Vater ist jener etwas mickrig) hätte mutieren können. Wenn – ja wenn die kleine grün angestrichene Randgruppe sich zu einer Zusammenarbeit entschlossen hätte. Zur Zusammenarbeit mit den Blassen und den Dunklen. Zur Zusammenarbeit mit IHM.


    Dies sollte der schwierigste Schritt seiner Mission werden. Unnötig zu betonen, dass er ihn glänzend löste. Als es noch einmal knapp zu werden schien, trieb er den Führer der Dreimann/fraufraktion endgültig in jamaikanische Gefilde. Mit einer minimalen Drohgebärde: „Ich bleibe bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt“. Und sie liefen schreiend davon, schwarze und gelbe Brüder frohlockten und der Fastschonlandesbruder konnte es nicht fassen.


    Er grinst immer noch. Und er wird weiter grinsen. Zumindest bis zur endgültigen Erfüllung seines Auftrags. Sie werden sich schwarz ärgern. Aber niemals werden sie ihn verstehen …

  • von BunteWelt



    Ich wartete auf die Praktikantin von unserem Autohaus Meier. Es war ein trister Tag, es regnete und die Sonne kam durch die dicken schwarzen Wolken den ganzen Tag nicht zum Vorschein.
    Komisch, dass eine relativ junge Frau in einem Autohaus ein Praktikum machen wollte, deswegen wartete ich gespannt auf sie, ihr Aussehen interessierte mich wirklich sehr.
    Da sah ich eine Frau auf mich zu stolzieren.
    Ja, wirklich - stolzieren.
    Ihre Füße steckten in roten High-Heels, einer Netzstrumpfhose und einem sehr kurzen Minirock. Obenrum hatte sie einen Mantel an, auf ihrem Kopf ein kleines Häubchen mit einer Feder daran.
    Und alles war rot.
    Von oben bis unten - sogar ihre Haare.
    Auch geschminkt war sie mit rotem Lippenstift, Lidschatten und das Verwunderlichste war die rote Wimperntusche.
    Ehrlich gesagt hatte ich mir die Praktikantin für unser Autohaus anders vorgestellt. Doch es war nicht mein Problem - es war das Problem von ihr und von meinem Chef. Ich sollte sie nur abholen, herumführen - aus.
    Nun kam sie auf mich zu, sie streckte mir die Hand entgegen und sagte mit klarer Stimme:
    ,,Erna Müller, ich freue mich Ihre Bekanntschaft zu machen!”
    Ich schüttelte ihre Hand, stellte mich vor und ging mit ihr in unser Autohaus.
    ,,Warum wollen Sie denn diesen Job machen, Frau Müller?”, fragte ich.
    ,,Weil ich Autos mag und gut verkaufen kann. Außerdem kommen flippige Leute sehr gut bei Kunden an, denn sie haben etwas Angst vor ihnen und das ist gut, wissen Sie?”
    Sie redete sehr schnell und kicherte oft.
    ,,Ich ... Ich liebe die Farbe Rot, wie sie bestimmt schon bemerkt haben. Deswegen bekomme ich wenig Jobs. Doch ich werde weitersuchen, bis mich jemand mit Haut und Haar akzeptiert, meine Persönlichkeit mag!”
    Klares Ziel.
    Doch meine Meinung war nicht gefragt, ich musste sie jetzt zum Chef bringen.
    ,,Auf Wiedersehen, Frau Müller. Und ... Viel Glück!”



    Heinz Norder legte den Kopf auf seinen Schreibtisch. Er hatte die Bewerberin für das Praktikum eine Weile nach draußen geschickt, zum Überlegen.
    Doch eigentlich musste er nicht überlegen.
    Denn er konnte keine solche Frau in sein Geschäft lassen, sie war viel zu verrückt, viel zu crazy.
    Aber sie tat ihm leid, denn sie hatte einen starken Willen.
    ,,Es ist schlimm. Heutzutage kann man als Kaufmann nur noch auf Äußeres achten ...”, sagte er zu sich.
    Die Frau war rot, von Kopf bis Fuß, und er sah auch, leider, für ihre Zukunft rot.

  • von Quetzalcoatlus



    Es begab sich zu einer Zeit, als in den großen finsteren Wäldern noch allerlei biestige Kreaturen hausten. Dies lag hauptsächlich daran, dass es überhaupt noch große finstere Wälder gab. Und biestige Kreaturen. Jene hausten in den besagten Wäldern. Aber das hatten wir ja schon.


    Es begab sich also, dass ein junges Mädchen mit einer roten Kappe und einem Korb voller Lebensmittel durch den Wald spazierte.
    Dem Wolf, der das Mädchen aus der dichten Vegetation heraus beobachtete, kam solch grundlose Unbeschwertheit ja schon ein wenig seltsam vor. Aber er war sehr hungrig, denn er war zurzeit völlig allein und konnte nicht mit seinem Rudel jagen gehen.
    Und da es aus dem Korb so verführerisch duftete, sprang der Wolf auf den Weg, um einen Bissen zu ergattern.
    „Oh nein!“, kreischte das Mädchen entsetzt. „Ein gar furchtbar dreinblickender Wolf bedroht mich! Nun werde ich meiner Großmutter nicht die restlichen Zutaten für ihre köstlichen Fleischpasteten bringen können. Und dabei hätte ich doch nur noch einen Kilometer geradeaus gehen müssen bis zur Ankunft an ihrem Haus. Welch ein Unglück!“
    Jammernd warf sie den Korb von sich und eilte in die Richtung davon, aus der sie gekommen war.
    Der Wolf fand dieses Verhalten einigermaßen befremdlich, leistete sich jedoch nicht den Luxus, lange darüber nachzudenken. Stattdessen fiel er über den Korb her und verschlang das Hackfleisch, welches darin lag.
    Satt war er anschließend noch immer nicht, und so machte er sich zu dem erwähnten Haus der Großmutter auf den Weg. Zwar hatte er noch nie von einer in diesem Wald wohnenden Großmutter gehört und in dieser Gegend auch noch nie Fleischpasteten gerochen, doch als hungriger Wolf ist man bisweilen bereit, über solche Kleinigkeiten hinwegzusehen.
    Und tatsächlich – nach kurzer Strecke erblickte er ein Häuschen. Das Gartentor stand offen, was dem Wolf ein wenig verdächtig vorkam. Aber ging hindurch, denn schließlich hatte er noch Hunger. Die Haustür stand ebenfalls offen, was dem Wolf noch ein wenig verdächtiger vorkam. Aber ging hindurch, denn schließlich hatte er immer noch Hunger.
    Eine Großmutter konnte er im Haus nicht entdecken. Stattdessen erblickte er über der Kellertreppe ein großes Schild mit der Aufschrift „Köstliche Fleischpasteten!“ und einem Pfeil in die Tiefe. Das kam dem Wolf nun wirklich und endgültig auf saumäßige Weise verdächtig vor.
    Er machte auf dem Absatz kehrt und verließ das Haus. Doch als er vor die Tür trat, sah sich der arme Wolf zahlreichen Gewehrläufen gegenüber. Für einen Moment glaubte er, dahinter in weiter Ferne ein kleines Mädchen erkennen zu können, das ihm eine lange Nase drehte.
    Dann vernahm er ein vielstimmiges Klicken. „Ach du Scheiße!“, war alles, was der Wolf noch dachte, bevor das Schrot aus allen Himmelsrichtungen auf ihn niederprasselte.


    Und wenn er nicht gestorben ist, dann lebt er wohl noch heute. Dies scheint allerdings angesichts der Tatsache, dass er keinen kugelsicheren Pelz trug, eine relativ unwahrscheinliche Möglichkeit zu sein. Also hängt er wahrscheinlich im Jagdhaus an der Wand. Neben dem Rest des Rudels.

  • von arter



    Sie setzt den Lippenstift an und verwandelt ihren Mund mit einer schwungvollen Bewegung in ein sinnliches Abenteuer. Dann betrachtet sie das Ergebnis im Spiegel, presst die Lippen einige Male fest aufeinander und stellt zufrieden fest, dass es heute Abend keinen Kerl geben würde, der ihr nicht sabbernd aus der Hand fressen würde.


    Die Stunde ist bereits vorgerückt, als sie in den Saal rauscht. Unvermittelt haften sich begierige Blicke an ihre Erscheinung. Gespräche verstummen mitten im Satz. Man hört das Klirren eines Glases, das auf dem Parkettboden zerschellt.


    Ist sie es wirklich? Jenny, die graue Maus aus der Verwaltung? In der Tat. Das Mauerblümchen ist aufgeblüht zu einer stolz emporwachsenden, betörend duftenden, flammend leuchtenden Rose.


    Wer wollte nicht ihre prickelnde Nähe erleben. Nie war es so einfach Freunde zu finden. Sie wird umgarnt, sie wird umworben, sie wird begehrt. Doch sie hat nur das eine Ziel im Auge. Ein unverbindliches Lächeln hier, ein wenig Konversation dort. „Danke für das Kompliment, und einen schönen Abend noch“, erstickt sie jeden Versuch im Keim, den Schutzschild der Unnahbarkeit zu durchdringen.


    „Hallo Jennifer“. Es ist diese Stimme mit dem süffisanten Unterton, die sie so verabscheut, die sie aber gleichwohl herbeigesehnt hat. Der Fisch hat den Köder genommen. Eine Weile ist er abseits geschwommen, die Gefahr wohl ahnend. Doch nun zappelt er im Netz. „Du siehst umwerfend aus. Einfach atemberaubend“. Klar du Blödmann, denkt sie, darum geht es heute: Dich umwerfen, dir den Atem rauben.


    „Das hast Du lieb gesagt Marc“. Sie schenkt ihm einen dezenten Augenaufschlag, den Anflug eines sinnlichen Lächelns, bevor ihre Mine wieder in einer Maske der Unverbindlichkeit erstarrt. Sie weiß, dass er alles daran setzen wird, diesen Augenblick der Verheißung wieder neu zu erleben.


    Sie tut ihm diesen Gefallen in wohl dosierten Portionen. Aber es muss behutsam angegangen werden. Sie darf sich ihm nicht an den Hals werfen. Das würde er ihr nicht abnehmen. Nach allem was er ihr angetan hatte. Immer eine Dosis Skepsis durchblicken lassen. Er musste der Illusion erliegen, sie würde sich allein von seinem unwiderstehlichen Charme verführen lassen.


    Nach einigen Gläsern Champagner und einigen weiteren Tänzen lässt sie sich von ihm in den 12.Stock entführen. Dort oben im Tresorraum sei die Gründungsurkunde der Firma verwahrt. Das Dokument aus dem 18. Jahrhundert wäre der Stolz des Unternehmens, ob er es ihr mal zeigen dürfe? Na klar. Es wird leichter als geplant. Während der Lift emporschießt weiß sie, dass der Augenblick der Revanche gekommen ist.


    -


    „Ich will noch ein Mammaladenbrot“. Der fünfjährige Lucas bettelt sie mit großen Augen an. Sie taucht den Löffel in die Erdbeerkonfitüre und verteilt sie auf der Brotscheibe. Sie verteilt und verteilt und starrt mit gläsernem Blick auf den Brotaufstrich. Sie genießt das Gefühl wie der Löffel auf dem glitschigen Film hin und her gleitet.


    „Mama!“, schreit ihr Sohn. Sie nimmt das Küchenmesser und zerteilt das Brot mit einem sorgfältig und langsam ausgeführten Schnitt. „Bitteschön mein Liebling“, sagt sie und reicht dem Jungen eine Hälfte, während sie genussvoll von der anderen abbeißt

  • von Luc



    Rita schlug ihre Gegnerin nieder. Der Ringarzt tackerte der Kolumbianerin die Augenbraue zu. Das Publikum tobte. Geifernde Männer stiegen auf gepolsterte Sitze, um ihr Beifall zu zollen. Männer, deren Vorlieben sie sich nicht sicher sein konnte. Rita half ihrer am Boden liegenden Konkurrentin auf. Die johlenden Typen, die angeschlagene Frau. Hitze schoss Rita ins Gesicht, weil die Situation sie an ihre Vergangenheit erinnerte. Niemand sollte sie jemals wieder Krankenhausreif prügeln, vergewaltigen, niemals. Lieber sterben. Stolz reckte sie den Arm hoch in Kölnarena, schrie siegestrunken die Ängste fort, verzog hasserfüllt das Gesicht und entdeckte ein verloren wirkendes Mädchen im Publikum. Die Kleine starrte den Blutfleck vor Ritas Füssen an. Das Rot, der Blick. Urplötzlich spürte Rita, dass sie verloren hatte. Die rohe Gewalt ihrer Schänder war auf Rita übergegangen und verursachte noch mehr Gewalt und Leid. Behutsam legte sie den Arm um ihre Konkurrentin.


    „Das war unsere dritte Titelverteidigung“, sagte ihr Manager in der Kabine. Aus unerfindlichen Gründen brachte er seine unvergleichlich schmierige Persönlichkeit mit ihrem Weltmeistertitel in Zusammenhang. Nun ja. Halb Deutschland feierte „ihre“ Weltmeisterin.
    „Wir gehen in die Staaten, die dicken Börsen einstreichen“, flüsterte er ihr zu. Die Augen des Dicken wurden größer und größer. Wie bei dem Alten kurz vor dem Orgasmus. Was hatte sie verbrochen dauernd an diese degenerierten Kreaturen zu geraten? Sie war sogar selbst zu einem Zombie geworden, der Haben über das Sein stellte.
    „Ich höre auf“, antwortete sie.
    „Bitte?“
    „Das war mein letzter Fight. Vielleicht war es aber auch mein erster“, sagte Rita.
    „Bist du vollkommen übergeschnappt? Hast du zu viele Schläge auf den Kopf bekommen? Ich lasse den Doktor kommen!“, meinte der Manager.


    Rita fuhr in ihr Viertel. Ohne an der Siegesfeier teilzunehmen. Ohne Interviews zu geben. Ohne den nervenden Kram. Allein mit dem Geheimnis. Sie schlief aus, zählte am nächsten Morgen ihre Blessuren und fuhr mit Sonnenbrille und brennenden Rippenbögen zum Behindertenheim.
    „Sie?“, fragte die Frau am Empfang. Ihr Erstaunen machte Rita ein schlechtes Gewissen. Sie zeigte sich selten, zugegeben. Genau genommen beschränkte sich der Kontakt zu Sarah auf vier obligatorischen Besuche im Jahr. Aber musste die Tante so arrogant gucken?
    „Natürlich können sie ihre Tochter sehen“, sagte die Empfangsfrau. Tochter, jedes Mal, wenn sie dieses Wort hörte, lief ihr ein Eisschauer über den Rücken. Gepaart mit einem unendlichem Ekel, der zu noch mehr Training im Gym geführt hatte. Warum war sie gekommen? Sarah würde sie im besten Fall für eine Pflegekraft halten, die ihr Reisschleim in den Mund löffelte. Ihre Tochter, die Vollidiotin. Neulich hatte sie ihren Manager das Wort zu einer seiner Nutten sagen hören. Vollidiotin, Mongo, behindertes Gör, ein hoffnungsloser Fall. Rita trat einen schritt zurück. Keine Seile. Nur ihr Rückgrat. Ihre Fingerknöchel knackten. Fest entschlossen überwand sie ihren Gegner, den Stolz, und ging vorwärts.
    „Ich nehme mein Kind bald mit nach Hause“, sagte sie zu der konsternierten Empfangstussi. Sie erstaunte selbst, was sie sagte. Doch irgendwie würde sie das schaffen. Ihre Tochter brauchte Sie und Rita brauchte Sarah. Egal, dass Sarahs Vater gleichzeitig Ihr Großvater war.