Roberto Bolano - 2666

  • Zitat

    Original von Thordis
    Hui... Ich muß gestehen, im Moment quält das Buch mich etwas. Ich bin jetzt auf Seite 610 oder so und mitten im 4. Teil. Mir geht's wie Buzz... Die kühle Aufzählung eines Mordes nach dem anderen, nur unterbrochen von Szenen aus einem mexikanischen Gefängnis, die auch nicht unbedingt angenehm sind, machen mir grade ein bißchen zu schaffen.


    Das kann ich nachvollziehen, aber ich will dir doch Mut machen, durchzuhalten - der fünfte Teil entschädigt zwar nicht für alles, ist aber wirklich sehr interessant und lesenswert. :wave

  • Bin ebenfalls in der Mitte des vierten Teils, habe allerdings den abschließenden fünften Teil über Archimboldi schon vorher gelesen (die Neugier!), was zumindest für mich den vierten Teil etwas entschärft.


    Ich finde diesen bislang nicht so herausragend düster und verstörend, wie ich es erwartet hatte, was wohl daran liegt, daß ich nicht erwartet hatte, daß das ganze Buch von der ersten bis zur letzten Seite so düster und beklemmend sein würde, ja sogar der Teil über die Literaturwissenschaftler ist alles andere als angenehm, und danach gehts nur noch abwärts.


    Thordis : Durchhalten lohnt sich allemal, der 5. Teil war mir der liebste, weil ich vielleicht noch nie soviel Seltsames und Verrücktes und Trauriges auf so wenige Seiten komprimiert fand.

    Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.
    - Wittgenstein -

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  • Traurig und gleichermaßen begeistert habe ich in den vergangenen Tagen die Lektüre beendet. Traurig, weil ein großes Leseabenteuer unwiderbringlich hinter mir liegt, und ich gerne noch tausend weitere Seiten in Bolanos düsterer, wahnwitziger Welt verbracht hätte. Begeistert, weil 2666 für mich zu den Romanen gehört, die völlig neuartig erscheinen und einem im zunehmenden Verlauf das Gefühl vermitteln, im Grunde nichts zu wissen.


    An und für sich ist 2666 ziemlich sperrig, nur wenige gröbere Handlungsstränge können ausgemacht werden, oft wechseln alle paar Seiten die Schauplätze und Personen, viele Fragen werden aufgeworfen, beantwortet die Wenigsten, kurz vor der Auflösung lässt Bolano alles fallen und wendet sich Neuem zu. Trotz einer scheinbaren Willkür und nüchterner Prosa reißt die Handlung mit, gerade die vielen Sprünge, und die oft absurden Exkurse packen, weil jederzeit alles passieren kann. Folgt man beispielsweise noch eben einen jungen Wehrmachtssoldaten, der sich in einem Haus verschanzt und ein rätselhaftes Buch findet, erfährt man plötzlich von einem russischen Science-Fiction-Schriftsteller, der später mit verworrenen Nonsens-Romanen Erfolg haben wird, welche einem Bolano ebenfalls auszugsweise präsentiert.


    Wenn ich 2666 auf ein Wort festlegen müsste, dann wäre es "Wahnsinn". Aber auch das Grauen oder die Einsamkeit bieten sich an. Alles Begriffe, mit denen man erst einmal nichts Positives assoziiert, und das hat seinen guten Grund, denn Bolano gönnt einem kaum erhellende Momente, Momente wirklichen Glücks oder spontaner Freude. In nüchterner Prosa stellt er die Sinnlosigkeit der Welt und die Monotonie des Lebens zur Schau. Ein Ausweg aus der tristen Welt ist für viele Charaktere nur durch Gewalt oder Sex möglich, wobei selbst Sex bei Bolano kaum mit Sinnlichkeit einhergeht.


    Im Zentrum all dessen steht Santa Teresa, Ort unzähliger Morde an Frauen, welche in ebenso nüchternem Stil, akkurat und ohne Sentimentalität aufgezählt werden. In einem ohnehin schon düsteren Werk ragt das Kapitel um die Verbrechen in Santa Teresa noch einmal heraus. Scheinbar kühl und emotionslos beschreibt Bolano den Zustand der Leichen, Fundorte und streut einige wenige Hintergrundinfos ein. Nur wenige Frauen werden später identifiziert, ebenso wenige vermisst. In völliger Einsamkeit in der Wüste umgebracht enden viele in einem Sammelgrab, ohne daß ihr Verschwinden jemand bemerkt. Bolano schafft es in diesem Kapitel immer noch neue Abgründe auszumachen, wenn er beispielsweise die verschiedenen Formen einer Vergewaltigung aufzählt, oder schildert, wie etliche der ermittelnden Polizisten sich zum Frühstück versammelt haben und sich währenddessen bitterböse Frauenwitze erzählen.


    Nicht nur, daß Bolanos Stil die vielleicht einzige Möglichkeit darstellt, die zahlreichen Morde überzeugend zu schildern ohne sich selbst in all dem Grauen zu verlieren; so trafen mich manche Szenen oder schlichte Sätze mit einer viel größeren Wucht, als es jede ausschweifende Erzählweise zugelassen hätte. An einer Stelle z.B: wird ein Mord geschildert, bei dem das Opfer sich noch schwerverletzt in ein Krankenhaus schleppen kann, ehe es stirbt. Der Teil endet folgendermaßen:


    "Eine der Schwestern, die versuchten, ihre Blutungen zu stoppen, fragte, ob der Mann sie entführt habe. Sabrina Gomez sagte, sie bedaure, ihre Geschwister nie wiederzusehen."


    Erwähnenswert ist noch Bolanos Humor, der sich perfekt in den Ton des Romans einreiht, und bestimmt nicht jedermanns Geschmack ist, mich aber, es sei mir verziehen, nicht selten zum Lachen gebracht hat. Wie könnte man z.B. die Unfähigkeit der Polizei, der es nicht gelingt die Täter zu fassen oder bei der wichtige Beweisstücke auf die haarsträubendste Art und Weise verloren gehen, besser in Worte fassen, als an dieser Stelle?


    "Anfang November fanden Schüler einer Privatschule aus Santa Teresa während eines Ausflugs an der steilsten Flanke des Cerro La Asuncion, auch bekannt als Cerro Davila, die Überreste einer Frau. Über das Handy des Lehrers, der die Gruppe beaufsichtigte, wurde die Polizei verständigt, die fünf Stunden später, kurz bevor es dunkel wurde, auf dem Parkplatz eintraf. Beim Aufstieg am Berg rutschte Komissar Elmer Donoso aus und brach sich beide Beine. Mit Hilfe der Ausflügler, die vor Ort ausgeharrt hatten, gelang es, den Komissar in ein Krankenhaus zu schaffen."


    Ob 2666 dem Hype gerecht wird, muss jeder selbst entscheiden. Meine Erwartungen wurden nicht nur übertroffen, sondern geradezu zermalmt. Uneingeschränkt weiterempfehlen würde ich es jedoch nicht, zu sehr trotzt Bolano den Konventionen, zuviel lässt er offen, zu wenig Aufklärung schafft er, und am Ende ist man so schlau wie anfangs. Die Lektüre ist wie der Abstieg in einen dunklen Keller, der immer weitere Treppen in noch tiefer gelegene Abgründe offenbart.


    "Ein äußerst rätselhaftes Vermächtnis, finden sie nicht?" heißt es zum Schluss hin. Das ist das Mindeste, was man von 2666 behaupten kann.

    Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen; und wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen.
    - Wittgenstein -

  • Zitat

    Original von buzzaldrin
    Es gab einige Sätze, die ich mir herausgeschrieben habe, weil sie mich sehr beeindruckt und berührt haben.


    Hoffentlich hast du dir nicht den Satz von Seite 30-36 aufgeschrieben. Denn der Satz geht wirklich über 7 Seiten, wenn ich mich nicht verguckt habe. :wow


    Ansonsten lese ich das Buch zur Zeit sehr gerne, bin allerdings auch erst auf Seite 160.

  • Zitat

    Original von Homunculus


    Hoffentlich hast du dir nicht den Satz von Seite 30-36 aufgeschrieben. Denn der Satz geht wirklich über 7 Seiten, wenn ich mich nicht verguckt habe. :wow


    Ansonsten lese ich das Buch zur Zeit sehr gerne, bin allerdings auch erst auf Seite 160.


    :lache Nee, den habe ich mir nicht abgeschrieben.


    Ich habe mir nur die chauvinistischen Witze über Frauen kopiert, weil die mich so amüsiert haben - die kommen glaube ich aber erst später im Buch.

  • Zitat

    Original von Thordis
    Ich bin immer noch nicht fertig... Obwohl ich jetzt im 5. Teil bin, ist irgendwie die Luft raus.
    Aber bald hab ich's!


    Durchhalten! Es lohnt sich! :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Ich-bin-fertig!


    Ich habe tatsächlich über einen Monat für das Buch gebraucht.


    Mein Fazit ist durchwachsen: Ich fang mal mit dem positiven an. Der 5. Teil hat mir sehr gut gefallen. Gut, daß ich durchgehalten habe und mich nicht vom 4. Teil habe abschrecken lassen. Den 4. Teil fand ich insgesamt zu lang und hier ärgere ich mich eigentlich am meisten über die viel zitierten "losen Fäden". Ich hätte es z.B. schön gefunden, wenn Lalo Cura irgendetwas zu bedeuten gehabt hätte, irgendetwas gelöst hätte, irgendeine tiefere Rolle gespielt hätte. Aber nein... Dann doch nicht. Daß man nicht erfährt, wer die wirklichen Bösen sind, hat mich jetzt nicht überrascht, damit hatte ich auch gar nicht gerechnet.


    Den 1. Teil habe ich als ziemlich konventionelle Dreiecksgeschichte erlebt, ich empfand ihn als seltsam detailliert an einigen Stellen und seltsam wischiwaschi an anderen - vermeintlich interessanteren Stellen -, der 2. und der 3. Teil haben mir "okay" gefallen.


    Ich finde "2666" ist ein gutes Buch. Vielleicht verstehe ich es nicht gut genug, um darin den großen Wurf zu sehen. Vielleicht ist es aber auch einfach Geschmackssache, wie bei vielen anderen Dingen.

  • Thordis


    Es ist ein Buch das durchaus polarisiert. Die Bewertungen bewegen sich zwischen "sensationell, genial" bis hin zu "totale Sch.....".


    Als sehr positiv empfinde ich, dass es endlich mal wieder ein Buch geschafft hat, so völlig verschiedene Ansichten hervorzurufen. Und ich denke, dass dieses Buch auch weiterhin im Gespräch bleiben wird. :wave

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Literarische Weltreise: Mexico


    uff, das war jetzt mal wieder richtig harte Arbeit, durch den letzten Teil musste ich mich streckenweise richtig zwingen, aber ich scheine mit meinen etwas zwiespältigen Gefühlen ja nicht alleine dazustehen.


    Die Sprache ist gewaltig, keine Frage, und auch wenn mich manche Schachtelsätze fast an den Rande des Wahnsinns getrieben haben, sind doch viele andere Stellen von einer beeindruckenden, minimalistischen Konsequenz. Überhaupt ist an vielen Stellen der Sprachwitz, der das düstere Thema nicht nur erträglich macht, sondern einem bei der Leküre eines Buches, in dem so gar nichts Lustiges passiert, immer mal wieder ein Schmunzeln aufs Gesicht zwingt.


    Mutig auch, wie Bolano der Erwartungshaltung der Leser die kalte Schulter zeigt, in dem er sämtliche herkömmliche Vorgaben an Spannungsbogen und Auflösung ignoriert. Er erzählt keine Geschichte, sondern beschreibt ein Phänomen, eben die Frauenmorde in Santa Theresa und die Geschichte einiger sehr unterschiedlichen Menschen, die in einem eher losen Zusammenhang mit diesen Morden stehen.
    Dabei wurde mir bewusst, wie eingefahren meine Erwartungen bezüglich eines guten Buches doch eigentlich sind. Protagonisten, die im Laufe einer Handlung einfach mal so verschütt gehen, gehen eigentlich gar nicht, hier sind sie Programm. Hier werden Dinge beschrieben, einfach, weil sie da sind und nicht etwa, weil sie für die Geschichte irgendeine Bedeutung haben. Und über Seiten erstrecken sich Dialoge, bei denen ich mich doch das eine oder andere mal fragte, was mir der Autor damit sagen will.


    Darf Literatur derartig anstrengend sein? Eigentlich seltsam, für eine Gesellschaft, in der "sich mal ein bisschen anzustrengen" das Mindeste ist, was man von einem Menschen erwarten kann, ist anstrengende Literatur nicht gerne gesehen, wenn man von den paar ungeliebten und für die meisten Menschen vollkommen überflüssigen Literaturkritiker mal absieht.


    Im Großen und Ganzen jedenfalls hat diese Anstrengung Spaß gemacht, auch wenn dies in diesen wenigen Worten, die einer Schwarte von 1100 Seiten natürlich in keinster Weise angemessen sind, vielleicht nicht so ganz deutlich wird :anbet

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Man liest und liest, schreckt auf und denkt: Das hätte er aber kürzer machen können und schon ärgert man sich über Redundanzen! Doch im nächsten Moment wird man ergriffen, weil die Episoden eine tiefere Ebene unserer Seele berühren, ohne zu wissen, warum. Sofort denkt man an Kafka.

    Felicitas von Lovenberg schrieb in der FAZ: „Für ‚2666‘ muss man eine neue Bezeichnung in die Literaturgeschichte einführen: bolañoesk.“ Für mich ist es ein holistisches Meisterwerk: Der Autor hat schlicht kapiert, dass alles mit allem verbunden ist und dieser Zusammenhang die Welt in einem anderen Licht erscheinen lässt.

    Niemand kommt auf die Idee, so unterschiedliche Aspekte wie Nazideutschland, Holocaust, Weltkriege, Serienmorde in Mexiko, europäische Literaturwissenschaft, deutsche Verlagsgeschichte und ein deutsches Autorenschicksal miteinander zu verbinden. Doch Bolaño hat es gewagt und am Ende passt alles zusammen.


    Der Autor starb vor Vollendung des Manuskripts. Sein Vermächtnis gehört zweifellos in den Kanon der Weltliteratur.