Roberto Bolano - 2666

  • Titel: 2666
    Autor: Roberto Bolano
    Übersetzt aus dem Spanischen von: Christian Hansen
    Verlag: Carl Hanser Verlag
    Erschienen: September 2009
    Seitenzahl: 1093
    ISBN-10: 3446233962
    ISBN-13: 978-3446233966
    Preis: 29.90 EUR


    Wenn man dieses Buch aufschlägt, dann liegen rund 1100 Seiten eines wirklich beeindruckenden Leseerlebnisses vor den Leserinnen und Lesern, ein „Meilenstein der literarischen Evolution“ wie die ZEIT meinte. Roberto Bolano hat mit „2666“ ein Buch geschrieben, welches sich kaum in irgendwelche Kategorien einordnen lässt, ein Buch, das sich mit Händen und Füßen dagegen wehrt in irgendwelche Schubladen gepackt zu werden.


    Aber worum geht es jetzt eigentlich in Bolanos „2666“? Eine Frage, so simpel sie auch ist, auf die eine eindeutige, eine klare Antwort sehr schwer fällt.


    „2666“ besteht aus fünf Teilen, die aber kaum in einer Verbindung zueinander stehen, auch dann nicht, wenn berücksichtigt wird, dass man in den einzelnen Teilen immer mal wieder die eine oder andere Figur wiedertrifft.


    Im ersten Teil treffen wir auf vier Literaturwissenschaftler aus Spanien, England, Frankreich und Italien. Drei Männer und eine Frau. Diese vier Wissenschaftler sind auf der Suche nach dem Werk des Schriftstellers Archimboldis, das sie seit den Achtzigern des vorigen Jahrhunderts fasziniert. Allerdings hat sich Archimboldis völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen auch wenn sein Bekanntheitsgrad fast täglich wächst. Und es kommt wie es kommen muss, die drei Männer verlieben sich in ihre englische Kollegin und diese schläft auch abwechselnd mit ihnen, wobei der italienische Kollege nicht in den Genuss einer gemeinsamen Nacht mit ihr kommt, da er an den Rollstuhl gefesselt ist. Aber auch das Beziehungsgeflecht untereinander hält sie nicht davon ab, von Literaturkongress zu Literaturkongress zu eilen und ihrer Leidenschaft für diesen Autor zu frönen.


    Ihre Suche führt die vier Literaturwissenschaftlicher letztendlich nach Mexiko in den Ort Santa Teresa. Hier sind in den letzten Jahren rund 400 Frauen einem Serienmörder zum Opfer gefallen. Hier treffen sie auch den Philosophieprofessor Amalfitano. Mit diesem beschäftigt sich dann der zweite Teil des Buches, aber eben nicht wie man denken könnte, mit ihm und den vier Literaturwissenschaftlern, nein, diese finden im zweiten Teil gar nicht mehr statt.


    Im zweiten Teil geht es ausschließlich um Professor Amalfitano und seinen langsamen Trip in den Wahnsinn. Aber wir treffen dort auch seine Tochter Rosa, die dann im dritten Teil auf den Amerikaner Fate trifft, einen afroamerikanischen Journalisten, der eigentlich über einen Boxkampf berichten soll, sich aber viel lieber der Mordserie zuwenden würde.


    Über diese Mordserie ist dann im vierten Teil zu lesen. Diese Mordserie hat es wirklich gegeben, Santa Teresa steht hier für den Ort Ciudad Juarez. Minutiös schildert Bolano dann das Schicksal von 108 ermordeten Frauen. Es sind kleine Berichte voller Grausamkeit und Gnadenlosigkeit.


    Im letzten Teil kann man dann über das Leben des Schriftstellers Archimboldi lesen, über seine Schwester Lotte und deren Mann, einem Klaus Haas, den man für die Frauenmorde in Mexiko ins Gefängnis gesteckt hat.


    Roberto Bolanos Buch ist nicht so richtig greifbar, aber gerade daraus zieht es seine ganz besondere Faszination. Es ist aber auch der fast monotone Erzählstil des Autors, der den Leser ganz schnell in seinen Bann zieht. Monotonie als besonderes Stilmittel – sehr gelungen und man hätte dieses Buch wohl auch kaum anders schreiben können.


    Bolano zeigt mit seinem Roman die ganze Sinnlosigkeit der Welt, in der sich vieles einfach nur auf irgendwelchen Zufällen gründet und in der es für viele Sache eben keine rationale Erklärung gibt. Es passieren in dieser Welt so unendlich viele Dinge, die nichts miteinander zu tun haben und es ist da eben dem Zufall überlassen, diese Dinge so zu ordnen, dass sie plötzlich doch etwas miteinander zu tun haben. Wer aber nun meint und rund 1100 Seiten auf die finale Auflösung gewartet hat, der wird vielleicht enttäuscht sein, denn es gibt sie nicht, diese alles befriedigende Auflösung, diesen vielleicht herbeigesehnten alles erklärende Schluss des Buches. Es ist vielmehr ein Schluss, der genaugenommen eventuell neue Anfänge begründen könnte – ob er es aber auch tut? Keine Ahnung.


    Roberto Bolano ist ein ganz besonderes Buch gelungen, ein Buch das sicher nicht so schnell aus dem Gedächtnis verschwindet – aber ob es auch ein großes, ein gutes Buch ist – dieses Urteil ist von jedem Leser individuell zu fällen. Auch die Frage ob es sich bei diesem Buch nun um einen realistischen Roman oder eher um eine Absurdität handelt, wird man nicht so einfach beantworten können. Einiges ist realistisch, aber es ist eine Realität, die sehr schnell in ein absurdes Etwas umschlagen kann.


    Niemand sollte sich von diesem Umfang von 1100 Seiten beeindrucken lassen. Man liest sie schneller als man denkt, weil man von diesem Buch – so ging es mir wenigstens – kaum lassen kann.


    Ein sehr interessantes, ein wahrhaft nicht alltägliches Leseerlebnis. Ein Jahrhundertbuch? Vielleicht – wer weiß….

    Ich mag verdammen, was du sagst, aber ich werde mein Leben dafür einsetzen, dass du es sagen darfst. (Evelyn Beatrice Hall)


    Allenfalls bin ich höflich - freundlich bin ich nicht.


    Eigentlich mag ich gar keine Menschen.

  • Danke für die schöne Rezi, Voltaire.


    Es klingt ja wirklich sehr gut, interessant, aber trotzdem schrecken mich die über 1000 Seiten noch etwas. Ich warte mal noch die Rezi von buzzaldrin ab :-).

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

    alles zurück - Anfang

    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

  • Ich habe mir das Buch letzte Woche auf englisch gekauft und es lächelt mich hier schon an. Allerdings brauche ich bei englischen Büchern doch etwas länger, und so fürchte ich nun, dass es sehr viel Zeit in Anspruch nehmen wird - doch ich denke, bei diesem Buch lohnt es sich bestimmt. Danke für deine tolle Rezi. :wave

  • Auch ich habe auf die Rezi gewartet. Hab ja das Buch seit Wochen immer wieder in der Buchhandlung in der Hand und habe die ersten Seiten angelesen...habe mich aber nie so ganz getraut. Sobald meine Hausarbeit vom Tisch ist, werd ich mir das Buch mal zur Brust nehmen. :wave

  • Dieses Werk hast du tatsächlich schon gelesen? Wow, Respekt - ich hab nur einiges davon gehört.


    Ich komme gegebenenfalls darauf zurück!

    Who is Keyser Soze?


    (\__/)
    (o ,o)
    (>_<) <- This is Bunny.


    Copy Bunny into your signature to help him on his way to world domination.

  • Das wichtigste über die Aufteilung des Buches in die erwähnten fünf Teile hat Voltaire ja schon ausführlich beschrieben, deshalb werde ich gleich dazu übergehen, über "Meine Meinung" zu schreiben.


    Insgesamt ist mein Urteil über "2666" zwiespältig. Als sehr positiv sehe ich die (poetische) Sprache Bolanos, die mir wirklich gut gefallen hat. Es gab einige Sätze, die ich mir herausgeschrieben habe, weil sie mich sehr beeindruckt und berührt haben. Als ermüdend empfand ich dagegen vor allem die vielen losen Enden, die auch (meiner Meinung nach) am Schluss nicht befriedigend zusammengeführt werden können. Vor allem habe ich es als störend empfunden, dass die vier Germanisten, die man im ersten Abschnitt kennen lernt, im weiteren Verlauf der Geschichte nicht noch einmal auftauchen.
    Dennoch muss ich sagen, dass mir das Lesen der ersten drei Abschnitte am meisten Freude bereitet hat. Am schwierigsten fiel mir dagegen das Lesen des vierten Abschnitts über die Frauenmorde. Die Brutalität die in den jeweils kleinen Abschnitten geschildert wird, ist für mich nur schwer zu ertragen gewesen - vor allem da es sich nach einer gewissen Zeit eben immer wieder wiederholt. Wenn dann die fünfzigste Frau mit abgebissenem "Nippel" aufgefunden wird, stand ich schon manchmal kurz vor der Kapitulation. Gleichzeitig war dies aber auch ein Abschnitt, bei dem es schwer fiel, das Buch zur Seite zu legen - vor allem dann, wenn man weiß, dass diese ganzen "banalen" Passagen der Realität entsprechen. Das letzte Kapitel über Benno von Archimboldi hat mir wiederum besser gefallen können.


    Insgesamt komme ich zu dem Schluss, dass das Buch in einer beeindruckenden Art und Weise geschrieben wurde. Dabei hat mir vor allem die Sprache Bolanos gefallen. Auch die vielen Passagen über deutsche Literatur habe ich gerne gelesen. Aber die vielen angefangenen Stränge und losen Fäden, bleiben für mich auch nach der Beendigung des Buches zum Teil einfach nicht greifbar, was mich doch etwas frustriert zurücklässt.


    Aus diesem Grund würde ich sagen, dass "2666" ein "gutes", aber kein "großes" Buch ist. :-)

  • Vielen Dank buzzaldrin für deine Einschätzung.
    Ich glaube ich muss das nochmal überdenken, gerade weil im Moment so viele "dicke" Bücher gelesen werden wollen :gruebel

    Herzlichst, FrauWilli
    ___________________________________________________
    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Zitat

    Original von FrauWilli
    Vielen Dank buzzaldrin für deine Einschätzung.
    Ich glaube ich muss das nochmal überdenken, gerade weil im Moment so viele "dicke" Bücher gelesen werden wollen :gruebel


    :write


    Geht mir auch so, ich werd's auch noch mal auf dem Merkzettel lassen. Es läuft ja nicht weg :lache


    .

  • Also mich hast du nicht abgeschreckt; ich war mir ja eh so unsicher! Du hast prima Hilfestellung geleistet. :knuddel1
    Und wie wir jetzt schon einstimmig festgestellt haben, es gibt so vieles in diesem Herbst was man lesen möchte :-)

    Herzlichst, FrauWilli
    ___________________________________________________
    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • Danke für die Rezension, Voltaire. :-)
    Das Buch lasse ich mir wohl zum Geburtstag schenken.


    :wave

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Vielen Dank für diese Rezension Voltaire, zu einem Buch, das sich nicht wirklich in Worte fassen lässt, wenn ich der Vorankündigung, Vertretermeinungen und Leseproben glauben schenken darf.


    Mehrfach wurde erwähnt, das es nicht in der Intention des Autors liege, lose Fäden zusammenzuführen, sondern er kurze Episoden erzählt und seinen Leser damit quasi auf die grüne Wiese stellt :gruebel
    Ich habe in einigen Feuilletons schon Vergleiche mit Ulysses entdeckt :grin
    Man darf also gespannt bleiben.


    Für mich steht aber so gut wie fest, dass ich es nicht lesen werde :-]


    trotzdem gespannte Grüße von Elbereth :wave

    “In my opinion, we don't devote nearly enough scientific research to finding a cure for jerks.”

    ― Bill Watterson

  • @ Buzz und Voltaire
    Danke für Eure Rezensionen.

    Ich frage mich, warum dieses Buch als "Jahrhundertbuch" bezeichnet wird. Gestern habe ich mit einem halben Ohr Scheck und Mangold dazu gehört und es ging in die Richtung, dass es noch einmal eine (völlig?) neue Form des Erzählens oder der Gestaltung sei. Aber so richtig schlau bin ich daraus nicht geworden.


    Die Details über das 4. Kapitel schrecken mich etwas ab... Naja, Taschenbücher sind ja auch eine schöne Sache. :grin

  • Hui... Ich muß gestehen, im Moment quält das Buch mich etwas. Ich bin jetzt auf Seite 610 oder so und mitten im 4. Teil. Mir geht's wie Buzz... Die kühle Aufzählung eines Mordes nach dem anderen, nur unterbrochen von Szenen aus einem mexikanischen Gefängnis, die auch nicht unbedingt angenehm sind, machen mir grade ein bißchen zu schaffen.


    Die ersten drei Teile haben mir ziemlich gut gefallen, am besten eigentlich der 3. Teil (da ist wenigstens richtig was los gewesen ;-) ).


    Aber gut. Ich mach weiter. Die Aussicht auf den 5. Teil lockt ja doch.