Kiepenheuer & Witsch Verlag, Februar 2009
HC, 348 Seiten
Kurzbeschreibung
Vom Hirnschlag erwacht - die Geschichte einer Heilung
Helene Wesendahl weiß nicht, wie ihr geschieht: Sie findet sich im Krankenhaus wieder, ohne Kontrolle über ihren Körper, sprachlos, mit Erinnerungslücken. Ihr Weg zurück ins Leben konfrontiert sie mit einer fremden Frau, die doch einmal sie selbst war. Kathrin Schmidt packt ihre Leser diesmal durch die Beschränkung, und zwar im wörtlichen Sinne. Mit den Augen ihrer erwachenden Heldin blicken wir in ein Krankenzimmer, auf andere Patienten, das Pflegepersonal und den eigenen Körper, der plötzlich ein Eigenleben zu führen scheint. Und wir erleben die mühsamen Reha-Maßnahmen mit, die Reaktionen der Familie, den aufopferungsvollen Einsatz ihres Mannes - und die bruchstückhafte Wiederkehr ihrer Erinnerung. Was da zutage tritt, konfrontiert Helene mit einem Leben, in dem sie sich kaum wiedererkennt, und das vieles in Frage stellt, was in der neuen Situation so selbstverständlich scheint. Sie entdeckt frühe Brüche in ihrer Biographie, verdrängte Leidenschaften und aus der Not geborene Verpflichtungen. Als ihr bewusst wird, dass ihr Herz sich bereits auf Abwege begeben hatte und sie den Mann, der sie jetzt so eifrig pflegt, eigentlich verlassen wollte, droht sie den Boden unter den Füßen zu verlieren. Kathrin Schmidt gelingt das Erstaunliche: Sie macht den Orientierungs- und Sprachverlust nach einer Hirnverletzung erfahrbar und zeigt einen Weg der Genesung, der in zwei Richtungen führt, zurück und nach vorn. Dabei entsteht ein Entwicklungsroman ganz eigener Art, der durch seine innere Dynamik fesselt und durch die Rückhaltlosigkeit, mit der seine Heldin sich mit ihrer Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert, fasziniert. Er überzeugt vor allem durch die bewegende Schilderung eines sprachlichen Neubeginns.
Über den Autor
Kathrin Schmidt, geboren 1958 in Gotha, arbeitete als Diplompsychologin, Redakteurin und Sozialwissenschaftlerin. Sie erhielt zahlreiche Preise, darunter den Leonce-und-Lena-Preis 1993. Ihr 1998 erschienener Roman "Die Gunnar-Lennefsen-Expedition" wurde mit dem Förderpreis des Heimito von Doderer-Preises und dem Preis des Landes Kärnten beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 1998 ausgezeichnet. Sie lebt in Berlin. Bisherige Veröffentlichungen: "Poesiealbum 1979", Gedichte, 1982. "Ein Engel fliegt durch die Tapetenfabrik", Gedichte, 1987. "Flußbild mit Engel", Gedichte, 1995. Weitere Titel bei Kiepenheuer & Witsch: "Die Gunnar-Lennefsen-Expedition", Roman, 1998. "GO-IN der Belladonnen", Gedichte, 2000. "Koenigs Kinder", Roman, 2002, "Seebachs schwarze Katzen", Roman, 2005.
Meine Meinung
Das erste, was Helene Wesendahl hört, ist das Klappern von Besteck, vom Silberbesteck ihrer Großmutter.
Helene nimmt erst ganz allmählich wahr, dass sie in einem Krankenzimmer liegt, die Personen um sie herum ihre Familie ist. Sie leidet an einer rechtsseitigen Lähmung mit Sprach- und Gedächtnisverlust. Dass sie eine Hirnblutung hatte, begreift Helene erst später.
Zunächst erscheint Helene alles wie ein Albtraum, sie ringt um Verstehen. Sie hört „Afasie“ und versteht Anfang sieben. Bevor die Sprache zurückkommt, füllt sich Helenes innere Leere mit Erinnerungen, Erinnerungen an ihre Kindheit in Ostberlin, Eheschließung, Geburt der Kinder. Die letzten Wochen vor der Hirnblutung bleiben zunächst verschlossen. Helene fühlt sich ausgeliefert, unfähig, Wünsche zu äußern.
Der Leser verfolgt in dieser Geschichte der Geschichte eines Menschen, der sich verloren zu haben scheint und darum kämpft, sich wiederzufinden.
Ihr Ehemann Matthes versorgt sie fürsorglich, veranlasst die Verlegung auf eine besser ausgestattete Station und dann in die Rehaklinik Heidemühlen.
Dies alles schildert Kathrin Schmidt aus der Sicht der Betroffenen, konsequent die Ich-Form meidend. In eindrucksvollen Bildern erfährt der Leser die Hilflosigkeit und Schrecknisse Helenes.
Sehr eindrücklich beschreibt die Autorin die Aufarbeitung der Vergangenheit. Weitere Erinnerungen kehren zurück – wollte sie, Helene, Matthes nicht gerade verlassen? Diesen Mann, der nun fast täglich an ihrem Krankenbett steht? Mit Wucht kehrt die Erinnerung an Viola zurück, eine transsexuelle Frau. Wollte sie deshalb ihren Mann verlassen?
Erst in der Rehaklinik erfährt Helene, dass ihr zweiter Roman gerade erschienen ist. Dass sie, die Schriftstellerin, die durch Sprache lebt, nun „sprachlos“ ist. Sie hat ein „Kapazitätsproblem“. Die Genesung ist langwierig. Zugleich zeigt Kathrin Schmidt für Helene aber auch einen Weg nach vorne, eine Befreiung durch die Rückgewinnung der Sprache.
Dass man sich als Leser so gut einfinden kann, der Roman so authentisch ist, mag daran liegen, dass Kathrin Schmidt selbst 2002 eine Hirnblutung erlitt.
Der Roman ist aber nicht jammernd oder mitleidend. Sprachlich knapp und mitleidlos beschreibt die Autorin die Selbstwahrnehmung der Protagonistin.
Hervorzuheben ist das hohe sprachliche Niveau. Manche Sätze erscheinen fast lyrisch. Allerdings schlägt das Kunstvolle manchmal fast ins Künstliche um, die manche Passagen mehrfach lesen lassen.
Dieser sensibel erzählte Roman von Kathrin Schmidt überzeugt sowohl inhaltlich als auch sprachlich. Er ist zu recht für den Deutschen Buchpreis 2009 nominiert.
Von mir "nur" 8 Punkte, da die Sprache für mich sehr ungewohnt war.