Titel: Aufbruch
Autorin: Ulla Hahn
Verlag: DVA
Erschienen: September 2009
Seitenzahl: 592
ISBN-10: 3421042632
ISBN-13: 978-3421042637
Preis: 24.95 EUR
Mit dem Buch „Aufbruch“ erzählt Ulla Hahn die mit „Das verborgene Wort“ begonnene Geschichte weiter. Es geht um Hildegard Palm, die im Januar 1963 in das laufende Schuljahr des Aufbaugymnasiums aufgenommen wird und die ihre ungeliebte Lehre zum Industriekaufmann abbrechen kann. Mit Feuereifer stürzt sich Hildegard in das Schulleben. Die wissbegierige junge Frau will endlich raus der Enge ihres bisherigen Lebens, die Werte und Ansichten ihrer Eltern sind schon lange nicht mehr die ihrigen. Sie sieht, dass die einfachen Antworten der Eltern auf die komplizierten Fragen der Zeit ganz einfach nicht mehr passen. Nach wie vor lebt Hildegard in der Welt der Bücher, sie ist fasziniert von der Macht des Wortes. Lesen ist für sie mehr als ein technischer Vorgang.
Hildegard schafft das Abitur und nimmt anschließend das Studium der Germanistik an der Universität Köln auf. Auch dort muss sie sich erst wieder in eine für sie völlig neue Welt eintauchen und dort zurechtfinden.
Ulla Hahn wuchs im Rheinland auf und arbeitete nach ihrer Promotion in Germanistik als Lehrbeauftragte an verschiedenen Universitäten. Bis 1989 war sie zudem Literaturredakteurin bei Radio Bremen.
Schilderte Ulla Hahn in „Das verborgene Wort“ die Zeit der fünfziger Jahre, so werden im „Aufbruch“ die Jahre der Sechziger in den Vordergrund gerückt. Die Autorin schafft es gerade diese Zeit atmosphärisch dem Leser sehr nahe zu bringen. Die „großen“ Ereignisse dieser Zeit sind nur Stichwortgeber (Kennedy, Auschwitz-Prozess beispielsweise), wie die Sechziger wirklich waren, erfährt man anhand der Schilderung der verschiedenen Lebensmomente der „ganz normalen“ Menschen. Denn gerade die nicht spektakulären Lebensschilderungen, die nur für die Betroffenen wichtig sind, nicht aber den „Lauf der Geschichte“ entscheidend beeinflussen, die aber in ihrer Gesamtheit letztendlich eine Epoche prägen.
Ulla Hahns Buch ist zutiefst menschlich, es beschreibt die Welt des „kleinen Mannes“. Ulla Hahn setzt diese Menschen nicht herab, schaut nicht auf sie hinunter oder verachtet sie gar. Ganz im Gegenteil. Man findet bei ihr viel Sympathie für die „namenlosen“ Teile unserer Gesellschaft. Wichtig ist der Charakter des jeweiligen Menschen, nicht die Größe der Summe auf seinem Bankkonto.
Man kann den „Aufbruch“ natürlich nicht losgelöst vom „Verborgenen Wort“ sehen. Stellt man diese beiden Bücher kritisch gegenüber, so fällt das neue Buch „Aufbruch“ ein wenig von seinem Vorgänger ab. Im „Verborgenen Wort“ erzählt Ulla Hahn intensiver und authentischer. Obwohl der „Aufbruch“ sicher viel mehr als eine Pflichtaufgabe war, so schleichen sich an der einen oder anderen Stelle schon mal allzu routinierte Schilderungen ein. Das trübt den Lesegenuss aber nicht, das Buch lässt sich davon glücklicherweise nicht aus der Bahn werfen.
Sehr gut, wirklich großartig gelang Ulla Hahn die Schilderung des Zusammentreffens von Hildegard Palm mit ihrem alten Lehrer Mohren (Seite 256 ff.). Mohren erzählt über die Kraft des Wortes, über die Bedeutung der Wörter als Wurzel für Zivilisation, Wissenschaft, Kultur – aber auch über die Bedeutung des Wortes als Motor für Dummheit und Verbrechen. Die eindrucksvollste Passage aus diesem Buch – wert mehr als einmal gelesen zu werden.
Ulla Hahn hat ein sehr lesenswertes Buch geschrieben, ein Buch das seine Zeit der Handlung anschaulicher beschreibt als so mancher Tatsachenbericht. Wer diese Zeit selbst erlebt hat, wird sicher so manches Mal an Dinge erinnert werden, die bereits tief im Erinnerungskeller auf Dauer abgelegt waren. Dieses Buch ist ein wirkliches Highlight der deutschen zeitgenössischen Literatur des Jahres 2009.