Eine Frau flieht vor einer Nachricht - David Grossman

  • Originaltitel: Ischa borachat me-bessora (2008)
    aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer
    Verlag: Hanser, 2009
    € 24,90


    Pressestimmen
    Mehr als siebenhundert Seiten ist David Grossmans Roman lang, und man liest immer langsamer, weil man nicht will, dass er aufhört. Noch Tage danach ist man wie benommen und voll von dieser Romanwelt, die ein Leben nicht retten konnte, die aber ihrerseits Rettung ist, weil man in einer Welt ohne Bücher wie dieses gar nicht leben will. (Julia Encke, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16. August 2009)


    Kurzbeschreibung
    Ora erzählt: von ihrer Liebe zu zwei Männern, von Wut und Zärtlichkeit, Verzweiflung und Leidenschaft und von ihrem Sohn Ofer, der sich freiwillig für einen Militäreinsatz im Westjordanland meldet. Seine Mutter hofft, das drohende Unglück zu bannen, indem sie ihrem Jugendfreund Avram, der im Sechstagekrieg selbst Soldat war, von Ofers Vorhaben berichtet. Und unerreichbar zu sein, falls das Schreckliche geschieht ... Autor und Friedensaktivist David Grossman spiegelt die großen Fragen in den kleinen Erlebnissen des Alltags. Er zeigt, wie in Israel das Schicksal der Menschen unauflöslich mit Politik verbunden ist. Ein mitreißendes, unvergessliches Buch und ein Protest gegen den Krieg.


    Meine Meinung
    Oras Sohn Ofer ist im Krieg. Er dient in der israelischen Armee. Eigentlich hatte er seinen Dienst dort beendet und Ora hatte für sie beide einen Ausflug nach Galiläa geplant, als Geschenk zu seiner Entlassung.
    Doch nach hitzigen Debatten muss sie entsetzt feststellen, dass er aus eigenem Antrieb die Armee überredet hat ihn als Freiwilligen für weitere 28 Tage einzuziehen.
    Schon die Fahrt zum Sammelpunkt der Soldaten (mit ihrem arabischen Fahrer) wird zu einer Herausforderung und sie kann sich nicht verzeihen dass sie Ofer zum Krieg gebracht hat.
    "Was habe ich getan.
    Ich habe Ofer zum Krieg gebracht.
    Und wenn ihm was passiert?
    Und wenn ich ihn heute zum letzten Mal berührt habe?
    Ich habe ihn dort hin gebracht.
    Ich habe ihn nicht aufgehalten.
    Ich habe ihn dort zurückgelassen.
    Ich habe ihn denen überlassen.
    Mit eigenen Händen. Ich selbst!"


    Sie wird diese Wanderung machen. Sie wird all ihre Kraft dafür einsetzen um ihr Kind zu retten. Denn, davon ist sie überzeugt, wenn sie nicht zuhause ist, kann sie auch keine schreckliche Nachricht erhalten. Nur so meint sie ihn schützen zu können. Mit auf diese Wanderung nimmt sie Avram, einen langjährigen Freund. Er soll sie dabei unterstützen indem sie ständig über Ofer reden und einfach immer in Bewegung bleiben.
    "Sie ging schnell, spürte nicht das Gewicht des Rucksacks, vergaß auch Avram immer wieder, der sie rufen musste, sie solle langsamer gehen, auf ihn warten, aber es fiel ihr schwer, seine Langsamkeit war unerträglich. Den ganzen Morgen war sie nicht bereit, auch nur einmal anzuhalten, und wenn er protestierte und sich mitten auf den Weg oder unter einen Baum legte, lief sie trotzdem weiter und zog Kreise um ihn, um sich im dauernden Laufen, unter der heißen Sonne immer mehr zu betäuben, auch trank sie absichtlich nichts."


    In fast minutiösen Rückblenden erfährt man sehr viel über das Leben der Familie und über Avram. Wie tief verletzt diese Menschen sind.


    Dieses Buch läßt mich tief erschüttert zurück und ich hatte manchmal das Gefühl an einer nicht enden wollenden Therapiestitzung teilzunehmen, was schlußendlich dazu führte dass ich insgesamt sehr nervös und unruhig wurde. Der o.g. Rezensentin aus der FAZ kann ich mich nicht anschließen. Ich wollte dass das Buch aufhört, ich habe immer schneller gelesen. Der Grund ist einfach der, ich konnte es kaum noch ertragen.
    Ein aufwühlendes Buch das viel Mitgefühl und Verständnis erfordert und für mich ganz eindeutig ein leidenschaftliches Plädoyer gegen den Krieg. Sprachlich auf ganz hohem Niveau.

    Herzlichst, FrauWilli
    ___________________________________________________
    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von FrauWilli ()

  • Vielen Dank für Deine Rezi. Ich gestehe, ich bin unentschlossen. Auf dem Merkzettel steht das Buch, aber wenn das Buchkauffasten zu Ende ist, werde ich wohl doch erstmal etwas anderes bestellen. Hört sich nach schwerer - wenn auch interessanter - Kost an :zwinker


    .

  • Ich kann die Rezi von Frau Willi nur unterschreiben. Dieses Buch hat mich sehr mitgenommen. Immer wieder musste ich eine Lesepause einlegen, um alles zu verdauen. Ein emotionales, anstrengendes und sehr schönes Buch, dass noch sehr lange Nachwirken wird.

  • @vorleser
    es freut mich sehr dass es dir so gut gefallen hat und es erstaunt mich nicht dass es dich auch so ergriffen hat. :wave

    Herzlichst, FrauWilli
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    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • @Frau Willi:
    Vielen Dank für die schöne Rezension -das Buch hatte ich auf der Buchmesse schon in der Hand und bei Tausch-Ticket steht es schon in den Suchaufträgen.


    :wave

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf

  • Nach Euren Rezis bin ich nun durch "Die Vorleser" nochmal auf dieses Buch geschubst worden.


    Es ist ja recht dick :gruebel. Wie liest es sich? Flüssig? Habe ja immer Respekt vor Büchern über 500 Seiten :rolleyes.


    Ein anstrengendes Buch, vorleser. Inwiefern? Inhaltlich?

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

    alles zurück - Anfang

    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

  • Zitat

    Original von Ann O Nym
    Das Buch SUBt schon länger leise vor sich hin. Ich trau mich einfach nicht so richtig ran.


    Trau dich! Es ist wirklich ein sehr gutes Buch, das aber auch und darüber gibt es keinen Zweifel, ziemlich niederschmetternd sein kann.
    Aber auf jeden Fall lesenswert. :wave

    Herzlichst, FrauWilli
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    Ich habe mich entschieden glücklich zu sein, das ist besser für die Gesundheit. - Voltaire

  • @Sigrid


    Das anstrengend bezog sich auf den Inhalt. Wie FrauWilli schrub, ist es eine nicht enden wollende Therapiesitzung, aber auch sprachlich gesehen, keine einfache Kost. :wave

  • Zitat

    Original von vorleser
    @Sigrid


    Das anstrengend bezog sich auf den Inhalt. Wie FrauWilli schrub, ist es eine nicht enden wollende Therapiesitzung, aber auch sprachlich gesehen, keine einfache Kost. :wave


    Danke für Dein feedback, vorleser. Ich werde noch ein wenig darüber :gruebel, ob ich es mir kaufen soll.

    Liebe Grüße, Sigrid

    Keiner weiß wo und wo lang

    alles zurück - Anfang

    Wir sind es nur nicht mehr gewohnt

    Dass Zeit sich lohnt

  • Ich habe das Buch heute morgen beendet und bin noch sehr beeindruckt.
    FrauWillis Rezension kann ich mich somit anschließen. :-)


    Der Einstieg in den Roman empfand ich als ungewöhnlich: Es geht in Dialogform los, ohne dass man das Gesagte sofort Personen zuordnen kann.
    Ort des Geschehens ist ein Krankenhaus, wo man die zu dem Zeitpunkt 16-jährigen Protagonisten Ora, Ilan und Avram kennenlernt, die dort auf der Isolierstation liegen.
    Dann kommt ein Zeitsprung - Ora hat gerade ihren Sohn Ofer zu einem Einsatz gebracht, zu dem er sich freiwillig gemeldet hat.
    Ora kommt auf die aberwitzige Idee, vor der Nachricht, dass ihrem Sohn was zugestossen ist, zu fliehen.
    Sie holt ihren langjährigen Freund Avram ab und gemeinsam machen sie sich auf eine Wanderung. Während dieser Wanderung erzählt sie von ihrem Leben, den Söhnen - und auch von Avram erfährt der Leser nach und nach dessen Schicksal. Dabei fällt es Ora keineswegs immer leicht, zu erzählen, manches ist schmerzhaft.
    Zudem verändert sich im Laufe des Gehens das Verhalten Avrams -auch sehr interessant zu lesen - und gut geschrieben von Grossman. Wo man am Anfang noch nicht weiß, wieso Avram sich so verhält, wird es immer klarer, je weiter man liest.


    Während die Wanderung chronologisch verläuft, springen die Erzählungen über die Vergangenheit zeitlich hin und her.


    Der Roman lässt einen aufgewühlt, beeindruckt und nachdenklich zurück.
    David Grossman hat hiermit einen grossartigen Roman geschrieben, den ich nur empfehlen kann.



    :wave

    Jeder trägt die Vergangenheit in sich eingeschlossen wie die Seiten eines Buches, das er auswendig kennt und von dem seine Freunde nur den Titel lesen können.
    Virginia Woolf