OT: The True Confessions of Charlotte Doyle 1990
Charlotte Doyle ist Amerikanerin, hat aber ihre Kinderjahre in England verbracht, weil ihr Vater dort als Vertreter einer amerikanischen Baumwollfirma arbeitet. Nun wird ihr Vater in die USA zurückberufen. Die Eltern beschließen, umgehend aufzubrechen, Charlotte, die älteste Tochter, soll jedoch erst am Ende des Schuljahrs nachkommen. Unterricht zu versäumen, ist etwas, das ihr Vater gar nicht schätzt. Er erfüllt jedoch seine Vaterpflichten punktgenau und arrangiert Charlottes Rückreise im Voraus bis ins letzte Detail. Daher macht sich Charlotte auch keinerlei Gedanken, als sie einige Monate später pünktlich am Hafen von Liverpool eintrifft, wo sie an Bord des Schiffes gehen soll, das sie in die USA bringen wird.
Doch schon auf dem Weg zum Schiff ereignet sich Seltsames. An Bord sieht die Lage nicht viel besser aus. Ehe Charlotte es sich versieht, steht sie vor einer Situation, die sie sich in ihren wildesten Vorstellungen nicht hätte ausmalen können.
Diese Ausgangssituation ist immer guter Stoff für eine ordentliche Abenteuergeschichte. Hier jedoch wird eine ganz besondere Geschichte daraus, weil der Autor sie ins Jahr 1832 zurückverlegt hat und das Schiff, das die dreizehnjährige Heldin über den Atlantik tragen soll, eine Brigg ist. Die Reise auf der Seahawk wird für Charlotte nicht nur eine Reise nach Amerika, sondern eine Reise in eine völlig neues Leben.
Geschlechterrollen, Standesbewußtsein, Moralvorstellungen, der harte Alltag an Bord eines Segelschiffs sowie das Segeln überhaupt verbinden sich mit der Suche eines erwachsen werdenden Kindes nach dem, was im Leben wirklich zählt. Charlottes Erfahrungen sind eindrücklich geschildert und streckenweise atemberaubend. Ihre Grundüberzeugungen von dem, was ein ‚ordentliches’ Leben ausmacht, halten dem, was sie auf der Seahawk vorfindet, nicht stand. Sie muß hochkomplizierte Entscheidungen treffen, ihre Fehler, die sie unweigerlich macht, drohen am Ende im Wortsinn die Schlinge an ihrem Hals zu werden.
Salz im Haar ist eine sehr ungewöhnliche Abenteuergeschichte, eine Seefahrergeschichte, die für einmal dem Freiheitsdrang von jungen Leserinnen entgegenkommt und ihn konsequent auch mit seinen furchterregenden Seiten ausmalt. Daß Charlotte ihre Geschichte selbst erzählt - wir lesen eigentlich ihr Tagebuch jener zwei Monate auf See vom Juni bis zum August 1832 - macht das Ganze nur eindringlicher.
In die Geschichte eingebettet sind eine Menge Technika über die Fahrt mit klassischen Segelschiffen. Für Leserinnen, die nicht mit jeder Faser ihres Herzens an den Details der Takelung hängen, kann das streckenweise etwas mühselig werden. Spätestens aber, wenn sich Charlotte auf ihren Weg durch die Webeleinen hinauf zur Royalrah, ganz oben am Großmast macht, hat man dem Autor alles verziehen. Zwei Illustrationen am Ende des Buchs, einmal eine Brigg unter vollen Segeln, einmal ihr Aufbau ohne Segel, erleichtern Unkundigen den Zugang.
Das Ende der Geschichte ist ebenso erstaunlich, wie ihr ganzer Verlauf, und ebenso konsequent erzählt. Es paßt sowohl ins 19. Jahrhundert als auch in die heutige Zeit, es paßt zu Charlotte, wie es zu jedem paßt. Man muß herausfinden, wo man zuhause ist. Selbst herausfinden. Und diesen Platz dann auch behaupten.