"Du bist nicht so wie andre Mütter": Die Geschichte einer leidenschaftlichen Frau
von Angelika Schrobsdorff
Kurzbeschreibung
»Sie war so kompliziert wie ein Puzzle, das aus Tausenden Stücken zusammengesetzt ist - und ich mußte diese Teile finden und ineinanderfügen«, schreibt Angelika Schrobsdorff über ihre Mutter.
Die Teile, die sie benutzt, sind Briefe, Fotoalben, Erinnerungen von Freunden und für die spätere Zeit gemeinsam gelebtes Leben. Begonnen hat alles voller Harmonie in einem begüterten jüdischen Geschäftshaus im Berlin des Jahrhundertbeginns. Else Kirschner, sprühend vor Charme, mit dunklen Locken und leuchtenden Augen, liebte die rührend um sie besorgten Eltern, und sie liebte das Leben, das ihr Jahre des Wohlstands bescherte, angefüllt mit Theater und Konzerten, Ferien im Sommerhaus am See und großen Leidenschaften.
Doch die Nazis setzen dem ein jähes Ende. Else, inzwischen mit dem preußischen Junker Erich Schrobsdorff verheiratet, flieht mit ihren beiden Töchtern nach Bulgarien ... Voller Leidenschaft, aber ohne Pathos, voller Mitgefühl und Bewunderung und dennoch mit kritischem Blick erzählt Angelika Schrobsdorff von den beiden Leben ihrer Mutter.
Der Autor über sein Buch und die Geschichte dahinter
Angelika Schrobsdorffs Eltern waren Berliner. Mutter Else eine höhere jüdische Tochter aus Charlottenburg, Vater Erich ein preußischer Junker."Meine Eltern waren Extreme", sagt Schrobsdorff. Die Mutter, leidenschaftlich und lebenslustig, verkehrte in Berliner Künstlerkreisen der 20er Jahre, hatte Freunde und Affären. Erich Schrobsdorff war eher nüchtern. "Mein Vater machte keinen Gebrauch von Frauen. Ihn interessierten seine deutschen Dichter und Denker. Er war immer geistig abwesend."
Dennoch liebte ihn die Tochter. "Ein wunderbarer Mann. Ich habe ihn verehrt. Jeden Wunsch hat er mir erfüllt. Ich wollte einen Hund und bekam zwei. Ich wollte ein Pony und bekam Ponys. Als ich mir ein Gut wünschte, sagte er allerdings oh la la." Doch selbst das bekam sie. Eine traumhafte Kindheit, könnte man meinen. Mitnichten. "Ich habe in geschlossenen Gehegen gewohnt."
Die Schriftstellerin Angelika Schrobsdorff
Angelika Schrobsdorff wurde am 24. Dezember 1927 in Freiburg im Breisgau geboren. 1939 emigrierte sie mit ihrer jüdischen Mutter von Berlin nach Bulgarien. Die Großeltern wurden in Theresienstadt ermordet. 1947 kehrte Schrobsdorff nach Deutschland zurück. 1971 heiratete sie den französischen Filmemacher Claude Lanzmann, der durch seinen neunstündigen Dokumentarfilm "Shoah" (1985) bekannt wurde. 1983 übersiedelte Angelika Schrobsdorff nach Israel, wo sie bis zum Jahr 2006 nahe der Altstadt Jerusalems lebte. Anfang 2006 entschloss sie sich, wieder nach Berlin zurückzukehren.
Ihr erster Roman "Die Herren", 1961 erschienen, durfte aufgrund seiner Freizügigkeit zeitweise in Bayern nicht erscheinen. Daneben zählen zu ihren bekanntesten Büchern "Der Geliebte" (1964), "Du bist nicht so wie andere Mütter" (1992), "Jericho: eine Liebesgeschichte" (1995) und "Von der Erinnerung geweckt" (1999).
Im Jahr 2007 kam der Dokumentarfilm "Ausgerechnet Bulgarien - Angelika Schrobsdorff und ihre Familie" heraus (Regie: Christo Bakalski), der sich vor allem mit Schrobsdorffs Jugend in Sofia nach 1939 auseinandersetzt.
Auszug aus dem Buch (aus Amazon)
Heute, am 30. Juni, ihrem Geburtstag, habe ich das schmale, hohe Büchlein aus meiner Truhe der Vergangenheit geholt. Es ist aus festem Karton mit schwarz-goldener Randverzierung und goldener Aufschrift.
LEBENSLAUF unseres Kindes ELSE
steht darauf. Die Ecken des Buches sind ein wenig abgestoßen, sonst macht es den Eindruck, als sei es neu. Es ist 98 Jahre alt. Auch die ersten eingehefteten Löckchen des Kindes Else sind 98 Jahre alt und sehen aus, als wären sie vorgestern abgeschnitten worden. Sie sind braun, dann honigblond, schließlich, im Jahr 1897, kupferrot. Sind Haare etwas Unvergängliches? Werden sie nicht zu Staub? Sie fühlen sich seidig an unter meinen Fingerspitzen. Als ich Else, meine Mutter, kennenlernte, war ihr Haar bronzefarben und stark wie das einer Pferdemähne. Sie sah immer unfrisiert aus, auch wenn sie gerade vom Friseur kam. Die dichten, kurz geschnittenen Locken waren nicht zu bändigen. Es war nicht das einzige an ihr, das nicht zu bändigen war. Ich hätte gerne ihr Haar geerbt und ihre Vitalität. Aber in diesen Punkten - und in noch einigen mehr - ist mein Vater bei mir durchgeschlagen.
0 Gott, die ungereimten Gedanken, die mich beim Anblick des kleinen, roten Buches überfallen, die Erinnerungen, die Sehnsucht! Sehnsucht nach der Vergangenheit, die ich gelebt habe, Sehnsucht nach einer Vergangenheit, die ich nicht gelebt habe. Berlin um die Jahrhundertwende. Was stelle ich mir darunter vor? Eine helle, da vergangene Welt wahrscheinlich: Trambahnen und zweistöckige Autobusse von Pferden gezogen; Kopfsteinpflaster und Gaslaternen; solide, milchkaffeefarbene Wohnhäuser und herrschaftliche Villen in großen Gärten; Leierkästen, Blumen- und Obststände, Würstchen- und ... .
Meine Meinung
Dieses Buch ist nun gleich neben *Warten auf Antwort* von Magret Bechler zu meinem Lieblingsbuch aus dieser Zeitperiode avanciert.
Angelika Schrobsdorff schreibt so detailliert und glaubhaft, so unglaublich ehrlich, das ich gleich zu Beginn mitten ins Berlin der goldenen zwanziger Jahre tauchen konnte.
Else Kirschner, Schrobsdoffs Mutter, ist das geliebte Kind einer gutbürgerlichen, jüdischen Familie. Sie wächst sehr behütet auf und Religion spielt in ihrem jungen Leben keine sehr große Rolle. Bis Else sich unsterblich in Fritz, den Künstler verliebt. In einen Christen. Gegen jede Regel heiratet Else heimlich und die Eltern brechen mit ihr. Erst auf dem Sterbebett des Bruders, als Else selbst Mutter ist, versöhnt sie sich wieder. Nun hat Else eigentlich alles was man sich nur wünschen kann, Sohn Peter, Ehemann, Haus und volle Unterstützung durch Ihre Eltern. Es ist gleichzeitig das Ende des ersten Weltkrieges.
Aber das reicht ihr nicht. Fritz betrügt sie, und sie betrügt Fritz. Sie leben ein ausschweifendes Leben, Else genießt nun die Stimmung Berlins in den goldenen zwanziger Jahren, flirtet, stürzt sich in die intellektuell-künstlerische Szene, die auf sie geradezu gewartet zu haben scheint. Schon bald wohnen Else und Fritz mit jeweils einem Partner, Fitz mit Enie, Else mit Hans, von dem sie eine Tochter, Bettina bekommt, gemeinsam in der Berliner Villa.
In dieser Situation lernt sie Erich, den späteren Vater Angelikas kennen. Sie geht gegen jegliche Einwände mit Erich auf Reisen. Hans, der dies nicht mehr länger ertragen kann zieht aus als Else mit Angelika schwanger wird.
Von jedem Mann, den sie geliebt hat, ein Kind zu haben - das hatte Else einmal ausgesprochen und auch eingehalten.
In allen Einzelheiten beschreibt die Autorin die Ablehnung der Schrobsdorffs Else gegenüber, die ja nicht nur jüdisch sondern auch noch geschieden ist und drei Kinder hat. Nur dem Pflichtgefühl Erichs hat Else es schließlich zu verdanken, das er sie schließlich doch heiratet.
Als der Antisemitismus immer stärker wird und selbst Else die Augen nicht mehr verschließen kann muss sie mit den Kindern nach Bulgarien fliehen..
Mein Fazit
Unbedingt lesen- 10 Punkte!