Katharina Hacker - Die Habenichtse

  • Nach einem kurzen Flirt in der Studienzeit treffen Jakob und Isabelle sich nach Jahren in Berlin wieder. Schnell werden sie sich einig, dass sie gut zueinander passen, heiraten und planen gemeinsam nach London zu gehen, wo Jakob ein Jobangebot hat. Die große Liebe scheint es nicht zu sein, aber so lange man Freunde hat, mit denen man die Abende verbringen kann, Wein und eine interessante Arbeit fällt das nicht weiter auf. So weit, so gut, das fast die Handlung der ersten 100 Seiten in etwa zusammen und ich dachte mir: "Naja, mal wieder so eine Erzählung über die Belanglosigkeit des modernen Großstadtlebens, wie es so viele gibt." Irritierend und schwer einzuordnen waren nur die zwei anderen Erzählstränge, die in England spielen. Der eine dreht sich um Sara, ein kleines Mädchen, dass von seinen Eltern nicht in die Schule geschickt wird, damit die Spuren von Mißhandlungen und Verwahrlosung auf ihrem Körper nicht entdeckt werden. Der andere hat Jim zum Protagonisten, einen Dealer und Junkie, der seine Ex-Freundin sucht, die er im Drogenrausch fast getötet hätte.
    Nachdem Isabelle und Jakob jedoch nach London gezogen sind, laufen die drei Erzählstränge zusammen: denn alle Protagonisten wohnen in der gleichen Straße in einem Londoner Vorort und lernen sich dort kennen. Und so entfaltet die Geschichte ihre verstörrende Wirkung. Die Erwachsenen in diesem Roman sind nämlich von einer fast schon pathologisch zu nennenden Gleichgültigkeit geprägt. Obwohl sie Nachbarn des mißhandelten Kindes sind und sein Schicksal zumindest ahnen müssen, handeln sie nicht, sondern sind nur mit ihren kleinlichen Problemen beschäftigt. Ich fand es oft schwierig dieses Buch weiterzulesen. Man hat den Drang die Menschen in diesem Buch zu schütteln und ihnen ein wenig Menschlichkeit und Mitgefühl in den Leib zu rütteln. Aber trotzdem ist dieses Buch ein wichtiges Buch. Denn bei aller Fremdheit, die die Charaktere ausstrahlen - sie laden nicht zur Indentifikation ein - plagt einen doch immer wieder die quälende, kleine Frage: "Wie viel Isabelle, wieviel Jakob oder Jim steckt eigentlich in mir, in uns allen?"
    Die Geschichte beginnt am 11. September 2001 - an diesem Tag treffen Isabelle und Jakob sich wieder. Isabelle und Jakob sind in London während dort die Entscheidung über den Irakkrieg fällt, sie werden ebenso wie die Londoner von der Panik vor Anschlägen befallen. Hacker versucht auch eine Analyse der Welt nach 9/11.
    Hackers Roman ist sicherlich keine leichte Unterhaltungslektüre. Protagonisten, mit denen man mitfiebern und -leiden kann, findet man hier kaum, aber sie bietet eine wirklich interessante Gesellschaftsanalyse.
    Die Habenichtse erhielt 2006 den Deutschen Buchpreis.

  • dieses Buch habe ich gestern aus meinem SUB gezerrt und heute wieder in selbigem versenkt.


    Irgendwie habe ich mir dieses Buch nicht so trostlos vorgestellt, da hätte ich wohl vorher die Rezi hier lesen sollen. Ne, im Augenblick brauche ich wirklich kein Buch, das einen noch mehr runterzieht :wow

    Menschen sind für mich wie offene Bücher, auch wenn mir offene Bücher bei Weitem lieber sind. (Colin Bateman)

  • Schreibe endlose Sätze, Dialoge ohne Anführungszeichen, füge ein paar Gesellschaftsprobleme und merkwürdige Szenen im Leben der Protagonisten ein und dafür bekommst du dann den Deutschen Buchpreis.


    Damit es so richtig literarisch rüberkommt, kannst du deine Protagonisten dann noch ungreifbar und distanziert machen, damit man auf keinen Fall an sie herankommt.


    Sorry, aber ich musste mich ganz schön durchquälen und vergebe hier leider heute nur 5 Punkte.


    Gruß vom killerbinchen :wave

    „An solchen Tagen legt man natürlich das Stück Torte auf die Sahneseite — neben den Teller.“

  • Erzählen kann sie, keine Frage - aber ich musste mich an ihren Stil erst einmal gewöhnen: sehr klassisch, weit entfernt vom "Creative Writing", more telling than showing the story...; eben sehr literarisch, vielleicht manchmal eine Spur zu altfränkisch!


    Manche Sätze musste ich dreimal lesen, bevor ich den Sinn verstand, die Schreibe geht tief, nicht nur ins Herz, auch in die Seele; ich glaube, ich muss das Buch noch zweimal lesen und jedes Mal werde ich bestimmt etwas Neues erfahren.


    Es geht um Entfremdung, um die leere Habenseite des Lebens. Die Autorin deckt schonungslos die Kälte und die Oberflächlichkeit der postmodernen Großstadtmenschen auf. Sind wir wirklich so farb- und seelenlos? Übertreibt die exzellente Erzählerin nicht maßlos?


    Genial die Darstellung der Charaktere: auf der einen Seite bleiben sie uns fremd und wirken ebenso blass, doch auf dem zweiten Blick steckt viel mehr in ihnen: der alte schwule Bentham, der kecke Alistair, der zögerliche Andres, der Gewalt-ablehnende Jakob - sie alle werden so glaubhaft geschildert - so, als ob es unsere Nachbarn wären.


    Zweifellos ein anspruchsvolles Buch, das den Leser intellektuell herausfordert. Aber wir müssen ja nicht immer ewiggleiches Allerlei oder biedere Hausmannskost lesen.