Der Löwe des Herrn Dürer - Albrecht Gralle (ab ca. 11 J.)

  • Familienfeste sind fürchterlich, findet Ben. Selbst wenn es sich um den Geburtstag seiner Lieblingstante handelt. Widerwillig begleitet er die Eltern nach Nürnberg. Tante Dia hat sich für das Fest etwas Besonderes ausgedacht, sie lädt ihre Gäste zu einem Besuch des Dürerhauses ein. Auch noch ein Museum! Ben fühlt sich wirklich gestraft.
    Das Dürerhaus gefällt ihm aber wider Erwarten ganz gut. Eine als Frau des Künstlers verkleidetet Führerin läßt das Ganze richtig lebendig werden, man darf sogar einige alte Gegenstände anfassen. Kusine Kati gefällt es auch ganz gut. Die beiden Kinder sind schließlich so neugierig, daß sich von einem Absperrband vor einer Tür nicht abhalten lassen, den dahinterliegenden Raum zu betreten. Dort passiert das Ungeheuerliche. Sie fallen durch eine Zeitspirale mitten in das Jahr 1510.
    Das Ehepaar Dürer staunt nicht schlecht, als die beiden auftauchen, umso mehr, als sich Ben und Kati auf die Schnelle eine fantastische Schwindelgeschichte ausgedacht haben, um ihre Anwesenheit für Menschen am Anfang des 16. Jahrhunderts plausibel erscheinen zu lassen.


    Ihr Aufenthalt in Nürnberg verläuft denn auch nicht ganz glatt und so müssen die beiden das Weite suchen. Als Mönche verkleidet, stoßen sie auf einen Trupp Landsknechte, die nach Italien ziehen, wo Kaiser Maximilan Krieg führt. Kati und Ben aber kommen nicht nach Italien, unterwegs nämlich erfahren sie durch Zufall, daß ein böser Anschlag auf Dürer geplant ist. Für Kati und Ben ist eines klar: Dürer muß gerettet werden. Also machen sie sich stracks auf den Rückweg nach Nürnberg. Doch das Überleben im Herbst des Jahres 1510 ist für zwei Kinder aus dem 21. Jahrhundert alles andere als leicht. Und in Nürnberg wartet schon der Kerker.
    In der Jetztzeit suchen derweil die Eltern nach den verschwundenen Kindern. Die Polizei wundert sich und Tante Dia benimmt sich sehr eigenartig. Ob Kati und Ben auch gerettet werden können?


    Es ist nicht anzunehmen, daß jemand nach der Lektüre von auch nur fünf Seiten dieses Kinderromans annehmen wird, daß die Geschichte anders als gut ausgeht. Was man nicht erwartet, ist, wie gut sie ausgeht. Das Ende ist geeignet, selbst einer höchst harmoniebedürftigen Vierjährigen leichte Übelkeit wegen Überzuckerung zu verursachen. Wenn sie die Geschichte überhaupt bis zum Ende verfolgen möchte.
    Der Handlungsverlauf ist von geradezu rührender Schlichtheit. Es hat sich deutlich noch nicht überall herumgesprochen, daß Spannung nicht allein dadurch erzielt werden kann, indem Figuren sich von A nach B und dann zurück nach A bewegen.
    In den Text eingestreut sind viele Realia des Alltags um 1510. Die Beschreibung von Toilettengängen, die Frage des Waschens und des Essen werden sehr jungen Leserinnen und Leser ein Lächeln abringen. Flöhe hüpfen auch herum, verleihen der Handlung aber nicht mehr Schwung. Das tun auch nicht die Einsprengsel einiger deftiger Ausdrücke der Zeit, auch dann nicht, wenn sie aus dem Mund von Benediktinern kommen.


    Damit man bestimmt nicht fehlgehen kann in der Erkenntnis, im 16. Jahrhundert gelandet zu sein, sagen die Menschen der Zeit ständig so putzige Sätze wie: ‚Ist ein groß ehr, wann wir in die schul gehen’ oder ‚Hilf mir, damit das heiß wasser in den zuber geht’.
    Daraus lernen wir unzweifelhaft, daß die Menschen des 16. Jahrhunderts in Kleinschreibung gesprochen haben, außer nach einem Punkt.


    Es gibt Widersprüchliches, vor allem aber Unwahrscheinliches. Wie Kati und Ben im Wald einen Hasen fangen und töten, muß man gelesen haben, um zu glauben, was ein Autor der kindlichen Vorstellungsgabe zumutet. Älteren sei dringend empfohlen, dem jungen Publikum an dieser Stelle eindringlich klarzumachen, daß es nicht reicht, einem toten Hasen nur das Fell abzuziehen, um ihn auf Holzspießen über einem Lagerfeuer rösten zu können.


    Des weiteren strotzt die Geschichte vor Stereotypen und Klischees. Den Bösewicht mit dunklen Locken und einer krummen Nase auszustatten, die ihn ‚brutal’ aussehen läßt, zeugt von schlechtem Geschmack, um nichts Schlimmeres zu sagen. Wer immer in einem früheren Jahrhundert aufkreuzt, wird selbstverständlich umgehend der Hexerei verdächtigt. Man würde annehmen, daß die Obrigkeit in Nürnberg eher Anstoß daran nimmt, daß unsere kleinen Helden mir nichts, dir nichts, zwei Mönchskutten geklaut haben, aber der Autor wird es schon wissen. Natürlich sind die Menschen früher dumm vor lauter Aberglauben, weswegen man sich, schlau, wie einen das 21. Jahrhundert macht, mit etwas Schwindelei aus jeder Klemme befreien kann.


    Wie Dürer in diese Geschichte geraten konnte, erschließt sich letztendlich nicht, daß er einer deswegen leid tun kann, umso mehr. Wer etwas über seine Profession, seine Bilder oder als Mensch erfahren, wird in dieser Geschichte nicht fündig werden. Erwähnt werden von seinen Werken - muß man es aufführen? - die betenden Hände, der Hase (nein, das ist nicht tote, sondern ein anderer), Hieronymus und der Löwe und das sog. Allerheiligenbild. Offen gestanden ist man mit dem knappsten Lexikon-Artikel besser bedient, selbst wenn man unter zehn ist.
    Am Ende haben Ben und Kati nicht bloß die deutsche Kunst, sondern irgendwie auch noch die Reformation gerettet. Konnte man sich zuvor schon nicht des Eindrucks erwehren, daß die Auffassung von der Vergangenheit wie vom Künstlertum, die in diesem Buch vorherrscht, eine Spur altmodisch ist, kann man spätestens an der Stelle sicher sein, daß, wo immer sich Dürer, Ben und Kati befinden mögen, der Autor sich ganz sicher in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts befindet.
    Die Frage, wie denn nun der Löwe in den Titel kam, läßt sich nicht beantworten, denn darüber gibt dieser Kinderroman keine Auskunft.


    Ein Nachwort legt Zeugnis ab von der Bewunderung des Autors für den Künstler Dürer. Sie sei ihm gegönnt. Aber eine gute Geschichte macht reine Heldenverehrung noch lange nicht.

    Ich und meine Öffentlichkeit verstehen uns sehr gut: sie hört nicht, was ich sage und ich sage nicht, was sie hören will.
    K. Kraus

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