Wollen Leser authentische historische Romane?

  • Aber solche "perfekten" Bücher - so man sie sucht - gibt es doch auf dem Markt, Bellamissimo!
    Das Problem liegt vielleicht woanders: Man kann sie auf den ersten Blick nicht von den anderen unterscheiden. Blättert man jedoch kurz im Buch, entdeckt man evtl. Personenverzeichnisse (viele Autoren kennzeichnen die authentischen Figuren mit einem *); oder man wirft einen Blick in den Anhang, der - so mache ich es - ausführlich erklärt, um welche reale Geschichte es in diesem Roman geht.


    Wie ich schon schrieb: Die Auswahl ist da.
    Jeder kann sich "seine" historischen Romane aussuchen, so er das möchte.


    Herzlichst


    Helene Luise


    2009: "Carcassonne. Das Schicksalsrad", Buch& Spiel, Amazon.de
    www.koeppel-sw.de

  • Wie historisch soll/darf/muss ein historischer Roman sein?

    Diese Frage stelle ich mir beim Schreiben tagtäglich. Auch in meinen Romanen stehen Frauen, die ihrer Zeit voraus sind und mutig ihren Weg gehen, im Mittelpunkt, sei es "Die Samenhändlerin" Hannah, die in eine ihr völlig fremde Welt eintaucht. Oder sei es "Die Glasbläserin", die 1890 den Männern ein jahrhundertealtes Handwerksprivileg abringt.


    Natürlich waren solche Frauen die ganz große Ausnahme. Aber nur über solche lohnt es sich auch zu schreiben. Was soll ich 300 Seiten lang über eine Frau schreiben, die ihr Leben am Waschtrog verbracht hat, nichts von der Welt sah und sich somit auch keine eigene Meinung bilden konnte. Ja, die nicht einmal wusste, dass sie eine eigene Meinung hat?


    Es ist uns allen völlig klar, dass das Gros der Frauenleben genau so ausgesehen hat. Und dennoch: Es hat sie gegeben, die großen Ausnahmen. Nicht nur in meinen Romanen, sondern im "wahren Leben". Frauen, die nicht nur für ihr eigenes selbstbestimmtes Leben gekämpft, sondern die sich dafür eingesetzt haben, dass alle Frauen das Recht auf eigene Wege bekommen:
    Klara Zetkin, die 1910 den ersten internationalen Frauentag eingeführt hat. Anita Augspurg, die 1894 eine "Gesellschaft zur Förderung der geistigen Interessen der Frau" ins Leben rief. Marie Curie, die ... u.sw.


    Solche Frauen stehen im Mittelpunkt historischer Romane! Sie sind es, an denen wir uns freuen! Die uns Mut machen und Lust darauf, selbst auch eigene Wege zu gehen.


    Was ich besonders toll finde: Es gibt solche Frauen auch heute noch. Und in achtzig oder hundert Jahren werden vielleicht sie im Mittelpunkt "historischer Romane" stehen ... :-)


    Herzliche Grüße,


    Petra Durst-Benning

  • Petra, SOLCHE Frauen sind auch eher weniger das Problem dabei. Die Bemerkung fiel ja, wenn es das historische Vorbild gab, dann sieht das schon wieder ganz anders aus.


    Ich glaube, es geht doch hier eher um das auf den ersten Blick harmlose Mittelalterherzchen, das sich dann als Furie herausstellt - für das es eben kein historisches Vorbild gibt (und mal ehrlich, würde man nicht darüber in Schriften lesen können, wenn es diese verkannten Wunderdinger, die es allen zeigten, wirklich gegeben hätte?). DAS ist unrealistisch. Wenn eine Frau, mit entsprechender Bildung (weil sie den Zugang dazu hatte), und vor allem zu entsprechender Zeit und in entsprechendem Umfang sich in der Männerwelt behauptet, sieht das ganz anders aus und keiner meckert
    Was aber den Ramschtisch überschwemmt, was manchem das Genre so sauer werden lässt, wenn man "nur mal eben schauen will, was es bei den Histos so neues gibt" und die angespriesene Ware immer wieder auf dieses Schema hinausläuft - das sind die "verkannten Herzchen".


    Ich persönlich lese lieber von Kerlen. Weib bin ich selber. Und keine "Kerl-Geschichte" ohne Frau, wobei die dann meist ihren Platz kennen, weil mit einem Superherzchen der Kerl als Story nicht funktionieren würde :gruebel

  • Wobei ihr nicht vergessen dürft- eine hahnebüchene Grundstory wie bei Katja Fox "Das kupferne Zeichen" funktioniert ganz gut. eigentlich ist das eine Sammlung von Kurzgeschichten über mittelalterliches Handwerk und zeigt die damals bereits gut organisierte Arbeitsteilung - die Tatsache das all das, was da geschildert wird einer Person im Mittelalter passiert sein könnte, die sollte man da gar nicht überdenken..

  • Auch 1800 ff. gab es viele Frauen, die viel geleistet haben (Nightingale und Curie als Beispiel).
    Für mich ist ein historische Roman eine fiktive Story mit einem historischen (tatsächlichen) Hintergrund. Peinlich wäre ein historischer Roman, wenn die Leute im Mittelalter plötzlich bei elektrischen Strom lesen oder Nägel in ihren Wänden bohren. :lache
    Oder wenn die Tochter der Buchdruckerin plötzlich am PC sitzen würde :lache
    Die Charaktere sollte so handeln, wie es der damaligen Zeit entspricht.
    Und dann sollte - wie Sabine_D schon schrieb, der Roman mich unterhalten.

    Don't live down to expectations. Go out there and do something remarkable.
    Wendy Wasserstein

  • Hab die Diskussion nicht durchgelesen, sondern schreibe mal so was mir dazu einfällt, da ich selbst gerne 'historische' Romane lese.


    Mir ist dabei schon wichtig, dass eine möglichst authentische Atmosphäre geschaffen wird. Das das drum herum stimmt, dass auch die Motive und Gedanken der Protagonisten in die Zeit passen.
    Nur das hängt ja im Grunde auch von meinen Vorstellungen zusammen, wie ich mir das vorstelle wie es früher mal war. Diese Vorstellungen sind dann aus Geschichtsbüchern entstanden, ob und wie es war, wird man wohl nie wirklich sagen können, den keiner kennt jemanden, der diese Zeit (in meinem Fall meist das späte Mittelalter) wirklich erlebt hat.


    Um mal konkret einen Fall zu nennen, mich störte in 'Die Tore der Welt' wie die Protagonisten gehandelt haben, das kam mir zu freizügig vor für diese Zeit. Das eine Nonne eine Affäre hat, das junge Mädchen über ihr erstes Mal reden. Diese Themen und Gedanken waren für meine Begriffe zu sehr im Heute.
    Letztlich weiß ich aber nicht, ob es nicht doch damals aktuell war und die Vorstellung der Jungfräulichkeit und der Tugendhaftigkeit eher ein Wunschdenken ist oder eine Norm war, die aber nicht immer auch so gelebt wurde.



    Von daher ist es eigentlich schwierig zu sagen, was ist authentisch und was nicht. Ich persönlich denke, wenn ich das Authentische MA haben will, sollte ich eher auf eine Geschichtebuch mit Fakten zurückgreifen, indem es nur bedingt um das Gedankengut der Epoche geht.
    Im Roman, werden Charaktere zum Leben erweckt, die gar nicht so authentisch sein können, einfach weil man nicht weiß wie es wirklich war. Dafür ist es Fiktion und das sollte man berücksichtigen. Hauptsache die Atmosphäre stimmt, die Umgebung und nicht das plötlich einer mit dem Fahrrad durchs Jahr 1347 radelt.

  • Zitat

    Original von beowulf


    Soll heißen, ein guter historischer Roman ist ein Buch für mich dann, wenn nicht in moderne Kleider gewandete Schauspieler vor alten Kulissen rumhampeln, sondern in Bekleidung der Handlungszeit in den Kulissen agieren und dabei eine gute- zeitlose Geschichte vom Menschen erzählen- immer im Bewußtsein, dass ihre Handlungen und Beweggründe von einem Menschen meiner Zeit erdacht wurden.


    Tom , Beowulf ist ja auch schon auf William Shakespeare eingegangen. Romeo und Julia wäre dann zum Beispiel nach deiner Definition eigentlich auch Fantasy, denn Romeo und Julia ist ebenfalls nur eine Überlieferung und es gibt ja für Romeo und Julia noch nicht einmal historische Vorbilder. Das einzige was lt. Wikepedia stimmt, ist, dass es den Rest eines großen palastartigen Baues gibt, der den Montagues und Capulets gehört hat.

    Zitat

    I]Original von Tom[/I]
    Und das ist auch okay. Historische Romane sind eigentlich Fantasy, da sie Überlieferungen und alte Geschichten neu verorten. Diese Neuverortung betrifft vor allem das Verhalten der agierenden Figuren. Man sollte aber nicht glauben, etwas (über die eingestreuten Fakten hinaus) über jene Zeit zu erfahren, in der das Buch anscheinend spielt.


    Und deshalb lese ich gerne historische Romane mit einer fiktiven Story vor einem historischen Hintergrund so wie es Lesebiene in ihrem Posting von heute 13:25 schreibt.

    Wenn du ein Gärtchen hast und eine Bibliothek, so wird dir nichts fehlen. "
    Marcus Tullius Cicero

    Dieser Beitrag wurde bereits 1 Mal editiert, zuletzt von Esme ()

  • Hallo, Corinna!


    Zitat

    Original von CorinnaV
    Da kommt bei mir der Punkt, wo ich sagen muss: Ein wirklich gut erzählter historischer Roman weckt in mir NIE das Bedürfnis, nachgrübeln zu müssen, ob das so auch passt. Einem Autor, der seine Arbeit richtig gemacht hat, nehme ich alles ab. Einem Autor, der ganz ganz tief reingeht in die Lebensweisen, in das Denken und auch in Medizin, Handwerk, Essen (so als Beispiele), dem merke ich schon an der Schreibe an, dass er mir keinen Bären aufbindet.


    Ich bezweifle sehr, dass du "an der Schreibe" merkst, ob ein Roman wirklich gut recherchiert ist oder nicht; denn das würde alle begeisterten Fans von Donna Cross' "Päpstin" zu Deppen erklären, weil sie nicht merken, dass ihnen da ein Märchen aufgetischt wird.


    Nur jemand, der über Sachkenntnisse verfügt, merkt, dass Frau Cross extrem selektiv recherchiert hat, dass Wunschdenken gepaart mit großer Ignoranz die Eltern der Story waren, aber sie damit wohl einen Nerv traf (speziell hier in Deutschland, wo das Buch ein Riesenbestseller wurde).


    Aber da kannst du argumentieren, was du willst: Da der Nerv getroffen und die Story ziemlich rührend erzählt ist, wirst du die Fans nicht davon überzeugen können, dass das Ganze eine ziemlich plumpe Kolportage ist -- eben weil es innig geliebte Vorurteile nährt und rührend ist!


    Genauso dürfte es uns beiden gehen, wenn wir einen historischen Roman lesen, der erzählerisch und sprachlich unsere Ansprüche voll erfüllt und unsere Vorurteile bestätigt -- ganz egal, ob diese nun berechtigt sind oder nicht. Wenn wir nicht über Sachkenntnis verfügen, können wir den realen historischen Gehalt oder gar Wert nicht beurteilen!


    Und wenn du dich als Autor noch so bemühst, in einem historischen Roman Figuren agieren zu lassen, wie es wahrscheinlich realistisch ist (über eine hohe Wahrscheinlichkeit kommen wir eh nicht hinaus!), dann wirst du massive Ablehnung bei Lesern erfahren, die ihre Vorurteile nicht bestätigt sehen! Man wird dir das in der Tat als "historisch nicht korrekt" oder "anachronistisch" ankreiden. Und damit als unglaubwürdig.


    Und prompt heißt es, das sei ein schlechter, ein anspruchsloser Roman.



    Zitat

    Aber bei denen, die mich reinziehen, die mich miterleben lassen, wie es war - da denke ich darüber überhaupt nicht nach. Da genieße ich nur, und da weiß ich irgendwo auch tief drinnen, hier hat ein Autor seine Hausaufgaben gemacht, hier stimmt einfach alles.


    Tut mir leid, Corinna, aber man kann sehr leicht auf einen angenehmen Erzählstil hereinfallen. Selbst eine völlig irreale Geschichte kann einen reinziehen und alles miterleben lassen, ohne dass derjenige Autor sich große Mühe mit den Hintergründen gemacht hat.


    Damit die Leser mitgehen, muss ein Autor vor allem toll erzählen können, Atmosphäre schaffen und einen Nerv treffen. Dafür brauchst du erzählerisches Können und Phantasie, aber keine großartigen Hintergrundkenntnisse.


    Als Leser ist niemand von uns vor dieser Täuschung gefeit, solange es sich um Sujets handelt, von denen wir keine oder nur wenig Sachkenntnis haben.

  • Hallo, Helene Luise!


    Zitat

    Original von Helene Luise
    Aber solche "perfekten" Bücher - so man sie sucht - gibt es doch auf dem Markt, Bellamissimo!
    Das Problem liegt vielleicht woanders: Man kann sie auf den ersten Blick nicht von den anderen unterscheiden. Blättert man jedoch kurz im Buch, entdeckt man evtl. Personenverzeichnisse (viele Autoren kennzeichnen die authentischen Figuren mit einem *); oder man wirft einen Blick in den Anhang, der - so mache ich es - ausführlich erklärt, um welche reale Geschichte es in diesem Roman geht.


    Nein, die Textaufmachung ist ebenso wie die äußerliche Aufmachung längst kein Kriterium mehr. Ein Personenverzeichnis beim HR muss inzwischen immer sein, und in den Nachwörtern steht so manches, bei dem sich jemandem mit Sachkenntnis (um das schöne Wort noch ein wenig zu strapazieren) die Zehennägel aufrollen! :grin

  • Zitat

    Original von Iris
    Hallo, Helene Luise!


    [quote][i] und in den Nachwörtern steht so manches, bei dem sich jemandem mit Sachkenntnis (um das schöne Wort noch ein wenig zu strapazieren) die Zehennägel aufrollen! :grin




    Ach ja, so manches steht doch auch schon in den Romanen, liebe Iris! :lache.


    Ich fände es dennoch deprimierend, wenn die Leser aus lauter Angst vor dem Aufrollen ihrer Zehennägel die jahrlange und gründliche Recherchearbeit eines Autors nicht mehr goutieren würden. :cry


    Herzlichst


    Helene Luise

  • Sehr interessante Diskussion, besonders da sich nicht nur Leser, sondern auch Autoren solcher Romane beteiligen.


    Eine allgemeingültige Antwort auf die Frage wird sich wohl nicht finden lassen, sondern jeder, ob Leser oder Schreiber muss für sich entscheiden, was er will.


    Das Etikett „historischer Roman“ umfasst wohl so ziemlich alle Unterhaltungsromane, die in der Vergangenheit spielen.


    Für mich gilt es bei solch einem Roman eigentlich nur eins - am Ende des Buches muss ich mir sagen:


    So könnte es gewesen sein.


    Nach meiner Erinnerung war einer der ersten historischen Romane, den ich gelesen habe (Mitte der 60er) von Fritz Steuben: Der weite Ritt. (steht heute noch bei mir im Regal)
    Durch diesen Roman wurde mir das erste Mal (lange vor dem Medicus) bewusst, welcher Unterschied zur Zeit der Kreuzzüge zwischen der Kultur in Europa und Arabien/Naher Osten bestand.
    Entweder hatte ich im Geschichtsunterricht gepennt oder es war damals nur eine zu übersehende Fußnote.
    Ein zweiter Roman ist mir in Erinnerung geblieben, denn ich damals gelesen habe, denn ich aber leider nicht mehr besitze handelte von der Besiedelung Grönlands durch Wikinger (?) und hieß „Der rote Erik2 oder ähnlich.


    Diese beiden Romane gaben damals den Anstoß mir Otto Zierers erzählte Weltgeschichte „Bild der Jahrhunderte“ komplett zu zulegen.
    Auch wenn vieles, besonders nach dem heutigen Stand der Geschichtswissenschaft, zu kritisieren ist, gibt es doch eine Ahnung, ein Gefühl, wie es einmal gewesen sein könnte.


    Und auch heute erwarte ich von einem historischen Roman, das er mir dieses Gefühl gibt, denn ich bin kein Historiker und beschränke mich bei meiner Auswahl auch nicht auf einen Ausschnitt aus der Vergangenheit. In sofern stimme ich mit CorinnaV überein, wenn das Setting und die Menschen im Roman mit meinem geschichtlichem Halbwissen inkl. bestimmt vorhandener Vorurteile übereinstimmt. Und es kostet mich zu viel Lesezeit zu recherchieren, ob die Details in dem Roman mit dem aktuellen Forschungsstand übereinstimmen. Bei einem Krimi/Thriller recherchiere ich auch nicht, ob die Art der Ermittlung stimmt, es die beteiligten Insitutionen wirklich gibt oder die Ortsteile oder Straßen, wenn der Rahmen stimmt


    Der letzte historische Roman, der mir dieses Gefühl gab war Charlotte Lynns „Das Haus Gottes“


    freut sich Dyke

    "Sie lesen?"
    "Seit der Grundschule, aber nur, wenn's keiner sieht."


    Geoffrey Wigham in "London Calling" von Finn Tomson

  • Interessantes Thema.


    Ich frage mich gerade, ob man die Fragestellung nicht auch auf viele Vertreter der zeitgenössischen Belletristik übertragen kann.
    Romanfiguren zeichnen sich in den meisten Fällen dadurch aus, das sie in irgendeiner Form besonders sind, beziehungsweise in einer besonderen Situation stecken. Es gibt natürlich auch Ausnahmen, aber ich würde jetzt mal die These aufstellen, dass auch Hauptpersonen in modernen Romanen für die heutige Zeit nicht durchschnittlich sind, bzw. aus ihrer Durchschnittlichkeit im Laufe des Buchs durch eine undurchschnittliche Situation herausgerissen werden.


    Dasselbe trifft auf doch auf Figuren in historischen Romanen zu. Auch die sind nicht alltäglich, brechen mit Konventionen, geraten in Situationen, die für ihre Zeit sehr ungewöhnlich sind. Der Punkt ist ja gerade der, dass ich ein Buch über eine ganz normale Magd aus dem 13. Jahrhundert auch nicht sonderlich interessant finden würde.


    Dementsprechend ist es mMn nur logisch, dass die durchschnittliche Figur in einem historischen Roman nicht die durchschnittliche Person aus dem entsprechenden Jahrhundert ist. Aus dem Durchschnitt macht man ja auch keine Geschichten.

  • Hallo, Eny!


    Zitat

    Original von Eny
    Ich frage mich gerade, ob man die Fragestellung nicht auch auf viele Vertreter der zeitgenössischen Belletristik übertragen kann.


    Im Grunde auf alle, und deine Einschätzung:


    Zitat

    Romanfiguren zeichnen sich in den meisten Fällen dadurch aus, das sie in irgendeiner Form besonders sind, beziehungsweise in einer besonderen Situation stecken.


    ist völlig richtig.


    Aber:

    Zitat

    Dasselbe trifft auf doch auf Figuren in historischen Romanen zu. Auch die sind nicht alltäglich, brechen mit Konventionen, geraten in Situationen, die für ihre Zeit sehr ungewöhnlich sind. Der Punkt ist ja gerade der, dass ich ein Buch über eine ganz normale Magd aus dem 13. Jahrhundert auch nicht sonderlich interessant finden würde.


    Mir ist es im Falle eines historischen Romans lieber, jemand erzählt von einer für damalige Verhältnisse (!) besonderen Magd in einer halbwegs wahrscheinlichen Umgebung, die nicht unbedingt jede Klischeevorstellung und jedes Vorurteil erfüllt, die heutige Durchschnittsmenschen vom damaligen Leben haben. Umgekehrt darf es auch eine Durchschnittsmagd sein, die in eine für damalige Verhältnisse (!) besonderen Situation gerät -- ebenfalls bitte ohne die üblichen Klischees etc.


    Wenn der geschichtliche Untergrund nichts als eine prallbunte Kulisse sein darf, in der auch für heutige Verhältnisse anachronistische Frauen- und Männerbilder herumhüpfen, dann -- sorry -- ist das nichts als triviale Unterhaltung.


    Die Leser als historisch etikettierter Romane glauben, dass sie sich bei der Lektüre zumindest ein bisschen bilden. Das Gegenteil ist häufig der Fall! Da mögen oft sogar viele Fakten stimmen, aber man kann sogar Fakten dergestalt zusammenfügen und dem Ganzen eine rein aus Klischees, Versatzstücken und Vorurteilen zusammengebastelte Weltanschauung zugrundelegen, dass am Ende ein Zerrbild entsteht, dass dem Original auch nicht im Entferntesten nahekommt.


    Das muss nicht mal Bosheit sein, da passiert viel aus gutem Glauben.


    Klar, keiner von uns war damals dabei. Aber das ist kein Freibrief, die Vergangenheit als Halde beliebig recycelbarer Materialien anzusehen.

  • Dann ist es gut, dass ich nicht den Anspruch habe, aus historischer Literatur Bildung zu ziehen. Wenn ich tatsächlich etwas über historische Gegebenheiten, Menschen und Lebensumstände lernen will, gibt es jede Menge Fachliteratur. Die ist dann zwar meist spröde und wenig unterhaltsam, aber unterhalten werde ich ja auch von den historischen (und anderen... :lache) Romanen.


    Mir sind Spannung und Identifikation mit den Figuren wichtiger als Detailtreue und Authentizität. Das gilt auch für moderne Romane. Man sollte zwar nicht unbedingt die Allgemeinbildung dem Rasenmäher erlegen, aber bevor ein Plot in Korrektheit ertrinkt (O-Ton eines Zitats aus einem anderen Forum: "Die Hauptperson kann gar nicht innerhalb von zehn Minuten von U Pankow zum Rosa-Luxemburg-Platz gekommen sein - da fährt im Moment Ersatzverkehr"), lese ich drüber hinweg und freue mich über eine gut erzählte Geschichte.


    Ich gehe mal davon aus, dass das Ansichtssache ist.

  • Man kann auch historische Romane über Figuren schreiben, die nicht viel wichtiger als die genannte Küchenmagd waren, Herr Jedermann eben, wenn ein Autor/ines kann und die Situation die der Protagonist erlebt eben auch in der Zeit ausergewöhnlich war oder wer ist eine Figur wie Titus Annius, oder bei meinem aktuellen Buch Geoff Ingram?


    Aber je mehr ich mich in das Thema eindenke, desto mehr nähere ich mich Toms Provokation von der Fantasy. Es gab bei dem ersten Band von Viola Alvarez Trilogie zur Bronzescheibe von Nebra eine heftige Diskussion in der die Verfechter des historischen Romans dieses Buch als Mischung aus Mystery und Fantasy- und damit nicht tragbar- bezeichneten (abqualifizierten?). Das fand ich absurd- aber in einen größeren Zusammenhang gestellt macht mich das nachdenklich.

  • Zitat

    Original von Iris
    Damit die Leser mitgehen, muss ein Autor vor allem toll erzählen können, Atmosphäre schaffen und einen Nerv treffen. Dafür brauchst du erzählerisches Können und Phantasie, aber keine großartigen Hintergrundkenntnisse.


    Das sehe ich - fussend auf meinem bisschen Erfahrung als Auslandsbewohner, der den Buchmarkt nur in Presse und Internet beobachten kann - genauso. Ich erlebe es haeufig, dass ein Buch fuer die "grossartige Recherche" gelobt wird, wo nachweislich die Art der Erzaehlung gemeint ist, die auf den Leser offenbar bunt und lebendig - und damit authentisch - wirkt.


    Dennoch denke ich, dass man einer Erzaehlung anmerken kann, dass es jemandem wichtig war, sie zu erzaehlen, dass sie fuer den Erzaehlenden nicht austauschbar war. Ueber die Gruende dafuer koennen wir Leser natuerlich jeweils nur spekulieren - aber ich als Leser brauche die auch nicht unbedingt zu wissen, solange der Autor mir von diesem "Mehrwert", den die Geschichte fuer ihn hatte, etwas abgibt.


    In dem Zusammenhang moechte ich auch noch bemerken duerfen, dass mir die Standard-Floskel "gut recherchiert" ("hervorragend recherchiert", "ausserordentlich recherchiert", "blabla recherchiert" usw.) unheimlich auf den Keks geht. Ich frage mich, was damit gemeint ist? Heisst es: Der Autor hat unheimlich lange recherchiert? Der Autor hat unheimlich viele Koryphaeen interviewt? Der Autor hat jedes Sachbuch mit dem Thema im Titel schon mal in der Hand gehabt? Oder: Der Autor ist bei der Auswahl der verwendeten Quellen mit Umsicht und Vorsicht vorgegangen? Oder gar: Der Autor hatte einen triftigen Grund, sich fuer diese Epoche/dieses Thema/diesen Kulturkreis zu entscheiden?


    Rechercheauswahl ist subjektiv.
    Und die Bewertung der Recherche, die der Leser trifft, auch.
    Iris weist darauf hin, dass die Autorin der "Paepstin" selektiv recherchiert hat - das ist m.E. ein kluges Beispiel dafuer, dass jemand auch "gut" (im quantitativen Sinn) recherchieren kann, ohne einen Roman zu schreiben, der mit der Epoche zu tun hat (als Leser verzeihe ich uebrigens Fehler, die ein Autor macht, weil ihm etwas entgangen ist - die beruehmte am falschen Ort verspeiste Olive oder von mir aus sogar Kartoffel etc. - ganz gern, nicht nur weil solcher Fehler jedem passieren kann, sondern weil er jedem passieren wird. Weil sie leicht in Folgeauflagen zu beseitigen sind und weil ich aus ihnen nicht schliesse, dass der Autor von Geist und Puls der Epoche nichts versteht. Nicht gern verzeihe ich Fehler, die wissentlich - und zumeist hoechstfroehlich - begangen werden).


    Ich - um ein erlaubtes Beispiel zu waehlen - bin als Autor unheimlich schlampig mit Entfernungen, Zeiteinheiten, Masseinheiten etc. (Rechnen kann ich sowieso nicht, und dieser Teil der Recherche nimmt bei mir aufgrund meiner Zahlenphobie ohnehin viel zu grossen Raum ein.) Als Leser lese ich darueber ebenso hinweg wie ueber brillante Kenntnisse von exakt gefaerbten Uniformlitzen und historisch korrekten Stadtplaenen. Das sind vor mich Sau geworfene Perlen.
    Als Autor wie als Leser gefesselt bin ich vom geistigen und geistlichen Boden einer Zeit, von Sprachentwicklung, Literatur, Schiffbau, Militaer und Musik.
    Und: Zur Recherche gehoert fuer mich auch, mal jemanden zu befragen, der fast ertrunken ist, wenn man einen Ertrinkenden aus seiner Schicht erzaehlen lassen will.
    Mal mit einer Frau zu sprechen, die vergewaltigt wurde, ehe man sich daran wagt, von einer Vergewaltigung zu erzaehlen.


    Das ist auch "gut recherchiert".
    Das ist auch "authentisch".


    Und welche Seite schwerer wiegt, entscheidet jeder Leser, jeder Autor neu.


    Alles Liebe von Charlie


    P.S.: Ich bedanke mich sehr herzlich bei Dyke. Dein Eindruck von meinem Buch ist mir viel wert.

  • Iris, ich sag mal so - es gibt (noch) nicht allzu viele historische Romane, bei denen ich sage, der hat mich voll reingezogen (Anmerkung: "Varus" liegt hier noch ungelesen). Wenn man es ganz strikt nehmen will, gibt es drei. Drei, bei denen ich mich verliere, bei denen ich schon am Schreibstil merke, die Hausaufgaben sind gemacht, die Hintergründe sind absolut fehlerfrei recherchiert und eingeflossen.


    Und nein, Rebecca Gablé oder Ken Follet gehören nicht dazu. Es sind eher Bücher aus der Reihe, die man im Schwedenheer in der Schlacht als das "zweite Treffen" bezeichnet hätte. "Die Päpstin" habe ich nicht gelesen, weil mich schon der Titel nicht reizt (eher abschreckt). Einer von den dreien, und wohl der Unbekannteste, findet sich bei mir in Avatar und Signatur. Die anderen sind Charlies "Haus Gottes" und von Helga Glaesener "Du süße, sanfte Mörderin" - letztere MUSSTE sich bei mir einfressen, weil sie die Stadt, in der ich geboren und aufgewachsen bin, so eindrücklich ins 13. Jahrhundert versetzt, dass ich nie mehr durch die Stadt gehen kann, ohne Pferdegetrappel zu hören und das Klopfen der Steinsetzer an einer Brücke, die - bis auf ihren Namen - längst versunken ist (der einzige mir bewusste Fehler im ganzen Buch findet sich im Nachwort, wo man eine Jahreszahl mal eben um hundert Jahre verschoben hat, 1980 statt 1880).


    Alle drei Bücher sind in völlig verschiedenem Stil geschrieben, aber alle drei haben dieses "gewisse Etwas", das ich für mich persönlich als den "Wow!"-Faktor bezeichne. Diese Eindringlichkeit, dieses Einweben von Hintergründen, obwohl es in allen dreien auf völlig unterschiedliche Weise geschieht, aber einfach nicht aus der Luft gegriffen sein KANN.


    Ich habe auch schon sehr viele historische Romane weggelegt. Auch sehr viele hochgelobte historische Romane in Ecken gefeuert. Auch welche verschenkt, obgleich ich Bücher immer am liebsten behalte, auch wenn sie mir eigentlich gar nicht gefallen.


    Ich könnte nicht meinen Finger drauf legen, was genau es ist. Das Zusammenspiel von Setting, Sprachstil und Figuren, das die Atmosphäre schafft. Das zu schaffen, danach strebt wohl jeder Autor. Oder sollte man meinen. Keine Ahnung. Oft genug hat man das Gefühl, da wurde nur "schnell eine Idee runtergeschrieben", weil ein Vertrag eingehalten werden musste. So geht es mir jedenfalls. Bei vielen Büchern.

  • Zitat

    Original von Katerina


    Ich höre dieses Argument von "Nicht-HR-Lesern" sehr häufig. Aber wie in jedem Genre gibt es nicht nur die unterschiedlichsten Leserbedürfnisse, sondern auch die entsprechenden Angebote. Meines Erachtens gibt es keinen Grund, irgendein Genre ganz zu meiden.


    Es gibt gute Gründe ganze Genre zu meiden. Es gibt so viele Neuerscheinungen pro Monat, dass sich jeder etwas rauspicken muss. Alles kann wohl keiner lesen.
    Also, lese ich die Sachen von denen ich mir Lesespaß und Unterhaltung verspreche. Ein Genre, in dem ich mehrfach schlechte Erfahrungen mache, und das ich satt habe, meide ich. Genauso mache ich es mit Autoren.
    Damit spreche ich dem Genre nicht seine Existenzberechtigung ab, ich äußere nur mein Gründe für die Buchauswahl.

    :lesend
    If you can read, you can empathize, luxuriate, take a chance, have a laugh, hit the road, witness history, become enlightened, turn the page, and do it all again
    Oprah Winfrey

  • Zitat

    Original von dyke
    Sehr interessante Diskussion, besonders da sich nicht nur Leser, sondern auch Autoren solcher Romane beteiligen.


    Für mich gilt es bei solch einem Roman eigentlich nur eins - am Ende des Buches muss ich mir sagen: So könnte es gewesen sein.


    Beiden Aussagen von Dyke kann ich nur uneingeschränkt zustimmen. Bevor ich zu den Eulen kam hatte ich dieses Genre ziemlich satt, eben wegen zuviel gelesener Bücher gleichen Schemas, die nicht in die Zeit passen. Mittlerweile habe ich gelernt (dank euch, vielen Dank!), dass es auch "andere" Bücher dieses Genres gibt und die lese ich ganz gerne. Darunter fallen bei mir alle, die nicht in das Muster: "Armes Mädchen findet ihr Glück" gehören. Allerdings kann ich nicht nachprüfen, ob überhaupt etwas und wenn ja was der damaligen Realität entspricht. Das muss ich dann einfach glauben.

    "Alles vergeht. Wer klug ist, weiß das von Anfang an, und er bereut nichts." Olga Tokarczuk (übersetzt von Doreen Daume), Gesang der Fledermäuse, Kampa 2021

  • Ich habe nicht alle Beiträge gelesen, manche nur teilweise, ich habe nur etwas für mich nachgedacht und bin dabei zu folgendem Ergebnis gekommen ...


    Ich interessiere mich sehr für die Vergangenheit, und dabei für so ziemlich jede Vergangenheit. Statt Fachliteratur lese ich allerdings lieber Romane, die mir die Vergangenheit mit einer spannenden Geschichte verknüpfen.


    Nun erwarte ich beim Lesen natürlich, einige Informationen zu der damaligen Lebensweise, zur Umgebung, zu "historischen Tatsachen" etc. zu erhalten. Mir ist klar, dass niemand wirklich genau weiß, wie man damals gelebt hat, Zeitreisen wurden meines Wissens noch nicht durchgeführt :grin - aber anhand von Dokumenten, Fundstücken etc. konnte und kann zumindest ansatzweise die Vergangenheit rekonstruiert werden.


    Und von einem historischen Roman erwarte ich dann einfach, dass er diese bisherigen Informationen angemessen einbringt, so dass ich zumindest das Gefühl habe, mich mit wirklichen Geschehnissen zu beschäftigen.


    Ich habe nichts gegen die ein oder andere künstlerische Freiheit, solange diese am Anfang oder am Ende des Buches aufgeklärt wird. Nur sollten sich diese künstlerischen Freiheiten auch auf Kleinigkeiten beschränken. (Mir fällt gerade kein Beispiel ein, ich denke darüber nach ...)


    Da ich Geschichte nun nicht studiert habe, muss ich mich dabei auf den Autoren verlassen können, dass er gut recherchiert und die Informationen nicht unnötig verfälscht hat. Das ist allerdings bei den meisten anderen Büchern ebenfalls so, es gibt ja nun immer Dinge, die mir fremd sind, und da muss ich mich nun mal auf den Autoren verlassen. Wenn ich dann feststelle, dass dieser mit völligen Humbug erzählt hat, nur damit seine Geschichte funktioniert - tut mir Leid, finde ich nicht gut.


    Allerdings setze ich mich auch nicht hin und prüfe jedes Detail selbst auf seinen Wahrheitsgehalt, wie gesagt, da hoffe ich einfach auf eine gute Arbeit des Autoren.


    Ich glaube, anfangs wurde über die Sprache diskutiert - natürlich kann man nicht genau nachvollziehen, wie in verschiedenen Zeiten gesprochen wurde, und da bin ich wiederum der Meinung, das ist ein Punkt, der muss nicht ganz genau passen - für mich muss die Sprache natürlich verständlich sein. Das ist allerdings auch etwas, das bei mir unter die künstlerischen Freiheiten fällt.